Theologie der Befreiung in Lateinamerika – befreiendes Lesen der Bibel

 

Eine Theologie, die in der weltweiten Ökumene eine große Bedeutung hat, ist die „Theologie der Befreiung“, die in Lateinamerika entstand und heute mit eigenen Ausprägungen in allen Teilen der Welt zu finden ist. Zu einem Ausgangspunkt für diese Theologie wurde die katholische Bischofskonferenz in Medellin im Jahre 1968, die an den Aufbruch beim II. Vatikanischen Konzil anknüpfte. Die „Option für die Armen“ wurde bei diesem Treffen von 130 lateinamerikanischen Bischöfen und Erzbischöfen ernst genommen und mündete in der folgenden Erklärung: „Christus, unser Erlöser, liebt nicht nur die Armen, sondern er, der reich war, machte sich arm, lebte in Armut, konzentrierte seine Sendung darauf, dass er den Armen ihre Befreiung verkündete und gründete seine Kirche als Zeichen dieser Armut unter den Menschen.“

 

Angesichts der krassen Kluft zwischen Arm und Reich und des Elends von vielen Millionen Menschen gewannen von den 1960er Jahren an die Kräfte in den lateinamerikanischen Kirchen an Einfluss, die sich dafür einsetzten, dass die Kirche sich aus dem Glauben heraus entschieden auf die Seite der Armen stellte, sie über die Ursachen ihres Elends aufklärte und gemeinsam mit ihnen tiefgreifende wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen durchsetzte. Viele engagierte Kirchenmitglieder, die dies ernst nahmen, wurden als „Kommunisten“ diffamiert und von den politisch und wirtschaftlich Mächtigen verfolgt.

 

Gleichzeitig wurde das Bischofstreffen in Medellin zum Ausgangspunkt für Forderungen und Kampagnen für eine ,,globale Veränderung der Strukturen" (so das Schlussdokument). Die Kampagne für einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt, die Ende des letzten Jahrhunderts in den lateinamerikanischen Kirchen breite Unterstützung fand, steht in dieser Tradition. Auch die kirchliche Kritik an den negativen Auswirkungen der vorherrschenden Globalisierung hatte hier einen wichtigen Ausgangspunkt.

 

Das Bischofstreffen in Medellin war schließlich der Ort, an dem die Verfechter einer im Entstehen begriffenen Theologie der Befreiung sich unüberhörbar zu Wort meldeten. Erste prominente Verfechter dieser Theologie waren Dom Helder Camara und Gustavo Guiterrez. Die Bewegung gewann aber vor allem dadurch an Kraft, dass Hunderttausende Gläubige sich trafen, um die Bibel zu lesen und im Gespräch herauszufinden, welche Wegweisung biblischen Texte ihnen in den politischen, ökonomischen und sozialen Konflikte ihrer Zeit an die Hand geben. So entstanden eine andere Theologie und eine andere Praxis des kirchlichen und sozialen Handelns.

 

Der peruanische Sozialwissenschaftler, Psychologe und Theologe Gustavo Gutierrez hat 1972 mit seinem Buch „Theologie der Befreiung“ die Grundlage für diesen theologischen Aufbruch in Lateinamerika und dann auch in anderen Teilen der Welt gelegt. Am Anfang stand die Anfrage an den damaligen Studentenpfarrer und Seelsorger in einem Armenviertel, einen Vortrag zu einer „Theologie der Entwicklung“ zu halten. Guiterrez überschrieb sein Referat dann aber mit „Theologie der Befreiung“, weil er diese Kategorie für biblischer und für umfassender hielt. Er machte die Geschichte vom Aufbruch des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten zum Ausgangspunkt seiner theologischen Überlegungen, ein Bibeltext, der seither immer wieder aus befreiungstheologischer Perspektive interpretiert worden ist und der schon beim Treffen in Medellin eine wichtige Rolle eingenommen hatte.

 

Ein zentraler erster Schritt für eine Theologie der Befreiung ist es, die Wahrheit der sozialen und wirtschaftlichen Prozesse so präzise wie möglich zu erkennen und zu analysieren. Dabei haben viele Befreiungstheologinnen und Befreiungstheologen auch marxistische Kategorien wie Klassenkampf verwendet, worauf ihnen fälschlicherweise unterstellt wurde, ihre Theologie sei marxistisch.

