Bis an die Enden der Welt

 

Jesus hatte in seiner Heimat Galiläa und in den angrenzenden Gebieten gepredigt, die Reise nach Jerusalem war schon eine seiner weitesten Unternehmungen. Aber er predigte doch über einen Gott, der die ganze Welt geschaffen hat und retten will, und er begegnete Menschen aus anderen Völkern und Kulturen, so der Syrophönizierin (Matthäus 15,21-28 und Markus 7,24-30). Sie war es, die Jesus mit ihrer Hartnäckigkeit und Überzeugungskraft zu der Einsicht brachte, dass es für seine Botschaft keine politischen Grenzen gab. Dass er der Frau begegnete, als er sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurückgezogen hatte (Matthäus 15,21), also selbst ein Fremder in einem anderen Land war, zeigt eindrücklich, wie die Begegnung mit anderen Kulturen die Menschen und ihr Verständnis verändert.[1]

 

Jesu Botschaft war an die Welt gerichtet, auch wenn er überwiegend in galiläischen Dörfern und Kleinstädten predigte. Dies wurde in dem Missionsauftrag an seine Jünger überdeutlich (Matthäus 28,19).

 

Die Tatsache, dass es an vielen Orten rund ums Mittelmeer kleine jüdische Gemeinschaften gab, begünstigte die Verbreitung der Botschaft Jesu, denn die Apostel verstanden sich zunächst vor allem, manche auch ausschließlich als innerjüdische Reformbewegung. Aber mit der Aufnahme von Nichtjuden in die lokalen Gemeinschaften mussten die Spannungen mit den Synagogen-Gemeinden wachsen, ebenso die kulturelle und soziale Vielfalt innerhalb der Gemeinden.

 

Es war vor allem das Verdienst des Apostels Paulus, dass so viele Gemeinschaften von Jesus-Anhängern entstanden und dass sie miteinander und mit der Gemeinde in Jerusalem verbunden blieben. Es entstand so – zunächst in einem sehr kleinen Maßstab – eine Gegenbewegung zum globalen Machtanspruch der Römer, und wie viele Mächte, die den Erdball beherrschen oder beherrschen wollen, besaßen die römischen Herrscher ein feines Gespür dafür, wo ihnen Gefahr drohte. Diesmal war es keine Armee von „Barbaren“, sondern eine religiöse Bewegung, die ihren religiösen Allmachtsanspruch, der die politische Macht ideologisch absicherte, infrage stellte. Wie immer gingen die Römer brutal vor, aber es gelang ihnen bekanntlich nicht, die Sekte der Jesus-Anhänger auszumerzen.[2]

 

Carl Amery stellt dar, worum es in diesem Konflikt ging und warum er auch heute noch für uns relevant ist: „Dieses Imperium war tolerant. Man redete lieber griechisch als lateinisch. Man stellte vitale Mischkulturen in den Stadtkulissen einer vergröberten hellenistischen Architektur her, huldigte tausend Göttern unterm Gewölbe des Reichspantheon, hielt sich auch offen für jede Art von Skeptizismus. Aber als Schlussstein des Gewölbes, der alles zusammenhielt, galt der Kaiserkult. Er manifestierte sich in der formellen Verehrung des numen caesaris , der Göttlichkeit des Herrschers ... Sein Kult war eine Art Verfassungseid ... Was störte die christliche Minderheit an der Metareligion der kaiserlichen Allmacht? Dass sie die Tür zur Hoffnung endgültig zuschlug, dass sie keine Alternative mehr duldete, ja erkennen ließ. Der Kaisereid bedeutete: TINA, there is no alternative, es gibt keine Erwartung darüber hinaus. Aber sie, Christen und Juden, glaubten an die Alternative. Sie verehrten den einen ganz anderen: den Gott des Bundes, und sie erwarteten ihn. Zurück in die Gegenwart, die nun leichter erkennbare! Seit 1989, soviel ist klar, leben wir in einer sehr ähnlichen, weil vom Imperium verordneten und fast spielend durchgesetzten alternativlosen Situation. Religiöse Konflikte im überlieferten Sinn sind eingestellt oder eingeschlafen (wenn man von historisch belasteten Brennpunkten wie Nordirland oder Palästina absieht); alle Kulte, von den Großkirchen über Islam und Buddhismus bis zur Esoterik von Baghwan und der manischen Scientology, sind mehr oder weniger toleriert. Aber es wird selbstverständlich angenommen, dass sich darüber ein unwiderruflicher Kosmos, eine Zivilreligion, ein way of life oder auch, wie Walter Benjamin schrieb, ein traum- und gnadenloser Kult wölbt, der alle unsere wesentlichen Entscheidungen alternativlos, oft schon im Vorfeld des scheinbaren common sense bestimmt.“[3]

 

Dass die Jesus-Bewegung eine solche Stärke entwickelte, dass sie das Imperium beunruhigte, lag am festen Glauben der einzelnen Mitglieder an Gott und seinen auferstandenen Sohn, aber auch daran, dass sie ihren Glauben in kleinen Gemeinschaften lebten, wo man sich gegenseitig stärken konnte, wo aber auch das Bewusstsein bestand, zu einer (noch) kleinen „weltweiten“ Bewegung zu gehören.[4]

