Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Am Anfang stand ein Epos

 
Menschen haben sich schon vor Jahrtausenden immer neu nach dem Woher, dem Warum und dem Wohin ihres Lebens gefragt und in ihren Mythen und einer Vielzahl von religiösen Texten je eigene Antworten darauf gefunden. Für die Bewohner von Mesopotamien stand fest – das wissen wir aus Keilschrifttexten –, dass die Welt zunächst nur von Göttern bewohnt wurde. Grundlage des Glaubens an den babylonischen Gott Marduk war das Weltschöpfungsepos „Enuma elisch“.[1] Es trägt diesen Namen nach den ersten beiden Worten des Epos „Als oben …“ Der erste Absatz lautet vollständig:

 

 

Als oben der Himmel nicht genannt war,

Und unten die Erde einen Namen nicht trug,

Gab es Apsu, den Uranfänglichen, ihren Erzeuger,

Und Schöpferin Tiamet, die Gebärerin von ihnen allen.

Sie hatten ihre Wasser in eins vermischt,

Ehe sich Weideland verband und Röhricht zu finden war –

Als noch keiner der Götter existierte …[2]

 

Die Welt bestand zunächst nur aus Wasser. Nicht einmal das süße, männliche Wasser Apsu und das salzige, weibliche Wasser Tiamet waren voneinander geschieden. Als diese Trennung erfolgt war und beide aufeinander stießen, entstand Leben. Aber die jungen Götter, die nun gezeugt und geboren wurden, störten durch ihren Lärm den Süßwassergott Apsu. Er zog gegen seine Nachkommen in den Kampf, wurde aber von ihnen getötet. Die durch den Mord erschreckte Göttin Tiamet schuf sich daraufhin Ungeheuer und als neuen Gefährten Kingu, um die jungen Götter zu vernichten.

 

Die jungen Götter drohten von dieser Streitmacht besiegt zu werden, bis der junge Gott Marduk anbot, gegen Tiamet und Kingu zu kämpfen. So lesen wir es jedenfalls in der babylonischen Version dieser weit verbreiteten Geschichte. Marduk stellte die Bedingung, dass er auf Dauer als König aller Götter anerkannt werden müsste. Die Versammlung der jungen Götter stimmte dem zu und forderte Marduk auf, der feindlichen Göttin den Hals abzuschneiden. Mithilfe einer großen Flut gewann Marduk in dem nun folgenden Kampf die Oberhand und besiegte die Göttin des salzigen Wassers. Aus der getöteten Tiamet schuf Marduk als Schöpfergott die Welt und aus Kingu die Menschen, die für die Götter arbeiten sollten. Die erleichterten und dankbaren jungen Götter priesen Marduk nun als „Richter“ und machten ihn für alle Zeiten zu ihrem König. Die Götter erbauten ihrem Retter die Stadt Babylon und als irdische Wohnstatt den Marduk-Tempel Esagila (oder Esagil) im Zentrum dieser Stadt. Der Tempel wurde – nach babylonischem Glauben – zur Heimat aller Götter. Der Tempel bildete zugleich das Zentrum der Welt. Im Epos verkünden die Götter: „Auch wenn die Menschen irgendeinen anderen Gott verehren sollten, ist Marduk der Gott eines jeden von uns!“[3]

 

Die Erhöhung von Marduk zum obersten Gott in der babylonischen Glaubenswelt war nur denkbar nach den militärischen Erfolgen des babylonischen Königs Hammurapi und der Entstehung eines mächtigen Königreiches mit der Hauptstadt Babylon. Zugleich festigte dieses Epos die Überzeugung der Bewohner der Stadt, dass die Götter ihnen einen besonderen Platz in der Geschichte von Menschen und Göttern zugedacht hatten. Das, was wir heute den Mythos Babylon nennen, war geboren – mit ganz konkreten Konsequenzen für die reale Stadt und ihre Machtposition in Mesopotamien. Der Altorientalist Stefan M. Maul schreibt über die historische Verortung des Epos: „Es ist offensichtlich, dass das Enuma elisch den politischen Aufstieg Babylons unter Hammurapi voraussetzt, reflektiert und in den mythischen Uranfang zurückprojiziert. Dem Enuma elisch zufolge ist das von Götterhand erbaute Babylon gar der Mittelpunkt des Kosmos.“[4]

