Dorothee Sölle - eine fromme und radikale Theologin

 

„Natürlich war meine ‚relecture’ politisch eingefärbt … Und während ich die Stie­­fel des Imperiums in der Geschichte von Bethlehem bis Golgatha alles zertram­peln hörte, was sich ihnen in den Weg stellte, sah ich ja die Flächenbombardements auf den Armenvierteln von San Salvador gleich hinter den glitzernden Auslagen auf der Fifth Avenue in New York.“[1] Mit diesen Sätzen hat Dorothee Sölle beschrieben, wie sie die Bibel neu gelesen und das Geschehen in Bethlehem in Beziehung gesetzt hat zum politischen Geschehen in unserer Zeit. Die mondänen Läden in New York bildeten für sie den Kontrast zum Krieg gegen die Armen von El Salvador in den 1970er und 1980er Jahren, der massiv von den USA unterstützt wurde. Als Dorothee Sölle diese Sätze 1990 schrieb, hatte sie längst ihr Vertrauen in eine akademische Theologie im Elfenbeinturm verloren, und so lesen wir weiter: „Die sozialgeschichtliche Auslegung biblischer Texte erwächst nicht aus der Abstraktion der sich selbst neutral glaubenden Forscher. Sie erwächst unter leidens- und mitleidfähigen Menschen, die nach den Gründen des Elends fragen.“[2] Aus dieser Perspektive gewinnt auch die Geschichte von den Hirten, die Gott preisen und loben, eine neue Bedeutung: „Die Hirten, eben noch verängstigt, werden Boten Gottes. Sie organisieren sich, sie eilen, sie finden und sie sprechen mit anderen. Müssen wir denn alle Hirten wer­den, um den Engel zu Gesicht zu bekommen? Ich denke ja; ohne die Perspektive der Armen sehen wir nichts, und schon gar keine Engel.“[3]

 

Es war ein weiter Weg, der Dorothee Sölle zu einem vernichtenden Urteil über das damalige und das heutige Imperium geführt hat, zur scharfen Kritik an der Gewaltherrschaft des Römischen Imperiums und an heutigem Unrecht mächtiger Staa­­ten. Aber dann formulierte sie unmissverständlich: „Ohne dieses Imperium in seiner ökonomischen und ökologischen Todesmacht zu verstehen, können auch wir das Licht von Weihnachten nicht leuchten sehen.“[4]

 

Der Weg zu einem radikalen Christentum

 

Dorothee Nipperdey wurde am 30. September 1929 in Köln geboren. Ihr Vater war Professor für Arbeitsrecht und Präsident des Arbeitsgerichtes Kassel. Die Eltern standen dem Christentum distanziert gegenüber, traten aber nicht aus der Kir­che aus und die Kinder wurden konfirmiert. Dorothee Sölle bezeichnete später ihr Verhältnis zum Christentum bis zum Abitur 1948 als „kritisch-liberal“.[5] Im Rückblick schrieb sie: „… ich sah wirklich nicht ein, dass man an die Jungfrauengeburt glauben musste, um die Bergpredigt zu verstehen“.[6]

 

Einen neuen Zugang zum christlichen Glauben fand Dorothee Nipperdey in der Oberstufe durch ihre Religionslehrerin Marie Veit, einer kritischen Christin, die mit ihren Schülerinnen und Schülern Texte von Paulus bis Satre las. Später bezeichnete Do­ro­thee Sölle ihre damalige Lehrerin als eine „Theologin der Befreiung“, die nach den Erfahrungen des Faschismus die Notwendigkeit eines anderen Christentums er­kannt hatte.[7]

 