 

Wie Paulus die Grundlage für eine globale religiöse Bewegung schuf

 

Wie Paulus diese Gemeinschaft kleiner Gemeinden formte und zusammenhielt, das wäre ein eigenes Buch zur Konzeption und Praxis der „alternativen globalen Bewegung“ der frühen Jesus-Bewegung wert. Ich muss mich hier auf einige Andeutungen beschränken. Ein großes Anliegen von Paulus war es, in den einzelnen Orten seiner Missionsreisen lebendige Gemeinschaften entstehen zu lassen, deren Mitglieder einander bestärkten und die der übrigen Gesellschaft vorlebten, was es bedeutete, ein Leben nach dem Vorbild Jesu zu führen und auf das Reich Gottes hin zu leben. Paulus hat diese Gemeinschaften selbst oft Bruderschaften genannt, wobei aber die Frauen „mitgemeint“ waren. Dieser Sprachgebrauch spiegelt den Geist der patriarchalen Gesellschaften des Mittelmeerraums wider, auch wenn Paulus vielleicht doch kein so großer „Chauvi“ war, wie manche Aussagen dies erscheinen lassen, die von anderen Autoren der Briefe unter dem Qualitätsnamen Paulus gemacht wurden, von denen wir heute also wissen, dass sie nicht von Paulus selbst stammen.[5]

 

Paulus jedenfalls hat die Bewahrung der Gemeinschaft von Frauen und Männern, Juden und Griechen sowie von Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten als einen hohen Wert angesehen und nach Kräften gefördert. Als Beispiel sollen hier einige Verse aus dem Brief an die Gemeinde in der römischen Kolonie Philippi zitiert werden: „Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz oder um eurer Ehre willen, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient. Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ (Philipper 2,1-5)

 

Immer wieder muss Paulus die Gemeinden dazu ermahnen, die Einheit zu wahren, und neben religiösen waren es vor allem soziale Unterschiede, die die junge Bewegung zu spalten drohte. Dies ist auf dem Hintergrund der wachsenden sozialen Unterschiede im Römischen Weltreich zu sehen, die sich in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt noch verschärften.

 

Klaus Schäfer schreibt in seiner Dissertation über die ersten christlichen Gemeinden als Bruderschaften, „dass die hellenistische Umwelt der paulinischen Gemeinden von einem hohen sozialen Spannungspotenzial und von sozialer Desintegration gekennzeichnet war, gleichzeitig aber der Wunsch nach Überwindung der sozialen Zerrissenheit groß gewesen ist. Die christliche Gemeinde konnte mit ihrem Modell von der ‚Gemeinde als Bruderschaft’ aus Juden und Heiden, Sklaven und Freien, Männern und Frauen und mit der Betonung der Gleichberechtigung und Einheit ‚in Christus Jesus’ eine Antwort auf diese soziale Ungeborgenheit und die Sehnsucht nach einer vereinten Menschheit geben. Die brüderliche Sozialstruktur der Gemeinde wurde von Paulus gelegentlich als Kontrastgesellschaft zur ‚Welt’ zur Sprache gebracht: Die Gemeinde aus Brüdern und Schwestern versteht sich als Vortrupp der neuen Menschheit, die schon jetzt unter der Herrschaft des gekreuzigten Herrn und seinem Gebot der Bruderliebe lebt.“[6]

 

Eine alternative Globalisierung, die auf Geschwisterlichkeit beruht

 

Genau solche Gemeinden wären heute die solide Basis für die Verwirklichung einer alternativen Globalisierung, die auf Geschwisterlichkeit und nicht auf dem Kampf jeder gegen jeden beruht. Nun wissen wir aus der Apostelgeschichte und den Briefen des Paulus, wie schwierig es war, diese Gemeinschaften zu gründen, am Leben zu halten und zusammenzuhalten. Und doch haben sie die Verfolgung der Römer überstanden und sind zur Keimzelle einer weltweiten Bewegung geworden. Es lohnt also, sich an der verbindlichen Form von Gemeinschaft zu orientieren, die die ersten christlichen Gemeinden geprägt haben.

 

Deutlich ist aber auch, wie stark die sozialen Spannungen in einer Gesellschaft und auf internationaler Ebene die Gemeinschaft von Christinnen und Christen gefährden können. Die kleinen christlichen Gemeinschaften der ersten Jahrhunderte mussten sich darauf beschränken, diese sozialen Unterschiede wenigstens nicht das Gemeindeleben bestimmen zu lassen, heute besteht die Möglichkeit und Aufgabe für Christinnen und Christen, diese Unterschiede durch ein Engagement in der Gesellschaft zu bekämpfen. Es muss deutlich sein, dass dann, wenn die ganze Gesellschaft auseinanderfällt, weil die Reichen jede soziale Solidarität aufkündigen, auch die Gemeinschaft in der Gemeinde und der Kirche akut gefährdet ist.

