Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Ein theologischer Neuanfang fern der Heimat

 

Darüber, wie die Juden im babylonischen Exil gelebt haben, erfahren wir in der Bibel wenig Konkretes. Rainer Albertz schreibt in seinem Standardwerk über „Die Exilszeit“: „So breit in der Hebräischen Bibel das Exil in seiner theologischen Bedeutung reflektiert wird, so dürftig sind ihre Informationen über dessen realgeschichtlichen Ablauf.“[1]

 

Aufgrund der vorhandenen Informationen aus Bibel und Archäologie ist Rainer Albertz zum Ergebnis gekommen: „Entgegen der Metamorphose von der ‚Babylonischen Gefangenschaft‘ muss festgehalten werden, dass die ‚Exulanten‘ weder Kriegsgefangene im modernen Sinne waren, die in Lagern gehalten wurden, noch Sklaven im rechtlichen Sinne, die gekauft und verkauft werden konnten, sondern in ihrer überwiegenden Mehrzahl halbfreie Pächter von Staatsland, wodurch sie an ihre Scholle gebunden, ihre wirtschaftliche Stellung der Krone verdankten und ihr zu Dienst verpflichtet waren.“[2]

 

Wenn dem so war, erging es ihnen deutlich besser als zum Beispiel den nach Assyrien verschleppten Angehörigen des Nordreiches. Besonders für die Mitglieder der Oberschicht aus Juda war der Verlust von Privilegien, Reichtum und sozialem Status allerdings schwer zu verschmerzen, und alle betroffenen Juden mussten mit der traumatischen Erfahrung fertig werden, in ein fremdes Land verschleppt worden zu sein. Und es kam die bereits erwähnte Erfahrung hinzu, dass die Daheimgebliebenen die Situation genutzt hatten, sich das Eigentum der Verschleppten anzueignen, und offenbar nicht mehr mit deren Rückkehr rechneten.

 

Die Exilszeit war die theologisch produktivste Zeit in der Geschichte Israels. Dass lag nicht nur daran, dass die traumatischen Erfahrungen der zurückliegenden Zeit theologisch zu verarbeiten waren. Ebenso wichtig war, dass verschiedene Gruppen von Priestern und Propheten kontrovers darüber diskutierten und ihre jeweiligen Auffassungen niederschrieben, wie es zur Katastrophe kommen konnte, was Gott mit seinem Volk vorhatte und wie das neue Israel nach dem Ende des Exils aussehen sollte.

 

Ein erster wichtiger Schritt war dabei die Klage, die besonders in den Klageliedern des Alten Testaments zum Ausdruck kommt „Der HERR ist gerecht, denn ich bin seinem Worte ungehorsam gewesen. Höret, alle Völker, und schaut meinen Schmerz! Meine Jungfrauen und Jünglinge sind in die Gefangenschaft gegangen. Ich rief meine Freunde, aber sie ließen mich im Stich. Meine Priester und meine Ältesten sind in der Stadt verschmachtet, sie gehen nach Brot, um ihr Leben zu erhalten“ (Klagelieder 1,18-19).

 

Verbunden mit der Klage war bei mehreren Propheten die Überzeugung, dass das jüdische Volk die katastrophale Entwicklung durch eigenes Fehlverhalten ausgelöst hatte. Es blieb nicht bei Klage und Reue, sondern es gelang den Propheten, die eigenen Glaubensgrundlagen so zu interpretieren, dass ein religiöses Leben auch ohne den Tempel in Jerusalem und ohne fest gefügte religiöse Strukturen möglich wurde. Dabei kam den Großfamilien nicht nur sozial, sondern auch religiös eine große Bedeutung zu.

 

Als die Bibel ihre heutige Gestalt annahm

 

Große Teile der fünf Bücher Mose und anderer biblischer Bücher entstanden im babylonischen Exil oder wurden dort neu gestaltet. Welche Ausrichtung die biblischen Texte erhielten, hat Hubertus Halbfas in seinem umfangreichen Buch „Die Bibel“ so zusammengefasst: „Die jüdische Bibel hat ihre heutige Fassung erst nach dem Babylonischen Exil erhalten. Zu dieser Zeit setzten die daran beteiligten Gruppen den Monotheismus als Norm voraus und korrigierten nach diesem Maßstab die gesamte voraufgegangene Tradition.“[3]