Nach dem Abitur studierte Dorothee Nipperdey von 1949 an zunächst Deutsch, Alte Sprachen und Philosophie in Köln. In dieser Zeit las sie mehrfach das Tagebuch von Anne Frank, und in ihr wuchs „das Grundgefühl … einer unauslöschlichen Scham: zu diesem Volk zu gehören …“[8] Sie entschloss sich, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben und begann 1951 mit dem Theologiestudium in Göttingen. Aber ihr war die dort gelehrte Theologie zu akademisiert. Nur Professor Friedrich Gogarten brachte sie weiter auf ihrem theologischen Weg. Ralph Ludwig hat das in seiner Sölle-Biografie „Die Prophetin“ beschrieben: „Es waren gar nicht die theologischen Grundlagen, die Sölle von Gogarten übernommen hat. Vielmehr ist er in anderer Weise ihr großer Lehrer geworden: darin, dass er die Studenten zu einem eigenen, verantworteten Denken aufforderte, sie das Staunen über die Wirklichkeit lehrte, in der mehr möglich ist, als unser enger Horizont uns erlauben will.“[9]

 

Für den theologischen Weg der Studentin wurden auch die Begegnung und der Austausch mit Rudolf Bultmann wichtig. Durch ihn wurde sie dazu ermutigt, den Verstand nicht an der Kirchentür abzugeben. Dorothee Nipperdey befasste sich in­tensiv mit Bultmanns Programm der Entmythologisierung. 1971 veröffentlichte sie das Buch „Politische Theologie“, dem sie den Untertitel „Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann“ gab. Sie hat sehr klare, oft radikale Konsequenzen aus einer aufgeklärten Bibellektüre gezogen, und sie hat für eine neue Sprache plädiert, die nicht hinter die Aufklärung zurückfällt, aber auf der Einsicht beruht, dass große Theologie „immer das Erzählen und Beten geübt hat“.[10] Und diese neue Sprache eröffnet dann auch einen neuen Zugang zum Glauben. Es ging der Befreiungstheologin von nun an um „einen dritten Schritt, der aus dem naiven Glauben über die befreiende entmythologisierende Kritik zur Wiederaneignung der im Mythos versprochenen Hoffnung für alle Menschen führt“.[11]

 

Der allmächtige Gott ist tot

 

1954 machte Dorothee Nipperdey ihr Examen in Theologie und Literaturwissenschaft und wurde Lehrerin an einer katholisch geprägten Mädchenschule in Köln. Im Religionsunterricht machte sie – und das war damals eine große Seltenheit – die Erfahrungen der Nazizeit zum Thema. Politisch engagierte sich die Lehrerin in der Friedensbewegung gegen die deutsche Wiederbewaffnung und beteiligte sich an Ostermärschen. Parallel arbeitete sie an ihrer literaturwissenschaftlichen Doktorarbeit. 1954 heiratete sie den Maler Dietrich Sölle, eine Ehe von zwei sehr unterschied­lichen Menschen, die nach einem Jahrzehnt, drei Jahre nach der Geburt des dritten Kindes, zu Ende ging. Die junge Theologin entschied sich, ihre Lehrerinnenstelle aufzugeben, um sich ganz darauf zu konzentrieren, Beiträge für Zeitschriften und Rundfunksender zu ver­fassen und für ihre Kinder da zu sein.

 

Dann nahm Dorothee Sölle doch wieder eine feste Stelle an, als Assistentin am Philosophischen Institut der Technischen Hochschule in Aachen. Nach zwei Jahren wechselte sie an die Universität Köln. 1965 erschien ihr erstes grundlegendes theologisches Buch, das durch den Untertitel als Provokation empfunden wurde: „Stellvertretung – Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“. In dem 200-seitigen Buch wird dieser Untertitel präzisiert. Für Dorothee Sölle ist der allmächtige Gott tot. Aber von nun an wurde das Schlagwort „Gott ist tot“ von ihren Kritikern und Gegnern mit Dorothee Sölle in Verbindung gebracht.[12]

 

Das politische Nachtgebet

 