 

Die schonungslose Analyse der Realität - gesehen aus der Perspektive der Armen - wird in Beziehung gesetzt zu den Verheißungen der Bibel, um daraus Inspiration, Orientierung und Kraft für den Prozess der Befreiung zu gewinnen. Es entstand eine Theologie, die auf ein christliches Handeln an der Seite der Armen und Unterdrückten abzielt und vom Rande der Gesellschaft her erarbeitet wird.

 

Die Bibel lesen und sich für die Befreiung engagieren

 

Die Befreiungstheologie ist in der Kirche und der Gesellschaft verwurzelt durch die Bildung von Basisgemeinden, in denen biblische Texte gelesen und das Gespräch über diese Texte zum Ausgangspunkt für ein konkretes befreiendes Handeln in der Gesellschaft gemacht wird. Beim gemeinsamen Lesen der Bibel und beim sozialen Engagement verlieren konfessionelle Unterschiede ihre trennende Wirkung und es entsteht eine neue Ökumene an der Basis.

 

Der brasilianische lutherische Befreiungstheologe Milton Schwantes sagte 1992 in einem Interview mit dem „Evangelischen Pressedienst“ zum Umgang dieser Menschen mit der Bibel: „Am kreativsten wird die Bibel heute in den Gemeinden der Armen gelesen. Das arme Volk hat sich die Bibel angeeignet. Und das ist kein Zufall, denn die Bibel ist ein Gedächtnisbuch der Armen. Die Unterdrückten Lateinamerikas erkennen sich sehr rasch im Volk der Bibel und in den urchristlichen Gemeinden ... Die Bibel kann Menschen zusammenführen, die sonst nicht miteinander sprechen würden. Sie macht aus ihnen eine Gruppe und führt sie zu Erkenntnissen über ihre eigene Lebenssituation. Zum Beispiel erkennen sie, dass Gott das Land allen Mensen geschenkt hat. Sie sagen: Die Bibel stärkt uns für ein Stück Brot. Sie stärkt für den Kampf um ein Stück Land.“

 

In Lateinamerika entstanden bis zum Ende des 20. Jahrhunderts etwa 200.000 christliche Basisgemeinden, die Hälfte davon in Brasilien. Der chilenische Soziologe und Theologe Fernando Castillo, der bis zu seinem Tod im Jahre 1997 in einer Basisgemeinde lebte, hat deren Bedeutung so beschrieben: „Basisgemeinden sind ein Beispiel für Beteiligung der armen städtischen und ländlichen Bevölkerung am politischen und gesellschaftlichen Leben ... In Chile fand der soziale und politische Aufschwung der Basisgemeinden zwischen 1975 und 1988 statt. Er fiel also genau in die Zeit der Diktatur. Der Kontext ist die Welt der marginalisierten Armen unter den Bedingungen von Diktatur, deren politisch-ökonomischen Auswirkungen, Repression und Verletzung der Menschenrechte. Es ist ein Kontext, der nachdrücklich und prägend durch den Ausschluss der Armen gekennzeichnet ist ...

 

In diesem Kontext entwickelte eine beträchtliche Anzahl von Basisgemeinden Initiativen und Praxen, die daran orientiert waren, die drängendsten Probleme anzugehen. Das Gros dieser Praktiken kann in zwei Stichworten zusammengefasst werden: Solidarität und Menschenrechte.

Für beide Bereiche war die Unterstützung der Institution Kirche sehr wichtig. Es wurden Initiativen gegen die extreme ökonomische Situation und gegen die Lebensbedrohungen der pobladores entwickelt, zum Beispiel Gemeinschaftsküchen, gemeinschaftlicher Einkauf, Nachbarschaftskomitees, Gesundheitsgruppen, Arbeitsloseninitiativen. Im Bereich Menschenrechte organisierten die Basisgemeinden Menschenrechtsgruppen und vor allem anklagende Aktionen mit symbolischem Charakter wie Wallfahrten, Kreuzwege und Nachtwachen.“

 

Besser lässt sich nicht darstellen, wie auf der Grundlage des Bibellesens und der Theologie der Befreiung eine Bewegung von Basisgemeinden entstanden ist, die genau das tun, worauf es im kirchlichen Engagement für eine umfassende Entwicklung, Gerechtigkeit und eine andere Globalisierung gehofft wird.