 

Es hat sich allerdings als sehr schwierig bis unmöglich erwiesen, genau zu bestimmen, welche Texte und Textpassagen an den Ufern von Euphrat und Tigris geschrieben und welche später hinzugefügt wurden. Unstrittig ist, dass die Verfasser der Schriften im babylonischen Exil das Ziel verfolgten, das auf den ganzen heutigen Nahen Osten verstreute jüdische Volk zusammenzuhalten, und hierfür kam dem Glauben an den einen, einzigen Gott eine zentrale Bedeutung zu. Die Verschleppung der Bevölkerung des Nordreiches und ihre Auflösung in Assyrien waren ein warnendes Beispiel.

 

Die Möglichkeit zu einer erfolgreichen Integration in die babylonische Gesellschaft barg das Risiko einer Assimilierung, selbst wenn man in eigenen Siedlungsgebieten zusammenlebte. Dem stellten sich Priester und Propheten mit aller Kraft entgegen. Es galt mehr denn je, den einen Gott in das Zentrum des Glaubens zu stellen und die fremden Religionen und deren Vertreter entschlossen anzugreifen. Das hat seinen Niederschlag in den vielen biblischen Texten gefunden, die im babylonischen Exil geschrieben oder redaktionell verändert wurden.

 

Durch religiös begründete Traditionen wie die Beschneidung und Speisevorschriften grenzten sich die Juden von der übrigen Bevölkerung des multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Babyloniens ab und bewahrten ihre Identität als Volk. Die Beschneidung war in den Gesellschaften in Palästina und angrenzenden Regionen weit verbreitet, also keine spezifisch jüdische Tradition. Sie wurde aber nicht in Babylonien praktiziert und entwickelte sich deshalb für die jüdische Bevölkerung zu einem Unterscheidungsmerkmal von der übrigen dort lebenden Bevölkerung. Die Beschneidung wurde zu einem Zeichen der Abgrenzung und des Fortbestehens einer eigenen ethnischen und religiösen Identität.

 

Der Alttestamentler Erhard Gerstenberger hat festgestellt, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Existenzweise als Migranten und der Bearbeitung der religiösen Schriften des Judentums besteht: „Den Schwerpunkt der Bearbeitung sehe ich in Babylon. Und das hat mit Migrationsschicksalen zu tun, die man heute ähnlich studieren kann … Sehr typisch ist es, dass sie sich in der neuen Umgebung an alte Gebräuche und Erzählungen klammern, weil sonst alles zerrinnt. Die Exilsgemeinde in Babylonien bestand aus typischen Zwangsmigranten – 5.000 bis 10.000 Menschen nimmt man an.“[4]

 

Grundlagen des Glaubens im Buch Baruch

 

Das Buch Baruch soll, so ist seinen ersten Versen zu entnehmen, im fünften Jahr des Exils in Babylon von Baruch, dem Sekretär des Propheten Jeremia, verfasst worden sein. Aber heute geht man in der Theologie davon aus, dass es in der hellenistischen Zeit im 3. bis 1. Jh. v. Chr. entstanden ist, wobei es möglich erscheint, dass drei vorhandene Texte zu diesem Buch zusammengefügt wurden. Die hebräische Fassung, die es wahrscheinlich gab, ist nicht überliefert, die heutigen Übersetzungen beruhen deshalb auf dem griechischen Text der „Septuaginta“. Das Baruch-Buch zählt im Judentum nicht zu den heiligen Schriften. Auch in die evangelischen Bibeln wurde es nicht aufgenommen, während es für Katholiken und Orthodoxe zur Heiligen Schrift gehört. Der Entstehung des Buches einige Jahrhunderte nach dem historischen Geschehen ist es vermutlich geschuldet, dass Belsazar als Sohn Nebukadnezars bezeichnet wird (Baruch 1,11), während er tatsächlich ein Sohn König Nobanids war. Der Alttestamentler Thomas Hieke kommt in einer Veröffentlichung des Katholischen Bibelwerkes zum Ergebnis: „Somit sind Ort, Zeit und Verfasserschaft des Buches Baruch fiktiv …“[5]

 

Herausragendes Thema des biblischen Buches sind die zentralen jüdischen Glaubensgrundlagen, die den Juden in der Diaspora und in Jerusalem nahegebracht werden sollen. Verbunden wird diese systematische Darstellung des jüdischen Glaubens mit einer schroffen Abgrenzung gegenüber den Göttern von Babel, denen kategorisch die Göttlichkeit abgesprochen wird.

