Die Auseinandersetzung mit den globalen Mächten in Zeiten des Alten Testaments

 

Die meisten Völker besitzen Schöpfungsmythen, und mit der Frage des Woher ist immer auch schon viel über das Wohin ausgesagt. Schöpfungsmythen sollen also Antworten geben auf die Frage nach der Entstehung des Lebens und dem Ziel des Lebens. Die Bibel enthält gleich zwei Schöpfungsgeschichten, und wie viele ähnliche Geschichten erzählen sie nicht nur von der Entstehung des eigenen Volkes und seines Lebensraums, sondern die ganze Erde ist im Blick. Dass die beiden sich widersprechenden Schöpfungsberichte gleich aufeinander folgen, kann von vornherein den Eindruck beseitigen, hier handle es sich um historische Berichte und den Blick dafür öffnen, dass jeder von ihnen und beide zusammen uns dem Geheimnis Gottes und seiner Schöpfung näher bringen können.[1]

 

Gerade im Zeitalter der Globalisierung haben uns die beiden Schöpfungsberichte viel zu sagen, wie zum Beispiel aus der Streitschrift des „Ausschusses für den Dienst auf dem Lande in der Evangelischen Kirche“ zu entnehmen ist: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Theologisch gesehen ist ‚Globalisierung’ eine Selbstverständlichkeit. Die Bibel setzt die Einheit der Erde und die unbeschränkte Geltung der Gebote Gottes in dieser Welt voraus. Die Schöpfungsberichte am Anfang der Bibel fassen diesen Glauben zusammen: Wir leben in einer von Gott geschaffenen Welt, die den Menschen zur Bebauung und Bewahrung anvertraut ist ... Immer wieder heißt es in dem Schöpfungsbericht nach jedem Schöpfungstag: ‚ein jedes nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.’ Gott wollte bewusst eine vielseitige Welt, er wollte die Artenvielfalt. Er freute sich an der Schönheit und Ausgewogenheit. Lieben wir unseren Schöpfer, müssen wir seine Liebe an der Vielfalt des Lebens teilen.“[2]

 

Nach einer Analyse des heutigen Umgangs mit der Schöpfung heißt es dann: „Wir fassen zusammen: Globalisierung bedroht Gottes Gabe des Lebens in Vielfalt, weil der Widerspruch zwischen Ökonomie und Ökologie auf globaler Ebene ungelöst ist und die menschliche Ordnung der ‚freien Weltwirtschaft‘ Gottes Schöpfungsordnung bedroht.“[3]

 

Von der ersten Schöpfungsgeschichte wird heute besonders der folgende Vers häufig zitiert: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.“ (1. Mose 1,27) Die Gottesebenbildlichkeit der Menschen ist von den geknechteten und gedemütigten Menschen seit vielen Jahrhunderten als eine geradezu revolutionäre Botschaft wahrgenommen worden. Dies gilt zum Beispiel für den antikolonialen Kampf in Afrika und den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Es sind vor allem Frauen, die angesichts von Diskriminierungen Kraft und Zuversicht aus der Gewissheit schöpfen, dass sie nach Gottes Bild geschaffen sind.[4]

 

Besonderer Beliebtheit erfreut sich die Geschichte von Adam und Eva, dem Paradies und der Vertreibung der Menschen aus dieser schönen Welt (1. Mose 2-3). Der Mensch ist an seinem Auftrag gescheitert, die Welt zu bewahren, hat die Grenzen überschritten, die Gott ihm gesetzt hat. Das ist offenbar eine Urerfahrung lange vor der ökologischen Krise des 20. und 21. Jahrhunderts. Leonardo Boff schreibt: „Wenn der jahwistische Autor vor allem in Gen 3 vom ‚Sündenfall’ spricht, geht es ihm nicht um Vergangenes, wie sich dies und das abgespielt haben. Vor uns liegt kein historischer Bericht, sondern eine prophetisch-weisheitliche Reflexion über das Drama der menschlichen Existenz. Sie will die vorfindliche Situation anklagen, so habe Gott die Dinge nicht gewollt.“[5]