 

Der religiöse Glaube an den Gott Marduk und seine Rolle im Götterhimmel und auf der Erde waren so stark, dass er etliche militärische Niederlagen und Zerstörungen von Babylon überstand. Erst als der Tempel in Trümmern lag und die Stadt jegliche politische und wirtschaftliche Bedeutung verloren hatte, schwand auch der Glaube an Marduk. Wie häufiger in der Weltgeschichte, starb der Glaube zuletzt.

 

Als die Götter nicht mehr arbeiten wollten

 

Die Götter waren, erfahren wir in der mesopotamischen Mythologie, unsterblich,  aber viele von ihnen mussten zunächst im Schweiße ihres Angesichts hart arbeiten, um Nahrungsmittel anzubauen. Das wird im „Atraḫasis-Epos“ erzählt, der etwa 1800 v. Chr. entstand.[5] Da auch antike Mythen um Glaubwürdigkeit bemüht sein mussten, wurden in diesen mesopotamischen Schöpfungsepos genaue und für die damaligen Hörerinnen und Hörer überprüfbare Informationen über die Bedingungen des Ackerbaus an Euphrat und Tigris verwoben. So wurde zum Beispiel dargestellt, wie die Götter in mühsamer Arbeit die Kanäle und Gräben aushoben, durch die die Felder mit Flusswasser versorgt wurden.

 

     Auch die Bearbeitung dieser Felder war mühsam, und so kann es nicht überraschen, dass jene Götter, die hart schuften mussten und keineswegs ein göttliches Leben führten, murrten und aufbegehrten. Die Götter, die für den Kanalbau eingeteilt worden waren, verbrannten aus Protest ihre Tragkörbe und Schaufeln. Es wurde sogar der Plan geschmiedet, den Gott zu erschlagen, der als ihr Aufseher eingeteilt worden war. Der Götterkönig Enlil verschanzte sich daraufhin mit einigen getreuen Göttern in seinem Palast. Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien blieben zunächst ergebnislos, und die göttliche Weltordnung drohte zusammenzubrechen. An dieser Stelle weicht dieses Epos von der „Enuma elisch“-Version der Bewohner       Babylons ab. Denn nach dieser Geschichte war es nicht Marduk, sondern der Gott der Weisheit, der die bahnbrechende Idee hatte, neue Geschöpfe zu schaffen, die die Fronarbeit übernehmen sollten. Diese Menschen sollten aus Lehm sowie aus Fleisch und Blut eines Gottes geformt werden. Dass man dafür ausgerechnet jenen Gott wählte, der das Aufbegehren der Götter gegen die harte Fronarbeit angeführt hatte, sollte sich als Fehler erweisen, denn der rebellische Geist wurde nun auch zu einem Charaktermerkmal der Menschen.

 

Erst einmal waren die Götter, so ist in dem Epos überliefert, großzügig gegenüber den Menschen und lehrten sie alles, was überhaupt auf Gebieten wie der Wissenschaft und der Kunst zu erfahren war. Leider ging bei der später folgenden großen Flut viel von dem Wissen verloren, sodass sich die babylonischen Wissenschaftler später bemühen mussten, dieses Wissen aus alten Keilschriften zu erschließen oder sich auf andere Weise anzueignen. Anders als der Prometheus der Griechen blickten die babylonischen Weltveränderer deshalb nicht nach vorn, sondern auf die Zeit zurück, als die Welt vor der großen Flut gefüllt war mit Ordnung, Wissen und Weisheit. Der Ausspruch in der biblischen Schöpfungsdarstellung „und siehe, es war gut“ hätte auch in dem mesopotamischen Schöpfungsepos einen Platz haben können, selbst wenn es ansonsten deutliche Unterschiede bei den Antworten auf die Frage gibt, wie alles Leben angefangen hat und wie die Menschen auf diese Erde gekommen sind.

