Kurt Marti - ein Pfarrer und Schriftsteller, der überzeugt ist: "Gott ist Liebe" 

 

„Die Ware Weihnacht ist nicht die wahre Weihnacht.“ In diesem Satz hat der Schweizer Theologe und Schriftsteller Kurt Marti seine Kritik an der Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes zusammengefasst. In einem Radiointerview erläu­terte er 2004 seine Vorbehalte: „Weihnachten ist mir vergällt worden durch den ganzen Konsumrausch, der mit Weihnachten verbunden ist, diese ganze Vermark­tung. Es fängt schon an im Advent, die Adventswochen, überall in der Stadt ist große Aufregung, die Heilsarmee singt an allen Ecken, das alles ist so penetrant, dass ich ein bisschen die Lust an Weihnachten verloren habe.“[1] Im gleichen Interview erwähnte er, dass Fidel Castro vorgeschlagen hatte, Weihnachten im Sommer zu feiern. Er kenne Castros Gründe für diesen Vorschlag nicht, aber ihm selbst ist der Gedanke nicht fern: „… dahinter steckt ja nur dieser gewisse Überdruss an dieser Weihnächtlichkeit, die langen Nächte und der Winter und leise rieselt der Schnee, all dieses sentimentale Drum und Dran. Schön wäre es mitten im Sommer, dann müssten wir Weihnachten neu erfinden.“[2]

 

Besoldeter Pfarrer und erfolgreicher Schriftsteller

 

Kurt Marti wurde am 31. Januar 1921 in eine Notarsfamilie in Bern hineingeboren. Sein Vater war liberaler Kommunalpolitiker. Kurt Marti blickte später auf „eine behütete Kindheit im bürgerlichen Wohlstand“ zurück.[3] Am „Freien Gymnasium“, einer christlich ausgerichteten Privatschule in Bern, gehörte der spätere Schrift­steller Friedrich Dürrenmatt zu seinen Mitschülern. Als junger Soldat war Kurt Marti dann in der Zeit des Zweiten Weltkriegs zum Fliegerbeobachtungsdienst eingeteilt. Anschließend wechselte er nach zwei Semestern Jurastudium zur Theologie. Das hatte keine Tradition in seiner Familie, denn unter seinen Vorfahren hatte es, schreibt Kurt Marti, „Bauern, Gemeindeschreiber, Kaufleute, Ärzte, Handwerker, ab und zu auch Tunichtgute und Bankrotteure gegeben, nie jedoch einen Pfarrer“.[4] Er studierte unter anderem bei Karl Barth, der ihn stark beeinflusst hat, vor allem durch sein glaubwürdiges Engagement als Christ. Nach dem Studium arbeitete der junge Theologe Kurt Marti im Auftrag des neu entstehenden Ökumenischen Ra­tes der Kirchen als Gefangenenseelsorger in Paris und trat nebenbei als Jazzmusiker in einem Existenzialistenkeller auf.[5] Anschließend wurde er 1948 Gemeindepfarrer in der Schweiz. Zwei Jahre später heiratete er Hanni Morgenthaler, und bald gehörten auch drei Söhne und eine Tochter zur Familie.

 

Neben seiner Tätigkeit als Pfarrer fand Kurt Marti Zeit für seine schriftstel­lerische Tätigkeit. Wie er zur Literatur kam, wurde er 2008 von der Schweizer Wochenzeitung WOZ gefragt: „Das war keine Berufung. Das literarische Schreiben war eher eine Gewohnheit. Mich hat immer fasziniert, dass man mit Wörtern und Sät­zen eine kleine Welt erstehen lassen kann.“[6] 1958 erschien sein erster Gedichtband „Boulevard Bikini“ mit einhundert Gedichten, viele davon in Berner Mundart. Es folgten Hunderte Essays, Kurzgeschichte, Gedichte sowie ein Roman. Kurt Marti wurde mit mehr als einem halben Dutzend Preisen geehrt, darunter dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik.