 

Die soziale Relevanz der Theologie der Befreiung geht in Lateinamerika über die Basisgemeinden hinaus. In einem Interview mit den „Lateinamerika Nachrichten“ äußerte sich der Franziskanerpriester Frei Sergio Antonio Gorgen, der mit der brasilianischen Landlosenbewegung zusammenarbeitet, 1998 über die Bedeutung dieser Theologie für die Volksbewegung:

„Ich halte ihren Einfluss für ungeheuer wichtig. Sie hat nicht nur bestimmte Bereiche der katholischen Kirche, sondern auch viele Bereiche der Gesellschaft entscheidend verändert. Die Befreiungstheologie hat gezeigt, dass das Christentum nicht eine Religion ist, die Ungerechtigkeiten legitimiert, sondern die Menschen ermutigt, sich zu organisieren und ihre Rechte einzufordern. Für die Christen stellt das Christentum eine soziale Utopie dar, die sie in konkrete Aktionen umzusetzen versuchen.

 

Die Christen, die durch den Einfluss der Befreiungstheologie ein verändertes Leben führen, wirken dabei mit, die brasilianische Gesellschaft zu verändern, indem sie sich in der Landlosenbewegung, in Bürgerbewegungen, Frauenbewegungen oder der Bewegung der Indigenas engagieren, und in diesem Sinn lebt die Theologie der Befreiung weiter, vielleicht sogar mehr als früher.“

 

Das Ende des „real existierenden Sozialismus“ und die Befreiungstheologie

 

Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung hat sich seit den 90er Jahren grundlegend weiterentwickelt, manche sprechen hingegen davon, dass sie sich seither in einer Krise befinde. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus hat die Suche nach einer Alternative zum real existierenden Kapitalismus komplizierter gemacht. Zwar war die Sowjetunion nie das Modell, an dem sich die Befreiungstheologen orientierten, aber die Krise in Kuba als Folge abnehmender Unterstützung aus Osteuropa hat in Lateinamerika Zweifel daran genährt, dass auf einem sozialistischen Weg eine Alternative zu finden ist.

 

Damit ist auch die Verwendung marxistischer Kategorien zur Analyse sozialer Prozesse umstrittener als früher. Aber der Traum von einem anderen Zusammenleben der Menschen, einer anderen Gesellschaft und einer anderen Globalisierung ist bei vielen Christinnen und Christen wach geblieben. Leondardo Boff stellte 1990 fest: „Ohne Zweifel hat der Sozialismus Zukunft - unter der Bedingung freilich, dass er auf dem Weg einer Demokratie zustande kommt, die den Namen auch verdient, die dem kleinen Volk gerecht wird, die sich von unten nach oben aufbaut, die möglichst alle mitwirken und mitbestimmen lässt und die durchaus auch für Unterschiede offen ist. So verstanden ist der Sozialismus eher imstande, die Demokratie auf den Weg zu bringen als der Kapitalismus.“

 

Der Befreiungstheologe Pablo Suess, der in Brasilien die Basisbewegungen der Armen unterstützt, hat im November 2017 in einem Interview mit dem Hilfswerk Adveniat vor einer Idealisierung der Armen gewarnt: „Zunächst sind die Armen nicht abrufbar als Beispiele für individuelles Wohlverhalten. Jesus hat die Armen und Geringsten nicht selig gepriesen, weil sie ‚heilig‘ oder ‚unschuldig‘ waren, sondern weil der Anspruch auf Wahrheit damit verbunden ist, dem Leiden, der Ungleichheit, der Ausbeutung und der Not eine prophetische Stimme zu geben. Die prophetische Stimme, die Ungleichheit wahrnimmt und denunziert, ruft dazu auf, die Welt und das eigene Leben in Ordnung zu bringen. Ohne die materielle Armut zu verklären, können wir doch sagen, dass wir von den Armen Freude an den einfachen Dingen des Lebens, die Bereitschaft zum Teilen und den Mut zum Einsatz für das Leben aller lernen können.“

 

Wachsender kirchlicher Druck auf Befreiungstheologinnen und -theologen

 

Der Druck des Vatikans und konservativer Teile der katholischen Hierarchie auf die Vertreterinnen und Vertreter der Befreiungstheologie wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt immer stärker. Prominente Sprecherinnen und Sprecher der Befreiungstheologie verloren ihre Stellungen in der Kirche (so Ernesto Cardenal) oder wurden dazu gezwungen, zumindest für einen gewissen Zeitraum ihre Auffassungen nicht mehr zu publizieren bzw. eine kirchliche Vorzensur hinzunehmen (zum Beispiel Leonardo Boff).