 

Das Exil wird als Zeit der von Gott verordneten Läuterung verstanden, der deshalb im Buch Baruch verkündet: „Sie werden aber in dem Land, in dem sie gefangen sind, in sich gehen und erkennen, dass ich, der Herr, ihr Gott bin. Und ich will ihnen ein verständiges Herz geben und Ohren, die hören. Dann werden sie mich preisen in dem Land, in dem sie gefangen sind, und an meinen Namen denken und sich von ihrer Hartnäckigkeit und von ihren Sünden abkehren“ (Baruch 2,30-33). Nach der Läuterung wird den Verschleppten die Rückkehr in die Heimat und ein ewiger Bund mit Gott verheißen.

 

Grundvoraussetzung dafür ist, dass die Menschen im babylonischen Exil ihrem Glauben treu bleiben: „Nun werdet ihr aber in Babel sehen, dass man auf den Schultern die silbernen, goldenen und hölzernen Götzen tragen wird, vor denen sich die Heiden fürchten. Darum seht euch vor, dass ihr ihnen das nicht nachtut und den Heiden nicht gleich werdet und Furcht vor den Götzen auch euch ergreift. Und wenn ihr seht, wie das Volk vor und hinter den Götzen hergeht und sie anbetet, so sprecht in eurem Herzen: Herr, dich soll man anbeten! Denn mein Engel ist bei euch und will euer Leben erhalten“ (Baruch 6,4-7).

 

Die Götter der Babylonier werden als machtlos dargestellt, die sich nicht einmal vor Rost und Motten schützen können, auch müsste man ihnen den Staub vom Gesicht wischen. Der Götze der Babylonier trage zwar Schwert und Axt, könne sich aber nicht der Räuber erwehren. „Daran sieht man deutlich, dass sie nicht Götter sind. Darum fürchtet sie nicht“ (Baruch 6,15).

 

Die religiösen Zeremonien und Traditionen der Babylonier werden auf die denkbar negativste Weise dargestellt. Dies betrifft auch die Rolle der gläubigen Frauen: „Die Jungfrauen aber sitzen an den Wegen, mit Stricken umgürtet, und räuchern Kleie. Und wenn jemand vorübergeht und eine von ihnen mitnimmt und bei ihr schläft, verspottet sie die andere, weil diese nicht so wert gewesen sei wie sie und ihr der Gürtel nicht gelöst wurde. Alles, was mit den Götzen geschieht, ist nichts als Betrug. Wie soll man sie denn für Götter halten oder so nennen?“ (Baruch 6,43-45). Es folgen weitere Verspottungen der Götter Babylons, die mit Vogelscheuchen verglichen werden, die im Garten nichts bewachen können (Baruch 6,70).

 

Babylon und den anderen babylonischen Städten wird ein schreckliches Ende vorhergesagt: „Unglücklich sollen die Städte werden, denen deine Kinder gedient haben, und unglücklich die Stadt, die deine Kinder gefangen hält. Denn wie sie über deinen Fall gejauchzt und über dein Verderben sich gefreut hat, so soll sie betrübt sein, wenn sie selbst verwüstet wird“ (Baruch 4,32-33). Wenn wir davon ausgehen, dass das Buch lange Zeit nach der Eroberung Babyloniens durch die Perser entstanden ist, handelt es sich hier nicht um eine Prophezeiung im eigentlichen Sinne, sondern der bereits erfolgte Niedergang der Stadt wird zum Beweis für die allumfassende Macht Gottes. Ein Kernsatz des ganzen Buches lautet: „Das ist unser Gott, und keiner ist ihm zu vergleichen“ (Baruch 3,36).

 

„Suchet der Stadt Bestes“

 

Geht es im Buch Baruch um die Fundamente des eigenen jüdischen Glaubens in Abgrenzung zu den Göttern anderer Völker und besonders der Babylonier, setzt der Prophet Jeremia andere Akzente. Er ermutigte die Juden im Exil, sich positiv auf das Leben im Exil einzustellen und daraus das Beste zu machen: „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl“ (Jeremia 29,5-7).