 

Kurt Marti schrieb nicht gezielt Bücher, mit denen große Auflagen zu erzielen waren. Im Rückblick sagte er kurz vor seinem 80. Geburtstag in einem Interview: „Als besoldeter Pfarrer hatte ich das Glück, keine einträglichen Erfolgsbücher schrei­­ben zu müssen.“[7] Manche seiner Gedichtbände erreichten zunächst nur eine kleine Auflage, was den Schriftsteller nicht erschütterte, nur habe er manchmal seine Verleger bedauert, bekannte er später. Von 1964 bis 2007 schrieb Kurt Marti mehr als 250 Kolumnen zu aktuellen Themen für die Zeitschrift „reformatio“, eine kleine Schweizer Publikation, die nie über etwa 1.000 Abonnenten hinauskam und inzwischen eingestellt worden ist.[8] Viele andere Autoren hätten sicher eine pres­tigeträchtigere und auflagenstärkere Zeitschrift für ihre Kolumnen gesucht, aber Kurt Marti ging es nicht um Ruhm und Massenwirkung.

 

„Gott ist Liebe“

 

Über Kurt Marti als Gläubigem und Pfarrer schrieb Stefan von Bergen im Januar 2011 im „Tagesanzeiger“: „Zur Theologie und zum Glauben fand er nicht durch ein religiöses Erweckungserlebnis, sondern durch die Kraft der Neugier und des Zweifels. Gott sieht er als großes Rätsel, das die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Und so einer wird Pfarrer! Das bekam er öfter zu hören von Gläubigen, die von Marti vergeblich Erbauliches und Anleitung erwarteten.“[9] Es kann nicht ver­wundern, dass Kurt Marti gefestigte Vorbehalte gegen Fundamentalisten hatte: „Jedes Pochen auf eine ‚reine Lehre’ ist im Kern gewalttätig.“[10] Stattdessen plädierte er für einen „aufgeklärten, aufklärenden Protestantismus“ und hatte ein historisch-kritisches Verständnis biblischer Texte.[11] In einem Interview hat Marti allerdings Vorbehalte gegenüber der vorherrschenden akademischen Theologie ge­äußert und erklärt, warum er Theologie in lyrischer Form betrieb: „Theologie ist eine Wissenschaft, solange es um das Zergliedern von Sprache und Text geht. Damit kann sie Gott nicht begreifen. Theologie in der Praxis ist eigentlich ange­wandte Kunst. Ich habe das dann ‚Theo-Poesie’ genannt.“[12] Kurt Marti beklagte als Manko der Kirche: „Mir ist kein Glaubensbekenntnis einer christlichen Kon­fession be­kannt, dessen Haupt- und Zentralsatz lautet ‚Gott ist Liebe’. Dem­ent­sprechend sieht die Kirchen- und Konfessionsgeschichte auch aus.“[13]

 

Christian Feldmann hat in einem Rundfunkbeitrag zusammengefasst, was der Satz „Gott ist Liebe“ für Kurt Marti bedeutet: „Das heißt, das ewige Leben, das die Kirchen tröstend verkünden, muss hier und heute beginnen, das Leben im Diesseits verändernd … Gott ist Liebe – das provoziert eine sinnliche, befreiende Religion, den Gegenentwurf zur blassen, vergeistigten, gefährlich nekrophilien Frömmigkeit, die gemeinhin als christlich gilt. Wenn Gott in Bethlehem Fleisch wird, in die konkrete Menschenwelt der Armen und Verfolgten eintritt, als krähender Säugling, dann entpuppt sich die übliche spirituelle Engführung schnell als Zerrbild … Gott ist Liebe – das bedeutet schließlich den Abschied von einem männlich verengten, patriarchalischen Gottesbild und die Wiederentdeckung seiner weiblichen Züge.“[14]

 

1980 sprach Kurt Marti Gott in einem Gedicht als Mutter und als Sohn an, der und dem es darum gehe, den Himmel auf Erden anzuzetteln.[15] Zu diesem Gott kann man kein „Duzverhältnis“ haben, war der reformierte Theologe überzeugt und stand hier in der theologischen Tradition von Karl Barth: „Ich glaube, dass man heute in der Gefahr steht, Gott zu verniedlichen und zu vergemütlichen, dass man ihn anpassen will an all unsere Denk- und Lebensge­wohnheiten. Dabei ist doch dieser Gott, der uns in der Bibel begegnet, ein fremder Gott, der vom Sinai herkommt, und die Geschichten um ihn herum sind sehr befremdend.“[16]