 

Schöpfungsgeschichten in der Bibel

 

Im ersten Schöpfungsbericht der Bibel bedeckt Wasser die ganze Erde und steht am Anfang des Lebens. Im zweiten Vers des 1. Buches der Bibel heißt es, „der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser“. Dann trennte Gott das Wasser und das Feste und nannte das eine Meer und das andere Erde. Diese Darstellung kann auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Israeliten an Nil, Euphrat und Tigris gedeutet werden, wo am Ende der jährlichen Überflutungen das Land wieder auftauchte und binnen kurzer Zeit die Pflanzen sprossen. Ohne die Überschwemmungen und die anschließende Trennung von Land und Wasser wären weder eine intensive Landwirtschaft noch die Entstehung der Hochkulturen an diesen Flüssen möglich gewesen. Die Babylonier, Assyrer und Ägypter brachten diese Leben spendenden Ereignisse mit ihren jeweiligen Göttern in Verbindung, die jüdischen Verfasser der biblischen Texte mit dem Wirken des einen Gottes.

 

Bekanntlich enthält die Bibel einen zweiten Schöpfungsbericht, in dem Adam und Eva als erste Menschen geschaffen werden. Zwei der vier Flüsse, die durch den Paradiesgarten strömen und ihn bewässern, tragen die Namen Euphrat und Tigris (1.   Mose 2,14). In beiden biblischen Schöpfungsberichten wurden religiöse Geschichten und Vorstellungen anderer Völker aufgegriffen, sie wurden aber so erzählt, dass sie im Einklang standen mit dem eigenen Verständnis vom Willen und Wirken des einen Gottes. Diese Adaption religiöser Vorstellungen anderer Völker ist keineswegs singulär, sondern die meisten Religionen der Welt sind dadurch geprägt, dass religiöse   Geschichten und Glaubensüberzeugungen benachbarter Völker aufgenommen und dann so erzählt wurden, dass sie in die eigene Glaubenswelt hineinpassten. Bemerkenswert ist aber, dass der Glaube an den Gott der Bibel die Jahrtausende überdauert hat, während die Götter der Babylonier oder der antiken Ägypter heute lediglich noch bei denen auf Interesse stoßen, die sich für Archäologie und Altertumsforschung interessieren.

 

Dazu, dass babylonische Schöpfungstexte in die biblische Schöpfungsgeschichte eingeflossen sind, hat der taiwanesische Theologe Choan-Seng Song in seinem Buch „Theologie des Dritten Auges“ geschrieben: „Für viele Christen war es durchaus keine freudige Überraschung zu entdecken, dass die Schöpfungsgeschichte im 1. Kapitel des Genesisbuches in ihrem Ursprung auf einen mesopotamischen Schöpfungsmythos zurückgeht und damit keineswegs eine Offenbarung des Schöpfungsgeschehens darstellt, die einzig und allein dem Volk Israel zuteil geworden wäre.“[6]

 

Der Garten Eden leidet unter Wassermangel

 

Die Geschichte vom biblischen Paradies entstand wahrscheinlich im babylonischen Exil, und es ist durchaus möglich, dass das Flussdelta von Euphrat und Tigris mit seiner üppigen Vegetation die Schreiber der ersten Bücher der Bibel zu ihrer Darstellung inspiriert hat. Menschen, die aus einem trockenen und staubigen Bergland westlich des Jordan kamen, muss vor allem das anscheinend unendliche grüne Meer der Mündungsarme der beiden Flüsse ins Rote Meer über die Maßen beeindruckt haben.