 

Und Carlos Mesters, ein weiterer bekannter lateinamerikanischer Befreiungstheologe, fügt hinzu: „Das Paradies ist sozusagen ein Modell der Welt. Das Paradies ist der Bauplan in der Hand des Poliers, das heißt des Menschen, der Mann und Frau ist. Das Paradies ist ein Projekt, das Glauben und Mut der Menschen ständig herausfordert ... Die Beschreibung des Paradieses nimmt die volle Verwirklichung der Welt voraus, in Bildern und Symbolen, die den Menschen damals vertraut waren. Sie soll ihnen als Orientierung und Anregung dienen, damit sie sich ans Werk machen.“[6]

 

Das Wissen um die historische Entstehung der Schöpfungsberichte und den Zweck, der damit verbunden wurde, sie aufzuschreiben, eröffnet einen neuen Zugang zu diesen Bibeltexten. Das hat die aus Ghana stammende Theologin Mercy Amba Oduyoye so formuliert: „So wie anderswo hat auch in Afrika eine buchstäbliche Lektüre der Schöpfungsberichte ihren theologischen Inhalt zu ersticken vermocht; damit wurde auch die Chance für eine echte Reflexion verpasst. Lesen wir aber statt dessen Genesis 1-3 aus der Perspektive der bereiten Kinder Israels, beginnt der Text plötzlich ganz anders zu reden. Statt die Dinge zu sanktionieren, so wie sie sind, spricht der Text ein negatives Urteil über die Welt und unseren Umgang mit ihr. Er wird zu einer Anklage der Sünde, wo immer es diese gibt ... Die Geschichte klagt unsere Weigerung an, die Grenzen zu beachten, welche uns von einem Gott gesetzt worden sind, welcher vom Chaos befreit und der einzige Gesetzgeber ist.“[7]

 

Macht euch die Welt untertan

 

Sehr rasch auf die Vertreibung aus dem Paradies folgen der erste Mord und die große Flut. Schon auf den ersten Seiten der Bibel werden die großen Themen von Schuld und Sühne, Vernichtung und Neuanfang entfaltet. Und schon im 11. Kapitel wird mit dem Turmbau in Babel das Allmachtstreben der Menschen thematisiert. Die biblische Aussage „... und füllet die Erde und machet sie euch untertan“ (1. Mose 1,28) könnte auf den ersten Blick wie ein früher programmatischer Auftrag zur heutigen Globalisierung erscheinen, aber eben nur auf den ersten Blick. Stellt man den Satz in den Kontext des biblischen Auftrags, die Erde als Haushalter Gottes zu verwalten und zu bewahren, wird deutlich, warum die Tora so viele genaue Aufträge enthält, wie mit der Erde und seinen Geschöpfen umzugehen ist. Als Beispiel kann hier die Bestimmung genannt werden, das Land sechs Jahre zu bebauen und im siebten Jahr brachliegen zu lassen.  Die Regeneration der Schöpfung bildet die Grundlage dieses Gebotes, eine überlebenswichtige Aufgabe in einem Land, dessen ökologisches Gleichgewicht durch Übernutzung rasch zerstört werden konnte.[8]

 

Heute erleben wir hingegen, wie das „untertan machen“ zum Freibrief für katastrophale Zerstörungen im Interesse kurzfristiger Gewinne missverstanden wird. Zum Paradiesgarten schreibt Dorothee Sölle: „Ihn zu ‚bauen’ bedeutet, ihn zu pflegen im Sinne von Ehrfurcht, Respekt und Demut; und den Garten zu ‚bewahren’ heißt, ihn zu hegen und zu beschützen. Bauen und bewahren, als die ersten biblischen Hinweise auf menschliche Arbeit und auf den ‚Erdling’ als einen arbeitenden Menschen, kann und darf nicht als Ausbeutung verstanden wer-den, sondern als sorgsame Pflege.“[9]

 