 

Warum der Pfarrer nicht Professor werden durfte

 

Nachdem Kurt Marti öffentlich mit dem Kommunisten Konrad Farner debattiert hatte, sprach 1972 ein Berner Regierungsrat von dem Pfarrer als von einem „pastoral verkappten Kommunisten“.[17] Im gleichen Jahr verweigerte der mehrheitlich bürgerliche Regierungsrat der Stadt Bern dem bekannten Theologen aus politischen Gründen die Berufung zum Professor für Homiletik (Predigtlehre). Das löste weit über die Schweiz hinaus Kopfschütteln aus. 1977 wurde ihm von der Universität, deren Professor er nicht werden durfte, die Ehrendoktorwürde zuerkannt. Kurt Marti hat das Hin und Her gelassen aufgenommen: „Und damals, 1972, bin ich froh gewesen, ich habe diese Professur ohnehin nicht gewollt.“[18] Ohne die Professorentätigkeit fand er auch Zeit für die Verteidigung von Wehrdienstverweigerern vor eidgenössischen Militärge­rich­ten,[19] wieder ein Engagement, das dem Pfarrer und Schriftsteller wenige Freunde unter den patriotisch-konservativen Schweizern einbrachte.

 

Und wie feierten Kurt Marti und seine Frau Weihnachten? In dem erwähnten Interview im Jahre 2004 sagte er dazu: „Wir feiern es kaum mehr. Ab und zu kommt ein Besuch von den Kindern, und wir machen auch keine große Familienzu­sammenkunft, sodass die noch gezwungen wären, hier zu bleiben, wenn sie doch in die Ferien gehen mögen in dieser Zeit. Nein, wir sind da und machen uns Gedanken und wissen nicht, wie die realisiert werden könnten.“[20]

 

2007 ist Hanni Marti-Morgenthaler gestorben, und das bedeutete einen großen Bruch im Leben des zurückgebliebenen Ehemanns: „Seitdem die täglich und nächtlich vertraute Zwiesprache aufgehört hat, schwinden mein Wortschatz und mein Ausdrucksvermögen.“[21] In seinem 2010 erschienenen Gedichtband „Heilige Vergänglichkeit – Spätsätze“ schrieb Marti: „Gott ist nie Ersatz, erst recht nicht für die lebenslang Geliebte.“[22]

 

Und was kommt nach dem Tod, wurde der damals 89-jährige Marti in einem Zeitungsinterview 2010 gefragt: „Bei den Predigten sagte ich immer: Ob es ein Jenseits gibt und wie es beschaffen ist, das weiß ich nicht. Ich kann nur sagen: Gott ist das Jenseits. Ich kann nicht recht glauben, dass wir als Individuen weiterexistieren. Gott weiß, was er mit mir macht, und ich weiß es nicht.“[23] Bereits in seinen „Leichenreden“ von 1969, die für einen Gedichtband eine phänomenale Auflage von mehr als 50.000 Exemplaren erreichten, hatte Marti geschrieben: „Was kommt nach dem Tod? Nach dem Tod kommen die Rechnungen für Sarg, Begräbnis und Grab.“[24] Kurt Marti starb am 11. Februar 2017 im Alter von 96 Jahren.

 

„Im Schrei der Geburt“

 

Dass wir uns davor hüten müssen, die Geburt Jesu kitschig zu verklären, hat Kurt Marti in einem Gedicht mit dem Titel „Weihnacht“ zum Ausdruck gebracht:

 

damals

als gott

im schrei der geburt

die gottesbilder zerschlug

und

zwischen marias schenkeln

runzlig rot

das kind lag

 

Kurt Marti stellt drastisch dar, wie eine Geburt vor sich geht und wie sehr dieses Geschehen manchen weitverbreiteten Gottesbildern widerspricht. Der katholische Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel hat zum Geburtsschrei in Kurt Martis Gedicht festgestellt: „In diesem Schrei ist natürlich auch schon der Kreuzesschrei aufgenommen, die Korrespondenz von Anfang und Ende. Und dieser Gott, der gewissermaßen wie ein Neugeborener schreiend zu Welt kommt, auch schreiend enden wird, dieser Gott zerschlägt die Bilder von sich. Das heißt, unsere Bilder, die wir uns als Christen gemacht haben, idyllische, verharmlosende Bilder, glatt polierte Bilder, die die Realität oft überspringen, überspielen.“[25] Es gilt, den Weg ernst zu nehmen, der zwischen Krippe und Kreuz lag.