 

Außerdem wurden systematisch sehr konservative Bischöfe eingesetzt, die viele der Reformen zurücknahmen, die ihre befreiungstheologischen Vorgänger ermöglicht hatten. So wurde 1985 ein erzkonservativer Nachfolger für den hochangesehenen Erzbischof Dom Helder Camara berufen, der in Olinda und Recife im Nordosten Brasiliens alles daran setzte, das Werk seines Vorgängers zu zerstören. Auch Basisgemeinden hatten in solchen Diözesen plötzlich einen schweren Stand.

 

Von der US-Politik wurden besonders in Mittelamerika die Verfechter der Befreiungstheologie mit allen Mitteln, auch brutaler Gewalt, bekämpft, während Pfingstbewegung und evangelikale Kirchen und Gruppen großzügig gefördert wurden. Einer Basisgemeinde anzugehören, die sich von der Bibel zu sozialem Engagement inspirieren ließ, wurde in manchen lateinamerikanischen Ländern lebensgefährlich.

 

Aber die Basisgemeinden und die Befreiungstheologie haben überlebt und Papst Franziskus hat mehrere gemaßregelte Theologen rehabilitiert, so Ernesto Cardenal. Die Heiligsprechung von Oskar Romero 2018 ist ein weiteres überzeugendes Beispiel dafür, dass der Feldzug seiner Vorgänger gegen die Befreiungstheologie beendet ist. Anfang 2019 wurde spektakulär deutlich, dass auch bei der Ernennung von Bischöfen ein neuer Wind weht. Der erzkonservative Erzbischof Lima, Luis Capriani, der 20 Jahre lang alle progressiven Bestrebungen konsequent unterdrückt hatte, wurde durch den Theologieprofessoren Carlos Castillo ersetzt, der der Befreiungstheologie nahesteht. Der Papst spricht zwar selten über die Befreiungstheologie, aber sein Engagement für die Armen, die Marginalisierten und die Ausgegrenzten steht ganz eindeutig in der Tradition der Befreiungstheologie. 

 

Die Befreiungstheologie wird differenzierter

 

Die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse der Globalisierung in diesem Jahrhundert erfordern neue Analysen und neue Handlungskonzepte. So hat die „Ausgrenzung“ von Menschen aus dem Wirtschafts- und Gesellschaftsleben dramatische Formen angenommen. Auch ist es unter denen, die die lateinamerikanische Theologie der Befreiung vertreten, zu einer stärkeren Ausdifferenzierung gekommen. Vor allem die Frauen, die indianische und die schwarze Bevölkerung haben eigenständige Wege zu einer Befreiungstheologie erarbeitet, die ihre Erfahrungen ernster nimmt, als dies in den ersten Jahren durch männliche und weiße Befreiungstheologen geschehen ist.

 

Die brasilianische Theologin Ivone Gebara gehört zu den wichtigsten Verfechterinnen der feministischen Befreiungstheologie und hat wesentlich dazu beigetragen, das „weibliche Antlitz Gottes“ wiederzuentdecken. Feministische Theologinnen in Lateinamerika, die einer ethnischen Minderheit angehören, sehen sich gleich in dreifacher Weise unterdrückt: als Opfer eines ungerechten Wirtschaftssystems, als Frauen und als Schwarze oder Angehörige eines indianischen Volkes. Das prägt ihre Theologie.

 

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie inspiriert Gläubige in anderen Teilen der Welt

 

Die Theologie der Befreiung ist auch deshalb weiterhin wichtig, weil sie die erste bedeutende theologische Bewegung der Neuzeit ist, die in einer Region im Süden der Welt entstanden ist. Sie wurde zum Ausgangspunkt dafür, dass die Theologie eine wirklich universale Gestalt bekommen hat - nicht im Sinne einer Vereinheitlichung, sondern durch das Entstehen eigenständiger Theologien außerhalb Europas und Nordamerikas. Die Erfahrungen und Einsichten dieser Christinnen und Christen finden in der weltweiten Kirche sehr viel stärker Gehör. Trotz unterschiedlicher Einschätzungen der Theologie der Befreiung in Lateinamerika durch Theologinnen und Theologen in anderen Regionen der Welt hat sie diese doch dazu ermutigt, Abschied von einer bloßen Übernahme der europäischen und nordamerikanischen Theologie und eigene Wege zu gehen.