Man kann schon diesen Schöpfungsbericht als Gegenprogramm zu einer völligen Ökonomisierung des Lebens lesen, bei der die Schöpfung und die Arbeit der Menschen zu Produktionsfaktoren reduziert werden. Mit Abraham kommt dann im 11. Kapitel des 1. Buches Mose die Geschichte des eigenen Volkes in den Blick, eines kleinen Volkes mitten in den Einflusszonen von Weltmächten. Dass in Abraham alle Geschlechter auf Erden gesegnet sein sollen (1. Mose 12,3), weist bereits darauf hin, dass der Gott, der die ganze Welt geschaffen hat, ein globaler Herrscher bleibt, wenn er sich auch seinem Volk besonders zuwendet und alle verflucht, die Abraham und seine Nachkommen verfluchen.

 

Die globale Dimension der Herrschaft und der Sorge Gottes für diese Welt darf nicht vorschnell verengt werden auf die Auserwählung eines Volkes. Dazu schreibt Frank Crüsemann: „Die Menschheit als Ganzes ... wird auf einen ersten Menschen bzw. das erste Menschenpaar zurückgeführt, und sie entfaltet sich nach der Flut aus den drei Söhnen Noahs. So wird die Menschheit als Familie dargestellt, als family of men. Es geht um nichts Geringeres als die essenzielle Einheit alles Menschlichen. Jede ist mit jedem verwandt, es gibt keine grundlegenden, keine das Menschsein als solche berührenden Differenzen ... Es geht in der Genesis um den einen Schöpfergott und sein eines Volk inmitten einer Vielfalt von gottgewollten Kulturen und Nationalitäten, zu denen auch die verschiedenen Beziehungen zu diesem Gott, also ihre Religionen gehören.“[10]

  

Ein Volk muss sich gegen die globalen Mächte seiner Zeit behaupten

 

Die Geschichte, die das Alte Testament in vielen Geschichten erzählt, ist eine Geschichte der Auseinandersetzungen eines kleinen Volkes mit den Großmächten, die für damalige Verhältnisse globale Mächte waren. Die biblischen Berichte und Aussagen über die Auseinandersetzung der Israeliten mit Mächten wie Ägypten, Babylonien und Rom haben eine Relevanz für die heutigen Konflikte mit den Mächten der Globalisierung. Dafür ist es allerdings notwendig, den sozialgeschichtlichen Hintergrund der biblischen Geschichten näher kennenzulernen und sich zudem bewusst zu machen, dass die Bibel kein einheitlich verfasstes Buch ist, sondern in vielen Jahrhunderten entstand und die Erfahrungen, Einsichten und Vorstellungen unterschiedlichster Menschen enthält. Daraus ist eine Vielfalt von Theologien entstanden.

 

Mit Erhard Gerstenberger lässt sich sagen: „Die Mannigfaltigkeit der Theologien öffnet uns den Blick für andere Völker, Zeiten und Gottesvorstellungen, sie enthebt uns dem Zwang, ängstlich im Auf und Ab der Geschichte und der Theologien nach der einen, geschichtslosen, unwandelbaren, absolut verpflichtenden Vorstellung und Richtlinie zu suchen. Sie befreit uns zu der aufrichtigen, gelassenen Würdigung der theologischen Leistungen unserer Vorväter und Vormütter, die sie verdienen, und sie macht uns fähig, im Dialog mit ihnen und mit den Religionen der Welt den ‚richtigen’, d. h. heute und jetzt zu verantwortenden Gottesglauben für unser Wende (und End?)Zeitalter zu finden und zu formulieren.“[11]

 

Unter dem Blickwinkel, was uns die biblischen Texte zur Frage des Umgangs mit globalen Machtstrukturen zu sagen haben, lässt sich die Bibel aus einer ganz neuen Perspektive lesen. Es ist nicht die einzige Perspektive, und sie kann auch nicht alle biblischen Texte berücksichtigen, aber sie hilft uns, die Gotteserkenntnisse unserer Vorväter und Vormütter neu zu entdecken und sie weiterzuentwickeln, um Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu finden. Daraus folgt aber auch, dass die Suche nach einzelnen Bibelversen zur Legitimation der eigenen Position sinn- und perspektivlos ist.