 

Diese Auffassung findet auch in dem Text „flucht nach ägypten“ ihren Niederschlag:

 

nicht

ägypten

ist fluchtpunkt der flucht

 

das kind

wird gerettet

für härtere tage

 

fluchtpunkt

der flucht

ist

das kreuz[26]

 

Für Kurt Marti ist die Weihnachtsgeschichte von großer Bedeutung für unser Gottesverständnis: „In diesem wehrlosen Kind begegnet einem Gott. Im Gegenteil von Macht und Herrschaft.“[27] Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass Kurt Marti dem Magnifikat einen langen Text gewidmet hat, dem er den Titel „und maria“ gab. Über diese Maria erfahren wir unter anderem:

 

und maria konnte kaum lesen

und maria konnte kaum schreiben

und maria durfte nicht singen

noch reden im bethaus der juden

wo die männer dem mann-gott dienen[28]

 

Und doch sang sie „von der großen gnade und ihrem heiligen umsturz“. Aber diese Maria wurde später als hochgelobte Jungfrau verehrt, und Maria „bangte um ihren Verstand“ angesichts dessen, wie sie dargestellt wurde:

 

am tiefsten

verstörte sie aber

der blasphemische kniefall

von potentaten und schergen

gegen die sie doch einst

gesungen hatte voll hoffnung[29]

 

Maria nimmt diese Verzerrungen nicht hin in Kurt Martis Text. Sie tritt aus ihren Bildern heraus und klettert von den Altären herab. Sie nimmt die Gestalt couragierter Frauen an wie Jeanne d’Arc, verfolgten Hexen und auch von Rosa Luxemburg. Der Text Martis endet mit den Zeilen:

 

und sie war und sie ist

vielleibig vielstimmig

die subversive hoffnung

ihres gesangs[30]

 

Maria steht in diesem Marti-Text für das Streben der Frauen nach Emanzipation und aller Menschen nach Befreiung. Die Maria des Magnifikats wehrt sich gegen die verzerrte Darstellung als demütige Jungfrau. Sie will nicht von den Potentaten angebetet werden, sondern den Unterdrückten Hoffnung geben. Deshalb steigt sie von den Altären, wird zur Rebellin gegen Männermacht und für eine umfas­sende Befreiung. Kurt Marti nimmt also das „aufrührerische“ Potenzial des Magnifikats ernst und sieht Maria auch in den Frauen in der Geschichte, die den „heiligen Umsturz“ versucht haben und dafür häufig verfolgt wurden.[31]

 

Die Weihnachtsgeschichte und die Aufrüstung der 1980er Jahre

 

1981 hat Kurt Marti einen Beitrag in einem Weihnachtsbuch veröffentlicht, dem er den Titel „Wohin mit meiner Wut?“ gab. Der Beitrag beginnt mit diesen Sätzen: „Wut. Sie passt, ich weiß, schlecht zur Weihnachtsgeschichte, zur Ausrufung des Friedens Gottes auf Erden. Frieden? ‚Es gibt wichtigere Dinge als Frieden’, verlautete offiziell in einem der Weltmachtzentren. Trotzdem wird dort, wo dies verlau­tete, am Weihnachtstag ein riesiger Weihnachtsbaum aufleuchten, mit elek­trischen Glüh­birnchen, versteht sich. Und Krippenfiguren werden aufgestellt, Weih­­nachts­lieder gesungen, vielleicht wird sogar die lukanische Weihnachtsge­schichte gelesen werden. Wut. Wut. Mit Weihnachtsliedern dem nuklearen Holocaust entgegen.“[32]

 