1967 fanden sich evangelische und katholische Christinnen und Christen im Kölner Raum zu einem Freundeskreis zusammen, darunter der Benediktinermönch Fulbert Steffens­ky, Marie Veit und Dorothee Sölle. Ging es zunächst um theologische Fragen im engeren Sinne, traten bald politische Themen stärker in den Vordergrund, vor allem der Vietnamkrieg. 1968 wollte der Kreis beim Ka­tholikentag in Essen stärker an die Öffentlichkeit treten und meldete eine Ver­an­staltung zur Situation in der Tschechoslowakei (Stichwort: „Prager Frühling“) an. Die Veranstalter des Katholikentages waren bereit, die Veranstaltung ins Programm aufzunehmen, aber nur spätabends. Deshalb fand das „Nachtgebet“ erst um elf Uhr abends in einer katholischen Kirche statt und wurde trotzdem von zahlreichen Menschen besucht. Dorothee Sölle hat den Ablauf dieses und der weiteren „Nachtgebete“ so beschrieben: „Es handelte sich dabei um politische Information, um ihre Konfrontation mit biblischen Texten, eine kurze Ansprache, Aufrufe zur Aktion und schließlich die Diskussion mit der Gemeinde. Information, Meditation und Aktion sind d­ie Grund­ele­mente aller folgenden Nachtgebete geblieben.“[13]

 

Bald waren die „Politischen Nachtgebete“ eine regelmäßige Veranstaltung, von der katholischen Amtskirche attackiert und von vielen Persönlichkeiten wie dem Schriftsteller Heinrich Böll vehe­ment unterstützt. Die allmähliche Auflösung der Gruppe führte dazu, dass die Reihe der „Poli­tischen Nachtgebete“ 1972 beendet wurde.

 

Lernende und Lehrende der weltweiten Ökumene

 

In dieser Zeit stand Dorothee Sölle im Gespräch mit bedeutenden Denkern wie Martin Buber, Kurt Marti, Heinrich Böll – und Fulbert Steffensky, den sie 1969 heiratete. 1970 wurde ihr gemeinsames Kind Mirjam geboren. Trotz der zusätzlichen Belastung als Mutter stellte Dorothee Sölle ihre Habilitationsschrift über das Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung fertig. Aber der öffentliche Vortrag und das Prüfungsgespräch führten zum Eklat. Vor allem wegen ihrer unbequemen Auffassungen bestand sie die Prüfung nicht und musste sie nach einem Vierteljahr wiederholen, diesmal erfolgreich. Aber der Vorgang ließ bereits ahnen, dass der frisch Habilitierten die Türen zur akademischen Welt in Deutschland nicht offenstanden, sondern fest verriegelt blieben. Nie wurde die international bekannte Theologin auf einen Lehrstuhl einer deutschen Universität berufen. 1994 erhielt sie wenigstens von der Universität Hamburg eine Ehrenprofessur.

 

Von den 1970er Jahren an lernte Dorothee Sölle die Realität im Süden der Welt durch Reisen nach Vietnam und Lateinamerika kennen. Besonders die lateiname­rikanische Befreiungstheologie hat sie stark beeinflusst. Aber auch theologische Aufbrüche auf anderen Kontinenten nahm sie wahr und ernst. Die Antikriegs­be­wegung in den USA hat sie tief beeindruckt und ihr eigenes Friedensengagement verstärkt.

 

Mit dem Buch „Sympathie“ stellte sich Dorothee Sölle auf die Seite der vietnamesischen Opfer der Napalmangriffe der USA, bezeugte ihre Sympathie für revolutionäre Veränderungen und versuchte, theologische Begriffe wie Nächstenliebe und Gnade neu zu bestimmen.