 

Die Vorfahren Abrahams[12], so ist überliefert, lebten in Mesopotamien, dem Kulturraum an Euphrat und Tigris, der den Aufstieg und Fall verschiedener globaler Mächte erlebte. Aber Abraham blieb nicht im Zentrum der Macht, sondern machte sich aufgrund eines göttlichen Auftrages und seiner Verheißung auf den Weg an die Peripherie globaler Machtstrukturen, nach Kanaan.

 

Am Anfang standen Großfamilien und Sippen

 

Abraham und seine Leute waren Viehzüchter, die in kleinen Sippen von vielleicht zwanzig oder dreißig Personen lebten. Diese Sippen waren über lange Zeit die prägende soziale Größe des Lebens der Israeliten, auch nachdem Städte und dann Staaten entstanden waren. Die Großfamilien waren patriarchal organisiert, die Frauen hatten aber den Haushalt unter ihrer Kontrolle und damit einen erheblichen Einfluss. Die Sippen standen zunächst nur in loser Verbindung zueinander und waren prinzipiell gleichberechtigt, denn es gab keine übergeordnete politische oder wirtschaftliche Autorität.

 

Diese Tradition der Geborgenheit in der Großfamilie und des nicht durch politische Autoritäten bestimmten Zusammenlebens der Sippen hat die Theologien der Israeliten stark geprägt. Die Erinnerung an diese Zeit der Freiheit als Nomadensippen war offenbar auch ein Hintergrund für die Vorbehalte vieler Propheten gegenüber autoritären Strukturen in der Königszeit. Im Exil in Babylon, wo ein großer Teil der Texte des Alten Testaments entworfen und formuliert wurde, hat angesichts der Niederlage des eigenen Staates und der Unterdrückung durch den Staat der Sieger der Rückblick auf die Zeit, als die Familien noch selbstständig waren, eine große Rolle gespielt. Wenn wir die biblischen Texte also besser verstehen und erkennen wollen, was sie für uns heute bedeuten, müssen wir uns mit dieser Tradition des nomadischen und halbnomadischen Lebens beschäftigen, ohne es zu verklären.

 

Die kleinen Sippen, aus denen später die Stämme Israels entstanden, hatten zunächst keine Chance, die wehrhaften Städte Kanaans zu erobern, sondern suchten sich zwischen den Einflussbereichen der Städte einen Lebensraum. Die einzelnen Sippen lebten von der Kleinviehzucht und später auch in begrenztem Umfang vom Ackerbau. Das Zusammenleben und gemeinsame Wirtschaften beruhte auf der Bereitschaft, die eigene Arbeit in die Gemeinschaft einzubringen und dafür Ansprüche gegenüber dieser Gemeinschaft zu erwerben, die für Nahrung, Kleidung, Wohnung und andere Grundbedürfnisse sorgte.[13]

 

Die Stabilität des Zusammenlebens hing davon ab, dass alle Mitglieder eine Loyalität zur Gruppe entwickelten. Solche Sippen besaßen eine große Sensibilität dafür, dass jeder und jede so behandelt werden muss, dass er und sie sich gut aufgehoben fühlen in der Gemeinschaft. Dies war nicht möglich, ohne dass alle an den Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit teilhaben konnten. Die Sippe besaß alles gemeinsam (vielleicht abgesehen von einigen persönlichen Gegenständen), und die Erinnerung an diese Gütergemeinschaft hat bis zur christlichen Urgemeinde nachgewirkt.