Angesichts der Nach- und Aufrüstungspläne Anfang der 1980er Jahre war Kurt Marti mit seiner Wut auf die Weltmachtzentren nicht allein. Aber er spürte besonders sensibel den Widerspruch zwischen neuen Raketen und sentimentalen Weihnachtsfeiern. Angesichts der existenziellen Bedrohung durch immer neue Waffen bekannte Kurt Marti, er sei kein Pessimist, aber vielleicht sei er gerade deshalb wütend: „Ich bin kein Pessimist und habe Kinder. Um ihretwillen und um all der Kinder willen, die ich als Pfarrer durchs Jahr hindurch taufen darf, gelingt es mir nicht, wutlos zu bleiben. Es gelingt mir noch weniger, meine Wut in kühlen, überlegenen Pessimismus zu verwandeln. Weit intensiver als noch vor wenigen Jahren ruft mir heute jedes Kind, das ich taufe, das Baby von Bethlehem in Erinnerung.“[33]

 

Die Lukasgeschichte von der Geburt Jesu versteht Kurt Marti als Ge­schichte der Abrüstung Gottes: „Machtverzicht, Abrüstung Gottes bis auf das Kind in der Krippe, bis auf den Mann am Kreuz. Selbstentäußerung, Machtentäußerung: So formuliert ebenfalls der Christus-Hymnus im Philipperbrief (2,6-11). Gott geht mit seinem Messias voran, und rund drei Jahrhunderte lang ist ihm die Kirche gefolgt, hat die Zugehörigkeit zur messianischen Gemeinde für unvereinbar gehalten mit der Zugehörigkeit zu irgendeiner Armee. Und dann, man weiß es, der Sündenfall der Kirche.“[34]

 

Die Wut darüber, die Wut über die Rüstung, über das Verhungern der Kinder im Süden der Welt … von dieser Wut findet Kurt Marti bei Maria und Josef nichts wieder und auch nicht bei den Hirten: „Ich stehe vor der Weihnachtsgeschichte und kann meine Wut nirgends hinlegen. Alles leuchtet in Gehorsam, Freude, Engelsglanz.“[35] Und dann kommt dem Schriftsteller ein Verdacht: „Nein, man darf ein kleines Kind nicht wecken, auch das in der Krippe nicht. Psst, psst, kein Gezeter, kein Streit, keine Schreie, keine Wut! Schlaf’ in himmlischer Ruh! Vielleicht ist Weihnachten just wegen dieses schlafenden Kindes zum beliebtesten aller Christenfeste geworden. Einmal im Jahr wird es betrachtet in seinem süßen Schlaf – und dann wieder munter an die Geschäfte, an die Weiterrüstung! Der Herr, der Veränderer (= Messias) schläft ja den Schlaf seiner scheinbar ewigen Kindheit.“[36] Auf diese Weise will Marti die Weihnachtsgeschichte aber nicht zu Ende gehen lassen: „Ihr irrt, das Kind ist erwacht, schon längst! Das Kind ist ein Mann geworden! Wenn ihr das Evangelium des Lukas oder eines der anderen Evangelien lesen würdet, so wüsstet ihr, dass er, der Mann, seinen Mund aufgetan, laut und deutlich geredet hat.“[37]

 

Auf dieser Grundlage findet Kurt Marti ein neues Verhältnis zu seiner Wut: „Ostern wie Weihnachten sind Kundgaben der großen Bejahung Gottes, für die der Retter, der Messias gutsteht … Dieses Ja Gottes zum ‚Volk’, zur Erde, ist das A und O des Evangeliums! Jesu Nein, seine Wut gegen Tempelkommerz, frommen Dünkel und Machtwahn wurzelt in dem großen göttlichen Ja – allein deshalb ist seine Wut eine heilige. Und so allein kann auch meine, unsere Wut zu einer heiligen werden!“[38]

 

Keine neue Weihnachtserzählung

 