 

Parallel zu politischen und theologischen Analysen veröffentlichte Dorothee Sölle auch zahlreiche Gedichte und sprach mit ihrer „Theopoesie“ viele Menschen an und aus dem Herzen. „Um wirklich Theologie zu betreiben, brauchen wir eine andere Sprache. Poesie und Befreiung ist für mich ein Lebensthema. Immer wenn ich längere Zeit kein Gedicht geschrieben habe, fehlt mir etwas.“[14]

 

1975 nahm Dorothee Sölle die Berufung zur Professorin an die angesehene Hochschule „Union Theological Seminary“ in New York an. Es traf sich gut, dass ihr Mann Fulbert Steffensky, damals Professor für Religionspädagogik in Hamburg, eben­falls eine Gastprofessur in den USA erhielt. 1977 kehrte die Familie nach Hamburg zurück, und Dorothee Sölle unterrichtete von nun an ein Jahrzehnt lang jeweils drei Monate im Jahr am „Union Theological Seminary“. Das übrige Jahr hatte sie Zeit für Vorträge in Deutschland und für ihre publizistische Arbeit.

 

In den USA konnte Dorothee Sölle sich mit feministischen Auffassungen beschäftigen und entwickelte eigene Positionen. Gemeinsam mit Professorin Luise Schottroff setzte sie sich intensiv mit biblischen Texten und Traditionen ausein­ander. Zu den gemeinsamen Veröffentlichungen gehört das Buch „Jesus von Na­za­ret“, das in leicht verständlicher Form einen fundierten Zugang zum Leben und zur Botschaft Jesu ermöglicht. Die Verfasserinnen bezeichnen die Legenden um die Geburt Jesu als Legenden, aber sie legen sie damit nicht ad acta, sondern vermit­teln, welche Bedeutung sie als Legenden für heutige Christinnen und Christen ha­ben.[15]

 

Enttäuschung über die Kirche in Deutschland

 

Groß war immer wieder Dorothee Sölles Enttäuschung über ihre Kirche, sodass sie im Juli 1983 in einem Interview sagte: „Ich bin unglücklich über die westdeut­sche Kirche, die eine der reichsten und der substanzlosesten Kirchen ist, die es gibt.“[16] Sie hat aber nie die Hoffnung auf eine Erneuerung und auf einen Aufbruch dieser Kirche verloren. Die Kirche ihrerseits hat Dorothee Sölle oft „links liegengelassen“.

 

Das war zum Beispiel der Fall, als der Ökumenische Rat der Kirchen sie einlud, bei der ÖRK-Vollversammlung in Vancouver 1983 einen Vortrag zu halten. Ein führender Ver­treter der evangelischen Kirchen in Deutschland beeilte sich, im ÖRK-Exe­ku­tivausschuss zu betonen, dass Dorothee Sölle nicht für die deutschen Kirchen sprechen werde, und es gab erbitterten Widerstand der deutschen Kirchenvertreter gegen diese ÖRK-Ent­scheidung. Ihr Vortrag selbst löste bei den deutschen Kirchenoberen heftigen Widerstand aus.

 

Fromm und radikal sein

 

Dorothee Sölle hat eine Sprache gefunden, mit der sie viele Menschen erreichen konnte, die der Kirche schon den Rücken gekehrt hatten. Sie analysierte nicht nur scharf die Missstände in Gesellschaft und Kirche, sondern sie machte den Men­schen auch Mut, sich zu engagieren, damit mitten in dieser Welt ein Stück vom Reich Gottes verwirklicht werden kann.

 

Sie lernte viel von der lateiname­ri­ka­ni­schen Befreiungstheologie und vom Aufbruch von Menschen im Süden der Welt, die den globalen Status quo nicht länger hin­nehmen wollten. Die Befreiungstheologie hat ihr auch geholfen, die Bibel neu zu lesen und die biblischen Geschichten und Verheißungen ganz konkret in Beziehung zu setzen zum Alltag in dieser Welt. Das gab ihr auch angesichts von unüberwindbar scheinendem Unrecht und unvorstellbarer Gewalt die Hoffnung auf ein anderes Leben, eine andere Welt. Fromm und radikal zu sein, gehörte für Dorothee Sölle zusammen.