 

Jeremia betont hier das Eigeninteresse der Juden am Wohlergehen des Landes ihres Exils. Es besteht also kein Widerspruch zu den vielen negativen Bemerkungen über Babylon in anderen biblischen Texten, sondern Jeremia ermutigt die Juden im Exil zu einem Arrangieren mit Verhältnissen, die kurzfristig nicht zu ändern sind. Da aktiver Widerstand gegen die babylonische Beherrschung aussichtslos erscheint, wie Jeremia mehrfach betont, bleibt nur der Weg, im Exil Häuser zu bauen, wirtschaftlich auf eigene Füße zu kommen und sich zu vermehren.

 

Die Botschaft Jeremias muss trotzdem eine Provokation für viele Juden im babylonischen Exil gewesen sein. Nikolaus Schneider, der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, sagte im September 2010 in einer Bibelarbeit in Karlsruhe über die Aufforderung Jeremias, das Beste der Stadt zu suchen: „Das heißt doch nichts anderes, als sich im fremden Babylon für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen und zugleich dafür zu beten. Das ist nicht leicht zu hören für die Männer und Frauen, die selbst unter der Willkür der Weltmacht leiden, deren Macht auf Vertreibung und gewaltsamer Umsiedlungspolitik fußt. Die Stadt, für die gebetet werden und deren Bestes gesucht werden soll, ist die Stadt der Feinde.“[6]

 

Aber die längerfristige Hoffnung ist nicht aus dem Blick geraten, die Rückkehr in die Heimat. Margot Käßmann hat im März 2013 in einer Predigt über diese Botschaft des Jeremia gesagt: „Auch in der Katastrophe gibt es einen Neuanfang. Eine Rückkehr ist möglich, doch nicht so bald … So wie er selbst mit Gott gehadert hat und dann doch im Gottvertrauen weiter geredet, gehandelt, gelebt hat, so sagt er auch den Verbannten: Seid getrost, es gibt Neuanfang.“[7] Deshalb haben die Exiljuden gewiss alle politischen Veränderungen in Babylonien genau beobachtet und nach Zeichen dafür gesucht, dass eine Rückkehr in die Heimat möglich werden könnte. Dazu zählten vor allem Aufstandsversuche gegen König Nebukadnezar, die Stärkung der Regionen gegenüber der Zentralmacht in der Regierungszeit von König Nabonid und das Erstarken der persischen Gegner der Babylonier. Aber erst einmal galt es, sich auf das Leben im Exil einzustellen.

 

Verdis „Nabucco“ – Familiendrama um einen wahnsinnigen König

 

Er gehört zu den berühmtesten Chorstücken der Opernwelt, der „Gefangenenchor” in Verdis Oper „Nabucco“ und hat unser Bild vom jüdischen Exil in Babylon stark beeinflusst. Als das Werk 1842 in Mailand uraufgeführt wurde, hatten erste archäologische Expeditionen in den Orient das Interesse an dieser Weltregion in Italien geweckt, und Babylon und sein König Nebukadnezar II. (auf Italienisch Nabucodonosor oder abgekürzt Nabucco) waren ohnehin aus der Bibel gut bekannt. Das Libretto von Temistocle Solera entfernt sich allerdings weit von der biblischen Geschichte und noch weiter vom historischen Babylon und seinem berühmten König. Solera stellt stattdessen ein Familiendrama in den Mittelpunkt der Oper. Hauptakteure der Opernhandlung sind neben König Nabucco dessen beiden Töchter Fenena und Abigaille, die sich in denselben Mann verliebt haben, den Juden Ismaele.

 

Während Fenena sich nach der Rettung durch Ismaele entschließt, zum Glauben der Hebräer zu konvertieren, versucht Abigaille, ihre Schwester zu töten und die Königskrone an sich zu reißen. Als sich Nabucco selbst zum Gott erklärt, der für ewige Zeiten von den Menschen angebetet werden will, kommt das göttliche Gericht in Form von Blitz und Donner über den babylonischen König. Er wird wahnsinnig und kann erst auf Heilung hoffen, als er den Gott der Hebräer anbetet. Nabucco lässt danach das Bild von Baal zerstören und den Tempel in Jerusalem wieder aufbauen. Abigaille zieht aus ihrer Niederlage im Kampf um den Thron die Konsequenz und vergiftet sich selbst. Im Sterben bittet sie den Gott der Hebräer um Verzeihung. Ihre Schwester wird vor der drohenden Opferung gerade noch gerettet und kann einstimmen in die Freude des Volkes Israel.