 

Auch war das Leben in Sippen gegen eine Zentralisierung der Macht gerichtet. Dazu schreibt Hubertus Halbfas: „Die lockere Gesellschaftsstruktur entsprach einer antiherrschaftlichen Grundeinstellung. In bewusster Distanz zu den kanaanäischen Stadtstaaten räumt sie politische Macht nur soweit ein, wie dies zur Sicherung des Lebens und Überlebens notwendig erschien. Allein das gemeinsame Freiheitsideal einte das Stämmebündnis ‚Israel’.“[14]

 

Wirtschaftliches Handeln vollzog sich in einer kleinen Gemeinschaft und beruhte auf Kooperation, nicht auf Konkurrenz. Sie trug zur Festigung von Geschwisterlichkeit bei, nicht zu anonymen Marktbeziehungen. Zu den großen Leistungen der Autoren und Autorinnen der Bibel gehört es, diese Erfahrung in ihre Theologien und in ihre Vorstellungen von einem geschwisterlichen Zusammenleben einzubeziehen. Die Prophetinnen und Propheten des alten Israel mussten erleben, wie eine wachsende ökonomische Ungleichheit und eine Reduzierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf Marktbeziehungen den sozialen Zusammenhalt und die religiöse Gemeinschaft zu zerstören drohten. Deshalb suchten sie nach Wegen, Gerechtigkeit und ein wirtschaftliches Überleben für alle zu schaffen.

 

Sie wussten, dass die Lebens- und Glaubensgemeinschaft Schaden nimmt, wenn sich die einen auf Kosten der anderen bereichern. Die Ökonomie der Sippe bot ein Gegenbild zu einer Ökonomie der individuellen Bereicherung auf Kosten anderer. Auf der Suche nach einer neuen Form der Globalisierung ist dies ein wichtiger Punkt, an den angeknüpft werden kann. Elisa wird im 2. Buch der Könige mit dem Satz zitiert: „Ich wohne sicher unter meinen Leuten.“ (2. Könige 4,13)

 

Wer sagt dies heute noch in einer durch Atomisierung und Konkurrenz geprägten Gesellschaft? Und doch ist der Wunsch nach einer Gemeinschaft, die Sicherheit und Geborgenheit bietet, erhalten geblieben. Es kann nicht um eine Romantisierung dieser frühen Formen sozialer Zusammenarbeit gehen, wohl aber darum, zu erkennen, was im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende an Solidarität auf lokaler Ebene verloren gegangen ist und welche Perspektiven entwickelt werden können, wieder stärker in überschaubaren Gemeinschaften zu wirtschaften und zu leben.[15]

 

Der gemeinsame Glaube hält die kleinen Gemeinschaften zusammen

 

Die Großfamilie war nicht nur ein Ort der Harmonie, sondern es gab auch heftige Konflikte, die solche Gemeinschaften zu zerstören drohten. Um dies zu verhindern, reichten die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit und die Blutsverwandtschaft nicht aus. Es bedurfte auch einer gemeinsamen spirituellen Basis.[16] Die Sippe war auch dafür verantwortlich, auf die religiösen Fragen nach dem Woher und Wohin, nicht zuletzt aber auf die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Antwort zu suchen.

 

Jede Familie betete zu ihrem Gott oder ihrer Göttin, die im Zwiegespräch Antworten auf die elementaren Fragen des Lebens geben sollte. Zu Familiengöttin oder -gott wurde auch gebetet, damit es zur rechten Zeit regnete und Mensch und Tier gesund blieben. Die Sippen waren sich bewusst, wie abhängig sie von den Naturgewalten und von einem friedlichen Verhältnis zu ihren Nachbarn waren. Auch konnte die höhere Autorität angerufen werden, wenn es Auseinandersetzungen in der Familie gab.[17]

 

Die Glaubensüberzeugungen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, boten eine Orientierung, welche Normen und Werte es auch und gerade in Konflikten zu verteidigen galt. Es gab also eine göttlich sanktionierte Ordnung und göttliche Normen, die das Zusammenleben regelten.[18] Viele dieser Überzeugungen haben Eingang in die biblischen Texte gefunden. Erhard Gerstenberger vertritt die These: „... die vielgerühmten menschenfreundlichen Züge an Jahwe sind – wann auch immer formuliert – zum großen Teil als Erbe aus der Familientheologie zu betrachten.“[19]

 