 

Die Vertreterinnen und Vertreter dieser neuen Theologien haben in der „Ökumenischen Vereinigung von Theologinnen und Theologen in der Dritten Welt“ (Ecumenical Association of Third World Theologians - EATWOT) ein Forum des Austausches und der Debatte gefunden. Schon beim 4. Internationalen EATWOT-Prozess in Sao Paulo im Jahre 1980 wurde der zentrale Stellenwert von Befreiung in diesen Theologien gemeinsam zum Ausdruck gebracht: „Die Befreiung ist das Zentrum der biblischen Botschaft. Im Horizont der Ostererfahrung beschränkt sich Befreiung weder auf dieses noch auf jenes politische Modell. Sie geht durch die ganze Geschichte und erreicht ihre Vollendung in der Offenbarung des Reiches, das von der befreienden Praxis Jesu und der barmherzigen Güte des Vaters zugesichert ist.“

 

Auch in Deutschland hat die lateinamerikanische Befreiungstheologie und die Bewegung der christlichen Basisgemeinden viele Christinnen und Christen begeistert und ihnen die Hoffnung gegeben, dass auch bei uns eine befreiende Theologie und neue Initiativen für das Gemeindeleben und das Lesen der Bibel entstehen können.  

 

Die Hoffnung auf Befreiung in Zeiten der Globalisierung

 

Die Globalisierung, die in diesem Jahrhundert rasch vorangeschritten ist, hat die Befreiungstheologie in Lateinamerika und in anderen Teilen der Welt vor neue Herausforderungen gestellt. Der argentinische Befreiungstheologe Néstor O. Miguez hat 2000 in einem Zeitschriftenaufsatz diagnostiziert, dass die Globalisierungsprozesse sich sehr negativ auf die große Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung ausgewirkt haben. Waren sie früher marginalisiert, so seien sie nun „ausgeschlossen“ worden, „das bedeutet, dass sie heute vollkommen außerhalb des Systems sind“.

 

Die Globalisierung hat Auswirkungen auf das Alltagsleben der Armen und ihr Lesen der Bibel: „Die kleinen Erzählungen der Menschen handeln weiterhin von der Suche der Menschen nach ein bisschen Zufriedenheit, Freundlichkeit und Freude inmitten von Aggression und dem Kampf ums Überleben. Wie sehr klammern wir uns doch an die Hoffnung, wenn wir am Rande der Verzweiflung sind. Befreiung ist dann nicht ein großes ideologisches Wort, sondern die belebende Erfahrung von ein klein wenig Würde. Wir können offenkundig Zuflucht in der kleinen, intimen Welt nehmen und vergessen, dass das Leiden von den Makrostrukturen der Ungerechtigkeit verursacht wird ... Solange diese fortbestehen, lässt sich wenig tun, um die Unterdrückung zu überwinden, die alles menschliche Leben und alles Leben auf dem Planeten schädigt.“

 

Eine Befreiungstheologie, die dem Rechnung trägt, muss also die lokale, die nationale und die globale Ebene im Blick haben. Aber im Blick auf die globale Ebene macht sich rasch Machtlosigkeit breit. Die Militärdiktaturen in vielen lateinamerikanischen Ländern der 1970er und 1980er Jahr waren klar erkennbare Gegner und es bestand trotz deren brutalen Machtausübung gute Aussicht, sie erfolgreich zu bekämpfen. Global agierende Konzerne und undurchsichtig operierende Investoren sind ungleich schwerer zu bekämpfen. Das Lesen der Bibel ermutigt weiterhin dazu, sich den globalen Strukturen des Unrechts entgegenzustellen, aber konkrete Handlungsmöglichkeiten sind für eine Bibelgruppe in einer Favela von Sao Paulo schwer zu erkennen und umzusetzen.

 

Wo sich Hoffnungslosigkeit breit macht, entwickeln sich aber zwei gefährliche Tendenzen: die Solidarität unter den Armen wird brüchiger und die religiösen Gruppen, die einen individuellen Aufstieg oder ein besseres Leben im Jenseits auf ihre Fahnen geschrieben haben, gewinnen an Überzeugungskraft und Anhängerschaft.  

 

  

© Frank Kürschner-Pelkmann