 

Aber vorher erklingt der berühmte „Gefangenenchor“, dessen Text auf den Psalm 137 zurückgeht und die Bitte um Freiheit in Worte und Töne fasst. Der italienische Text von „Va, pensiero“ ist wiederholt ins Deutsche übersetzt worden, die bekannteste Übertragung von Fritz Spieß beginnt mit den Worten: „Teure Heimat, wann sehen wir dich wieder, in Gedanken wir stets bei Dir verweilen.“ Der „Gefangenenchor“ spiegelte Mitte des 19. Jahrhunderts die Sehnsucht des italienischen Volkes nach Freiheit und Einheit wider und wurde erst recht nach der gescheiterten Revolution von 1848 zur inoffiziellen Nationalhymne des Landes. Auch bei der Beerdigung Verdis am 26. Februar 1901 wurde „Va, pensiero“ gesungen, von einem Chor mit 900 Sängern. Dass 300.000 Menschen an der Trauerfeier teilnahmen, ist auch dem berühmten Chorstück zu verdanken, das Verdi für immer mit dem babylonischen König und den jüdischen Gefangenen in Verbindung gebracht hat.

 

Ein Jahrhundert später, Anfang der 1980er Jahre, gab es in Italien sogar ernsthafte Bestrebungen, den „Gefangenenchor“ zur offiziellen Nationalhymne des Landes zu erklären, aber die Initiative scheiterte. So bleibt der Chorgesang weiterhin die inoffizielle Nationalhymne, was der Popularität in Italien und im Rest der Welt keinen Dämpfer versetzt hat.

 

Die Bekehrungsgeschichte des Königs und seiner Tochter sowie das Gebet der sterbenden zweiten Tochter zum Gott der Hebräer weisen keine Ähnlichkeit mit historischen Ereignissen auf. Das wird den meisten Besucherinnen und Besuchern der Opernaufführungen bewusst sein. Und dennoch hat die Oper das negative Bild von König Nebukadnezar und den übrigen Babyloniern gefestigt. Der Glaube der Babylonier erscheint in denkbar negativer Weise, und Rettung gibt es für diese Menschen nur, wenn sie sich zum Gott der Hebräer bekennen.

 

„Uns geht es um die Ehrenrettung von Babylon“

 

Der Philosoph Peter Sloterdijk und der Komponist Jörg Widmann haben ihrer gemeinsamen Oper, die am 27. Oktober 2012 an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt wurde, den Titel „Babylon“ gegeben. In dieser Oper unternehmen sie den Versuch, ein positiveres Babylonbild auf die Bühne zu bringen, als das diejenigen haben, die die Stadt am Euphrat auf die „Hure Babylon“ reduzieren. In einem Interview äußerte Peter Sloterdijk: „An Babylon ist ja eigentlich nichts auszusetzen – es sei denn, man ist noch ein fundamentalistischer Leser des Alten Testamentes. Auch das zeitgenössische Judentum hat sich ja in vieler Hinsicht babylonisiert. Der typische Jude des 20. Jahrhunderts ist ja nicht der Israeli, sondern der New Yorker. Viele Juden leben ja heute lieber in Babylon als im Heiligen Land. Das Heilige Land macht irgendwie fürchterlichen Stress, während Babylon diesen toleranten Pluralismus einer Mischkultur darstellt.“[8] Der Komponist Jörg Widmann hat betont: „Uns geht es um die Ehrenrettung von Babylon.“[9]

 

Die Oper ist in sieben Bilder (plus Vor- und Nachspiel) aufgeteilt, um an die heilige Zahl sieben der Babylonier zu erinnern. Im Zentrum des Geschehens steht die Begegnung der Religionen und Kulturen der Babylonier und der Juden. Historischer Hintergrund ist das jüdische Exil in Babylon. Der Jude Tammu, ein Vertrauter des babylonischen Priesterkönigs, erliegt den Reizen der babylonischen Priesterin Inanna, die in der Oper die freie Liebe verkörpert.