 

Mystik und Befreiung

 

Immer stärker hat Dorothee Sölle die Bedeutung der Mystik erkannt und den engen Zusammenhang von Mystik und Befreiung herausgestellt. Als Beispiel dafür hat sie die Urgemeinde angesehen, „die sich gegen das Imperium behaupten musste. Auf sie haben sich die aufrührerisch-mystischen Bewegungen aller Epochen be­rufen … Die Urgemeinde verweigerte sich bestimmten gesellschaftlichen Ange­boten und Zwängen des Imperiums. Abstinenz, Distanz, Dissens, Widerspruch und Widerstand flossen in dieser Minderheitskultur zusammen. Und genau an diesen Formen des ‚Neins’ zur herrschenden Kultur orientierten sich auch spätere Dissidenten. Zu ihnen inspiriert auch eine Mystik, die selbst dort, wo sie sich extrem individualistisch gibt, zur Gemeinschaft befähigt.“[17] Es kann nicht überraschen, so lernen wir von Dorothee Sölle, dass Mystikerinnen und Mystiker im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder verfolgt worden sind und zwar sowohl von den poli­tisch Mächtigen als auch den kirchlich Mächtigen.

 

Der mystische Satz „Gott ist das Nichts, das alles werden will“ hat für Dorothee Sölle in der heutigen Zeit eine neue Bedeutung gewonnen: „In unserer westlichen Welt ist Gott zum Nichts geworden, zum unwesentlichen, kraftlosen Erbe unserer Vergangenheit. Mehr wird ihm im Würgegriff von Globalisierung und Individualisierung nicht mehr zugestanden.“[18] In dieser Hinsicht gäbe es Parallelen zur Zeit des Neuen Testaments. Die Verfasser neutestamentlicher Texte hätten dies als „im Tode sein“ bezeichnet, wobei mit Tod die Unterwerfung unter die beherrschende Macht gemeint war.

 

Die Mystik des Todes

 

In ihrem letzten Interview erwähnte Dorothee Sölle, dass sie an einem Buch über die Mystik des Todes schrieb.[19] Dieses Buch hat sie nicht mehr vollenden können. Am 27. April 2003 starb Dorothee Sölle in einem Krankenhaus in Göp­pingen, nachdem sie auf einer Tagung in Bad Boll einen Herzinfarkt erlitten hatte. Thema der Tagung war „Gott und das Glück“.

 

Renate Wind, Professorin an der Evangelischen Fachhochschule in Nürnberg, hat zur herausragenden Bedeutung Dorothee Sölles geschrieben: „Sie hat Wegzeichen der Hoffnung gesetzt für alle, die aufbrechen wollten in das gelobte Land der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, und die sich stattdessen oft genug in der Wüste wieder fanden. Sie hat unsere Befreiungs- und Emanzipationsprozesse in ihrer Widersprüchlichkeit begleitet und dem Widerstand gegen die Struk­turen der Gewalt und der Ausbeutung eine spirituelle Dimension gegeben, die über die Erfolge und Niederlagen des Tages hinausreicht.“[20] Und in ihrer Ansprache bei der Trauerfeier für Dorothee Sölle bezeichnete die Lübecker Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter sie als „eine der großen Frauen unserer Zeit“ und betonte, dass vielen „die lebendige, prophetische und poetische Stimme dieser Frau schmerzlich fehlen wird.“[21]

 

Der Frieden der Weihnachtsgeschichte

 