Das ist kein rührseliger, stimmungsvoller Weihnachtstext. Kurt Marti wollte auch keine Geschichten zu Weihnachtsthemen mehr schreiben. Im Jahr 1987 wurde er von Armin Juhre, dem damaligen Kulturredakteur der evan­gelischen Wochenzeitung „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“, um einen Beitrag zum Thema „Weihnachten“ gebeten. Kurt Marti schickte stattdessen zehn Thesen unter der Überschrift „Warum ich keine Weihnachtserzählung mehr schreibe“. Die Zeitung hat diese Thesen veröffentlicht. Kurt Marti schrieb in seinen Thesen, dass ihm zu Weihnachten nichts einfalle, dass es ohnehin schon zu viele Weihnachtserzählungen gebe und dass man dem horriblen Weihnachtsgeschäft mit Weihnachtserzählungen nur zu gut entsprechen würde. Die 4. These lautet: „Weil die zu vielen, zu gut gemeinten, zu erbaulichen Weihnachtserzählungen den krank machenden, konflikterzeugenden Druck auf die menschliche Psyche noch verstär­ken. Sie verschärfen in den Lesern, Leserinnen jene ohnehin schon bestehende Span­nung (Weihnachtssyndrom), die meint, an Weihnachten etwas Besonderes er­leben, tun oder fühlen zu müssen.“[39]

 

Außerdem seien die biblischen Weihnachtslegenden erzählerisch überstra­pa­ziert worden, während Ostern und Pfingsten vernachlässigt werden. Und: „Weil – summa summarum – Weihnachten in unseren nördlichen Breiten längst zerzählt ist.“[40] Der Redakteur Armin Juhre hat dem zehn eigene Thesen entgegengestellt, warum er sich einer neuen Weihnachtserzählung nicht verweigert, von denen hier wenigstens eine wiedergegeben werden soll: „Weil ich einsehe, dass gegen die Kommerzialisierung des Weihnachtsgeschäfts mit Literatur nicht anzukommen ist, aber die Hoffnung nicht aufgebe, dass unter unzähligen neuen Weihnachtser­zäh­lungen und -gedichten wenigstens einige dazu taugen, sozusagen ein kritisches Weih­nachtsbewusstsein zu schaffen.“[41]

 

Kurt Marti hat trotz der Gegenthesen keine neuen Weihnachtserzählungen geschrieben, aber er kam dennoch vom Weihnachtsthema nicht ab. Der Schrift­steller sah den Menschen nicht als Krone, sondern als Schwachstelle der Schöpfung an, durch den die Schöpfung bedroht ist. Pointiert überlegte er in einem Interview: „Vielleicht hätte Gott die Elefanten als Herren der Schöpfung einsetzen sollen, dann wäre es besser gekommen.“[42] Das führt den Schweizer Theologen zu einer eigenen Deutung des Weihnachtsereignisses: „In der Theologie ist es ja so, dass oft gesagt wird, es ist eine Auszeichnung des Menschen, dass Gott Mensch wird. Ich würde eher das Gegenteil vermuten, es ist eigentlich eine Notaktion, weil der Mensch, heute sehen wir das genau, im Begriff ist, die irdische Schöpfung ka­puttzumachen und deshalb wäre Weihnachten wichtig. Gott greift ein, um den Menschen davon abzuhalten, durch das Beispiel Jesu, durch seine Verkündigung, durch die Bergpredigt; er will uns davon abhalten, so weiterzumachen, wie wir in der letzten Zeit ganz besonders das machen, indem wir die Luft und das Wasser, die Meere, die Wälder und den Boden, alles eigentlich, aus einer Art Raubtier- und Profitgier heraus alles kaputt machen. Diese ökologische Dimension von Weihnachten ist noch viel zu wenig irgendwie erkannt, wird viel zu wenig beachtet.“[43]

 

In das „Evangelische Gesangbuch“ in Deutschland hat ein Lied von Kurt Marti Aufnahme gefunden, das mit den Worten „Der Himmel der ist“ beginnt und dessen dritter Vers die ganz andere Globalisierung besingt: „Der Himmel, der kommt, das ist die Welt ohne Leid, wo Gewalttat und Elend besiegt sind.“[44] Und hoffnungsvoll heißt es im fünften Vers: „Der Himmel, der kommt, grüßt schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben verändert.“

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

Weitere Beiträge der Reihe "Ökumenische Porträts" finden Sie auf der Seite "Ökumenische Porträts". 