 

Dies gilt in gleichem Maße für die internationale Zusammenarbeit. Wo die Kluft zwischen armen und reichen Ländern immer größer wird, und das ist gegenwärtig der Fall, da ist auch die ökumenische Gemeinschaft unter den Kirchen beziehungsweise innerhalb der weltweiten Kirchen wie der römisch-katholischen Kirche bedroht. Zwar mag es gelingen, die organisatorische Einheit zu wahren, aber der Geist der Geschwisterlichkeit ist bedroht, wenn die einen auf Dauer zu Empfängern von Finanzzuwendungen der anderen werden. Das Engagement gegen eine Globalisierung, die die sozialen Unterschiede innerhalb und zwischen den Ländern ständig wachsen lässt, ist auch – aber nicht nur – ein Engagement dafür, dass die von Christus geschenkte Einheit nicht dadurch verloren geht, dass die Kluft zwischen Arm und Reich auch die christliche Gemeinschaft zerbrechen lässt.

 

Das Engagement von schwarzen und weißen Christinnen und Christen gegen die Apartheid in Südafrika war auch darin begründet, dass sie erkannt hatten, dass es auch um die Frage ging, ob wir eins in Christus sind oder aber getrennt nach Kriterien der Rasse und des sozialen Status. In der weltweiten Ökumene erkennen immer mehr Menschen und Kirchen, dass es bei den aktuellen ökonomischen Fragen im Kern auch um die existenziellen Fragen des Glaubens geht, nicht zuletzt um die Frage, ob wir die Einheit in Christus nur als Lippenbekenntnis betrachten. Die Beschäftigung mit den ersten christlichen Gemeinden kann uns in diesem Engagement viele Einsichten und viel Inspiration geben.

 

1999 stellte Milan Opocenský, zu dieser Zeit Generalsekretär des Reformierten Weltbundes, über die aktuellen Bezüge der Auseinandersetzung zwischen dem Römischen Reich und den kleinen christlichen Gemeinschaften fest: „In einem gewissen Sinne kann unsere Gegenwart mit der römischen Ära verglichen werden. Das Römische Reich war eine Weltmacht, die riesige Territorien umfasst und eine gewaltige Anzahl von Menschen durch ihre Gesetze, ihre Legionen und ihre Weltordnung beherrscht hat. Anders als zu erwarten, leben wir heute wieder in einer Situation, in der eine Supermacht ihre militärische und wirtschaftliche Überlegenheit geltend macht. In der frühen Kirche kamen Christen in kleinen Gruppen zusammen, die aus der Perspektive der Weltpolitik uninteressant und unbedeutend waren. Diese kleinen und machtlos erscheinenden Gruppen verbreiteten sich jedoch und wuchsen. Sie entwickelten eine neue Art von Beziehung, die im Laufe der Zeit dazu beitrug, das Römer-Reich von innen zu verwandeln.“[7]

 

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 


[1] Vgl. zu diesem Bibeltext die Auslegung von Gesine von Kloeden, in: Reformierte Kirchen Zeitung, 6/2000, S. 196ff.

[2] Paulus selbst wurde häufiger ein Opfer römischer Verfolgungen und schließlich von den Römern ermordet. Das Zeugnis und der Leidensweg des Paulus sind eine Orientierung für Menschen, die um des Glaubens willen verfolgt werden und die deshalb als gefährlich angesehen werden, weil sie das Evangelium auf die aktuelle Situation beziehen. So erging es auch den Christen während der koreanischen Militärdiktatur. In dieser Zeit entstand die Minjung-Theologie, zu deren bekannten Vertretern Byung-Mu Ahn gehörte. Er schrieb über Paulus, den er mit Jesus und seinem Leidensweg vergleicht: „... musste Paulus viel leiden und wurde oft geschlagen. ‚Hinfort mache mir niemand weiter Mühe; denn ich trag die Malzeichen Jesu an meinem Leibe“ (Gal 6,17).’ Die Malzeichen waren die Narben, die die Schläge hinterlassen hatten. Kurz, das Leben des Paulus war mit solchen Ereignissen angefüllt. Hätte Paulus gepredigt, ohne Stellung zu Zeitproblemen zu beziehen, etwa in der Weise, wie heute die ‚Reine Evangeliumskirche’ predigt, wäre er aller Schwierigkeiten enthoben gewesen. Doch schlug man ihn, weil er nicht so predigte.“ (Byung-Mu Ahn: Draußen vor der Tür, Göttingen 1968, S. 23)

[3] Carl Amery: Global Exit, München 2002, S. 22f.

[4] Zum ökumenischen Teilen in dieser Gemeinschaft vgl. Ronald Sider: Der Weg durchs Nadelöhr, Wuppertal 1978, S. 98ff.

[5] Zu Paulus und der Darstellung von Frauen in seinen Briefen vgl. u.a. Elsa Tamez: Das Schweigen von Frauen und der Geist des Kanons, in: Junge Kirche 1/95, S. 10ff.

[6] Klaus Schäfer: Gemeinde als „Bruderschaft“, Ein Beitrag zum Kirchenverständnis des Paulus, Frankfurt am Main 1989, S. 443

[7] Milan Opocenský: Ihr seid eins in Christus Jesus, in: Reformierte KirchenZeitung, 6/99