„Die Weihnachtsgeschichte handelt von zwei Arten von Frieden“, hat Dorothee Sölle in einem Beitrag für den Band „Frieden – Weihnachtsgeschichte in unserer Zeit“ geschrieben, der 1981 von Walter Jens herausgegeben wurde. Da ist auf der einen Seite der Friede des Kaisers: „Steuerlisten, Eintragung, Volkszählung sind die Wörter, mit denen dieser Frieden beschrieben wird. Die Verwaltung des Römischen Reiches nimmt die unterworfenen Bewohner unter Kontrolle.“[22] Dorothee Sölle stellte das römische System der Herrschaft in Beziehung zur amerikanischen Hegemonie in der heutigen Welt: „Man muss sich die Pax Romana vorstellen als ein in das Leben jedes Menschen eingreifendes Weltsystem, in dem die Menschen so gefangen sind wie wir heute unter der Pax Americana. Im Zentrum des ‚Friedens’, wie die Weltordnung auch damals genannt wurde, im geopolitischen Zentrum herrscht materieller Überfluss, maßlose Gier nach neuen Waren und Genüssen, mo­ra­lische Korruption und seelische Leere und Empfindungslosigkeit. An den Rän­dern dieser Ordnung, in den beherrschten Provinzen, herrscht unvorstellbares Elend, Mangel an den einfachsten Notwendigkeiten wie Wasser, Obdach, Arbeit und Bildung und dabei eine apathische Hoffnungslosigkeit.“[23]

 

Diesem Frieden der Herrschenden steht für Dorothee Sölle ein anderer Frieden gegenüber, der in den entfernten Provinzen und dort bei den Verarmten beginnt: „Der neue, andere Frieden bringt die Armen von der Hoffnungslosigkeit zu der großen Freude, ‚die bald das ganze Volk ergreifen wird’.“[24] Das hat Konsequenzen für unser Leben als Christin oder Christ: „Wenn wir glaubwürdig leben … leuchtet der helle Schein, der Abglanz Gottes, der das Licht aus der Finsternis hervorkommen ließ, aus unseren Herzen. Wir werden einbezogen in den Frieden der Weih­nachtsgeschichte, die etwas anderes verspricht als der staatlich verordnete Gewaltfrieden.“[25]

 

In der Weihnachtsgeschichte ist die Verkündigung an die Hirten eine Hoffnungsbotschaft: „… sie haben mehr zu erwarten, als was die Pax Romana ihnen verspricht. Genauso heute: Den Armen in den Slums und Favellas wird der Friede Christi versprochen und nicht das Zugrundegehen unter der euro-ame­ri­kanischen Weltherrschaft.“[26] Wenn es in der Weihnachtsgeschichte „Fürchte dich nicht“ heißt, wer wird dann angesprochen? Nach Überzeugung von Dorothee Sölle sind das „vor allem die, denen Unrecht geschieht, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, die arm sind oder bedroht, verlassen oder verängstigt. Die hochschwangere ledige Mutter Maria und Josef, der ihr keine anständige Unterkunft be­zahlen kann. Die Hirten, nicht die Könige. Die Unrecht leiden und nicht die, die vom Unrecht profitieren.“[27]

 

Für Dorothee Sölle ist die Weihnachtsgeschichte eine Hoffnungsgeschichte, wenn wir glaubwürdig das leben, was wir in dieser Geschichte lesen: „Da leuchtet der helle Schein, der Abglanz Gottes, der das Licht aus der Finsternis hervorkom­men ließ, aus unseren Herzen. Wir werden hineingezogen in den Frieden der Weih­nachtsgeschichte …“[28] Diese Erleuchtung muss öffentlich sichtbar werden, war Dorothee Sölle überzeugt. Deshalb müssen sich die Christen und ihre Kirche in der Gesellschaft und in der Politik einmischen, auch wenn dadurch Konflikte entstehen. Die Kirche darf sich nicht auf den engen Bereich von Seelsorge und Verkündigung beschränken, lautet eine Erkenntnis der Theologin aus der Weihnachtsgeschichte.