[1] Eva Christina Zeller: Ist Weihnachten „zerzählt“?, Kurt Marti – Prediger und Lyriker, Südwestfunk, Beitrag am 26.12.2004

[2] Ebenda

[3] Kurt Marti, Porträt im Munzinger Archiv, www.munzinger.de

[4] Zitiert nach: Die schwebende Leichtigkeit der Sprache, ekd.de, 30.1.2011

[5] Vgl. Christian Feldmann: Theologe der Zärtlichkeit, Kurt Marti, Pfarrer und Poet, Sendereihe Glaubenssachen, NDR Kultur, Norddeutscher Rundfunk, 6.2.2111

[6] „Glitzerstaub der Erinnerung“, Interview mit Kurt Marti, WOZ, 23.10.2008

[7] Zitiert nach: Stefan von Bergen: „Solange man sich ärgert, lebt man“, Tagesanzeiger, 30.1.2011

[8] Vgl. Der Krustenaufbrecher, Der Pfarrer und Autor Kurt Marti wird 90, www.reformiert-info.de, 28.1.2011

[9] Zitiert nach: Stefan von Bergen: „Solange man sich ärgert, lebt man“, Tagesanzeiger, 30.1.2011

[10] Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit, Spätsätze, Stuttgart 2010, S. 30

[11] Vgl. Der sanfte Aufklärer, Neue Züricher Zeitung, 6.3.2010

[12] Interview mit Kurt Marti, „Gott ist kein Monopolist“, St. Galler Tageblatt, 24.12.2010

[13] Zitiert nach: Christian Feldmann: Theologe der Zärtlichkeit, a.a.O.

[14] Ebenda

[15] Vgl. Der Krustenaufbrecher, Der Pfarrer und Autor Kurt Marti wird 90, www.reformiert-info.de, 28.1.2011

[16] Interview von Hansjörg N. Schultz mit Kurt Marti, „Gott taugt nicht für ein Duzverhältnis“, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 16.5.1997

[17] Vgl. Fredi Lerch: Kraftvolle Poesie des klaren Worts, in WOZ, 34/2002

[18] Zitiert nach: Stefan von Bergen: „Solange man sich ärgert, lebt man“, Tagesanzeiger, 30.1.2011

[19] Vgl. Christian Feldmann: Theologe der Zärtlichkeit, a.a.O.

[20] Eva Christina Zeller: Ist Weihnachten „zerzählt“?, a.a.O.

[21] Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit, Spätsätze, Stuttgart 2010, S. 9

[22] Ebenda, S. 11

[23] Interview mit Kurt Marti „Ich glaube nicht, dass ich auferstehe“, Berner Zeitung, 3.4.2010

[24] Zitiert nach: Charles Linsmayer: Die letzte Hoffnung ist der Regenwurm, Der Bund, 16.9.2010

[25] Zitiert nach: Bernward Kalbhenn: „Morgen, Kinder wird’s nicht geben!“, Wider die falschen Weihnachtsbilder, ein Gespräch mit Karl-Josef Kuschel, Publik-Forum, 23/2002, S. 73

[26] Kurt Marti: Schon wieder heute, Darmstadt 1982, S. 22

[27] Interview mit Kurt Marti, „Gott ist kein Monopolist“, St. Galler Tageblatt, 24.12.2010

[28] Kurt Marti: Schon wieder heute, a.a.O., S. 85

[29] Ebenda, S. 87

[30] Ebenda, S. 88

[31] Vgl. zur Interpretation des Textes auch: Karl-Josef Kuschel: Das Weihnachten der Dichter, Düsseldorf 2004, S. 219f.

[32] Kurt Marti: Wohin mit meiner Wut?, in: Walter Jens: Frieden, Die Weihnachtsgeschichte in unserer Zeit, Stuttgart 1981, S. 83

[33] Ebenda, S. 85

[34] Ebenda, S. 87

[35] Ebenda, S. 88

[36] Ebenda, S. 89

[37] Ebenda

[38] Ebenda, S. 91

[39] Zitiert nach: Karl-Josef Kuschel: Das Weihnachten der Dichter, a.a.O., S. 221

[40] Ebenda

[41] Ebenda, S. 222

[42] Eva Christina Zeller: Ist Weihnachten „zerzählt“?, a.a.O.

[43] Ebenda

[44] Lied Nr. 153 im Evangelischen Gesangbuch