 

Aber seit einigen Jahrzehnten droht dieses „Paradies“ auszutrocknen. Die ökologischen Folgen der abnehmenden Wassermenge von Euphrat und Tigris zeigen sich besonders drastisch im gemeinsamen Mündungsdelta. Von der früheren Schilfrohrlandschaft von der Größe Sachsen-Anhalts ist nur noch ein kleinerer Teil übrig. Das Feuchtgebiet wurde nach dem ersten Golfkrieg vom Regime Saddam Husseins von Anfang der 1990er Jahre an systematisch trockengelegt, weil sich dort eine größere Zahl schiitischer Rebellen versteckt hatte. Außerdem sollten Vorbereitungen für die leichte Erschließung der Ölquellen der Region getroffen werden. Mit mehr als 30 Dämmen und Kanälen wurde das Wasser von Euphrat und Tigris umgeleitet und das Feuchtgebiet zu 90 Prozent zerstört. Auch viele der ursprünglichen Dörfer wurden vernichtet. Mehr als neun Zehntel der etwa eine halbe Million Bewohner des Deltagebietes flüchteten in andere Teile des Iraks oder in Nachbarländer.

 

Es kam noch schlimmer. 2007 berichtete der irakische Wasserminister Abdul Latif Rasheed in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters, dass das Wasservolumen des Euphrats auf 30 Milliarden Kubikmeter gefallen sei, die Hälfte der Wassermenge vor einigen Jahrzehnten.[7] Grund seien die Staudammbauten in Syrien und der Türkei. Die Situation am Tigris sei etwas günstiger, aber Staudammprojekte des Iran an den Zuflüssen dieses Stroms würden ebenfalls Sorge bereiten.

 

Eine Renaturierung des Marschlandes erweist sich als schwierig, zumal der Wind große Teile der fruchtbaren oberen Bodenschichten weggetragen hat und der Versalzungsgrad der Oberfläche hoch ist. Erfreulicherweise zeigen die ersten Maßnahmen zur Wiederherstellung des Feuchtgebiets trotzdem positive Wirkung. Nicht nur nimmt die Fläche des Marschlandes wieder zu, sondern auch die für diese Region typischen Tierarten sind zurückgekehrt. Manche Wissenschaftler sprechen schon vom „Wunder Mesopotamiens“. Aber Dürren in den letzten Jahren haben die Renaturierungsbemühungen zurückgeworfen. Und die wachsenden kriegerischen Auseinandersetzungen im ganzen Irak erschweren solche Aufbauarbeit stark oder machen sie unmöglich. Muss der Garten Eden bald wegen Wassermangels geschlossen werden?

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann



[1] Es gibt verschiedene Versionen dieser Geschichte, hier wird eine Zusammenfassung wiedergegeben, die Professor Stefan M. Maul in einem Ausstellungskatalog dargestellt hat: Stefan M. Maul: Die Religion Babylons, in: Marzahn, Joachim/Schauerte, Günther (Hrsg.): Babylon Wahrheit, München 2008, S. 167ff.

[2] Zitiert nach: Joachim Marzahn/Günther Schauerte (Hrsg): Babylon Wahrheit, Berlin 2008, S. 22.

[3] Zitiert nach: M. Maul: Altorientalische Schöpfungsmythen, in: Reinhard Brand u. a. (Hrsg.): Mythos und Mythologie, Berlin 2004, S. 47.

[4] Stefan M. Maul: Die Religion Babylons, in: Babylon Wahrheit, a. a. O., S. 168.

[5] Eine Darstellung dieses Mythos hat Stefan M. Maul in dem folgenden Aufsatz entfaltet: Stefan M. Maul: Ringen um göttliches und menschliches Maß, in: E. Hornung/A. Schweizer (Hrsg.): Schönheit und Mass, Basel 2007, S. 169ff.

[6] Choan-Seng Song: Theologie des Dritten Auges, Asiatische Spiritualität und christliche Theologie, Göttingen 1979, S. 50.

[7] Vgl. Iraq calls for water treaty to avert crisis, Reuters, 23.8.2007.

[8] Margarete van Ess: Am Anfang war Uruk, in: Abenteuer Archäologie, 1/2006, S. 66.