 

Der Frieden für alle, von dem wir in der Weihnachtsgeschichte lesen, war Doro­thee Sölle überzeugt, hat auch Konsequenzen für das christliche Leben. Das eigene Leben bekommt ein Ziel, und die eigenen Bedürfnisse ändern sich. „Du findest etwas, wofür zu leben sich lohnt, mit anderen zu­sammen, du machst dich auf den Weg mit den Hirten, die zu den Ärmsten der Armen gehörten.“[29]

 

Wer etwas von dem Licht von Weihnachten erzählen will, „muss die verschüttete Sehnsucht der Menschen ausgraben“.[30] Dorothee Sölle war überzeugt, dass die sozialge­schichtliche Auslegung der Bibel unsere Sehnsucht nach wirklichem Frieden vertieft, „der keine andere Grundlage haben kann als ökonomisch-ökologische Gerechtigkeit. Diese grundlegende Arbeit der Benennung der Alternative zur pax romana und zum Modell Deutschland ist Aufgabe der Kirchen an Weihnachten.“[31]

 

Bei jungen Leuten in der westlichen Welt nahm Dorothee Sölle den Wunsch nach dem anderen Leben wahr, „die Sehnsucht nach Umkehr zum wirklichen Leben, die aus der Verzweiflung über das sogenannte Machbare kommt.“[32] Doro­thee Sölle forderte ihre Leserinnen und Leser auf: „Kehrt um!“ Die Befreiungstheologin hat uns eingeladen, der Verheißung der Engel zu folgen, uns nicht zu fürchten und uns auf den Weg zu dem Frieden zu machen, der auf Gerechtigkeit beruht.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

Weitere Beiträge der Reihe "Ökumenische Porträts" finden Sie auf der Seite "Ökumenische Porträts". 

 



[1] Dorothee Sölle: Sozialgeschichtliche Bibelauslegung zum Weihnachtsevangelium, Junge Kirche 11/1990, S. 641

[2] Ebenda

[3] Ebenda

[4] Ebenda

[5] Vgl. Dorothee Sölle: Gegenwind, Erinnerungen, München 1999, S. 29

[6] Ebenda

[7] Ebenda, S. 39

[8] Zitiert nach: Ralph Ludwig: Die Prophetin, a.a.O., S. 27

[9] Ebenda, S. 32

[10] Dorothee Sölle: Gegenwind, a.a.O., S. 59

[11] Ebenda, S. 60

[12] Vgl. hierzu: Ralph Ludwig: Die Prophetin, a.a.O., S. 43ff.

[13] Dorothee Sölle: Gegenwind, a.a.O., S. 71f.

[14] Ebenda, S. 286

[15] Dorothee Sölle und Luise Schottroff: Jesus von Nazaret, München 2000, S. 9ff.

[16] Interview mit Dorothee Sölle, in Hamburger Rundschau, 21.7.1983

[17] Dorothee Sölle: Die Macht des Nichts, Evangelische Kommentare, 4/1999, S. 25

[18] Ebenda, S. 24

[19] „Gott ist im Nächsten versteckt“, Gespräch mit Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky, Junge Kirche 3/2003, S. 10

[20] Renate Wind: Von Gott reden in einer Welt von Gewalt, a.a.O., S. 45

[21] Bärbel Wartenberg-Potter: „Ein Tropfen im Meer der Liebe Gottes, Junge Kirche, 3/2003, S. 3

[22] Dorothee Sölle: Gewaltfrieden oder Gottes Frieden, in: Walter Jens (Hrsg.): Frieden – Die Weihnachtsgeschichte in unserer Zeit, Stuttgart 1981, S. 95

[23] Ebenda, S. 95f.

[24] Ebenda, S. 96

[25] Ebenda, S. 98

[26] Ebenda, S. 101f.

[27] Ebenda, S. 109f.

[28] Ebenda, S. 98

[29] Ebenda, S. 100

[30] Dorothee Sölle: Sozialgeschichtliche Bibelauslegung zum Weihnachtsevan­ge­lium, Junge Kirche, 11/1990, S. 641

[31] Ebenda

[32] Dorothee Sölle: Gewaltfrieden oder Gottes Frieden. a.a.O., S. 103