 

Zum Geschehen gehören der – positiv bewertete – Turmbau zu Babel, die Sintflut, das babylonische Neujahrsfest als orgiastisches Ereignis, die Opferung Tammus auf der obersten Plattform des Turms, seine Errettung aus der Unterwelt durch Inanna und der „neue Regenbogen“ als Symbol des Miteinanders unterschiedlicher Kulturen. Mitten in dem bunten Geschehen diktiert Ezekiel, umgeben von einer jüdischen Gemeinde, einem Schreiber die Heiligen Worte, die er von Gott empfangen hat.

 

Dass Babylon unterging, haben die Zuschauer schon in der ersten Szene der Oper erfahren, die zwischen den Ruinen der Stadt spielt. Und im letzten Bild stürzt der Turm aus vier Tonnen Styropor „mit Getöse“ (so die Regieanweisung) zusammen. Ganz kommt das Sündenbabel auch in dieser Oper nicht aus dem Blick. Peter Sloterdijk hat eine Szene der Oper so beschrieben: „Wir haben für den babylonischen Karneval sieben Phalli heraufbeschworen und ihre weiblichen Gegenstücke, allesamt drastisch in Überlebensgröße – was dem Theaterpublikum Gelegenheit gibt, Genitalien im Rang von Hilfsgottheiten zu beobachten.“[10] Ob das der Ehrenrettung Babylons dient? Ein Bezug zum realen Babylon der Antike fehlt jedenfalls.

 

Die Kritiker bewerteten die Oper sehr unterschiedlich. Die österreichische Zeitung „Die Presse“ sprach nach der Uraufführung von einer „Multikulti-Utopie“.[11] Eleonore Büning schrieb in der FAZ, Sloterdijk habe sich intensiv mit Babylon beschäftigt, „und stopfte alles hinein, was das Image eines urbanen Sündenpfuhls ein bisschen aufbessern kann“.[12] Positiv bewertet wurde von der Kritikerin die Musik, vor allem sei der „babylonische Karneval ein großes musikalisches Vergnügen“.

 

Demgegenüber lobte Helmut Mauró in der „Süddeutschen Zeitung“ neben der Musik auch „ein sprachlich und inhaltlich stimmiges Libretto, einen weder banalen noch überfrachteten Plot und … eine atemberaubend bildgewaltige Umsetzung“.[13] Und Mirko Weber schreibt in der „Zeit“ über Halbnacktszenen im Stück von „Tuttifrutti“ und über die Musik von einem „ziemlichen Tiefpunkt in der Neuen Musik unserer Tage“.[14] Man sieht, nicht nur über das historische Babylon kann man unterschiedlicher Auffassung sein, sondern auch über die gleichnamige Oper.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 


[1] Rainer Albertz: Die Exilszeit, a. a. O., S. 66.

[2] Ebenda, S. 88f.

[3] Hubertus Halbfas: Die Bibel, Düsseldorf 2001, S. 31.

[4] „Die wesentliche Arbeit an der Bibel beginnt unter den Persern“, Gespräch mit Erhard Gerstenberger, in: Welt und Umwelt der Bibel, 3/2011, S. 13.

[5] Thomas Hieke: Echos des Exils – Babylon als Szenerie und ‚große Hure“, in: Babylon, Welt und Umwelt der Bibel, 3/2005, S. 41.

[6] Nikolaus Schneider: Bibelarbeit über Jeremia 29,5, 5. Internationaler Gospelkirchentag, Karlsruhe, 11. 9. 2010, auf www.ekd.de

[7] Margot Käßmann: Predigt über Jeremia 20,7-13, Marktkirche Hannover, 3. 3. 2013, auf www.ekd.de

[8] Interview mit Peter Sloterdijk, Mainpost, 17.10.2012.

[9] Zitiert nach: Eva Gesine Baur: Eine Oper über die Stadt der Sünde, Cicero Online, 15.12.2012.

[10] Bayerische Staatsoper: Im Hintergrund summt Babylon, Interview mit Peter Sloterdijk, Magazin der Staatsoper, München 2012, S. 33.

[11] Opernuraufführung: Babylon, eine Multikulti-Utopie, Die Presse, 29.10.2012.

[12] Eleonore Büning: Fette Zeiten in alten Städten, Frankfurter Allgemeine, 29.10.2012.

[13] Helmut Mauró: Jubel über den babylonischen Untergang, Süddeutsche Zeitung, 28.10.2012.

[14] Mirko Weber: Babylon Tuttifrutti, Die Zeit, 31.10.2012.