Die Göttinnen und Götter der Familie konnten angesprochen werden, man konnte sogar mit ihnen hadern und streiten, wie sich aus einzelnen alttestamentlichen Texten schließen lässt. Das ist ein großer Unterschied zu dem Gottesverständnis, das viele heutige Theologien besonders in der westlichen Welt vermitteln. Mit dem entmythologisierten Gott, mit dem Prinzip Gott lässt sich kein Gespräch führen, vor ihm lassen sich die eigenen Sorgen, Ängste und Hoffnungen nicht ausbreiten. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass viele Christinnen und Christen heute zu ererbten religiösen Überzeugungen zurückkehren, gewissermaßen zu den Fundamenten des alten Glaubens, statt nach neuen religiösen Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu suchen. Deshalb ist wichtig, dass die biblische Tradition des persönlich ansprechbaren Familiengottes hierzulande neu entdeckt und in Verbindung mit unserer heutigen Welt gebracht wird. In Theologien im Süden der Welt wie der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ist dies bereits wesentlich besser gelungen.[20]

 

Die einzelnen Familien haben unterschiedliche Göttinnen und Götter angebetet, aber sie beeinflussten einander auf religiösem Gebiet, und dies schon dadurch, dass Frauen in andere Familien einheirateten und ihre religiösen Vorstellungen dort einbrachten. So entstanden zwischen befreundeten Sippen nicht nur Blutsverwandtschaften, sondern auch religiöse Annäherungen.[21]

 

Besonders lesenswert ist in diesem Zusammenhang die im 1. Buch Mose beschriebene Flucht Jakobs mit Rahel und Lea aus dem Hause Labans, während dieser bei seinen Schafen war. Jakob nahm mit, was ihm gehörte, Rahel eignete sich aber auch den Hausgott ihres Vaters Laban an. Sie flüchteten ins Gebirge, wo sie von Laban und seinen Leuten eingeholt wurden. Laban akzeptierte zwar, dass Jakob ihm seine Töchter geraubt hatte, aber er wollte seinen Hausgott zurück. Er stellte Jakob zur Rede: „Warum hast du mir dann aber meinen Gott gestohlen?“ (1. Mose 31,30) Jakob wusste nichts von dem Diebstahl und bot seinem Schwiegervater an, er möge das ganze Lager nach dem Gott durchsuchen. Nur mit einem Trick gelang es Rahel, die kleine Gottesdarstellung zu verbergen: „Daher fand er den Hausgott nicht, so sehr er auch suchte.“ (1. Mose 31,35)

 

Diese Geschichte gibt eine alltägliche Erfahrung aus der Zeit der Sippen wieder, und die Archäologen haben Hunderte Figuren von Göttinnen und Göttern im Gebiet des damaligen Kanaan gefunden, die belegen, wie tief verwurzelt der Glaube der Nomaden und Halbnomaden an die religiösen Oberhäupter ihrer Familien war und wie er die zum Überleben notwendige Solidarität aller Mitglieder der Sippe förderte. Dieses Familienethos, so sei hier eingeflochten, ist später zu einer wichtigen Grundlage des Gemeindeethos der nachexilischen Zeit und dann auch der ersten christlichen Gemeinden geworden.[22]

 

Damals wie heute ist er eine Gegenkraft zu den Mächten, die die Welt unter ihre Kontrolle bringen wollen. Der Glaube dieser Sippen wurde auch von den Göttern und ihren Heiligtümern beeinflusst, die von der sesshaften Bevölkerung in den Städten Kanaans angebetet wurden.[23]

 

Religiöse Beeinflussung durch benachbarte Völker

 

Auch gab es religiöse Einflüsse von den benachbarten Großreichen, zunächst wohl vor allem von Ägypten. Inwieweit der Aufenthalt einzelner Sippen im ägyptischen Reich und die anschließende Flucht unter Führung von Moses dazu geführt haben, dass der Glaube der Menschen am Nil, zeitweise unter Pharao Amenophis IV. (Echnaton) ein Monotheismus, den Glauben der späteren Israeliten mit geprägt hat, bleibt umstritten. Zuletzt hat Jan Assmann diese Debatte mit seinem Buch „Moses der Ägypter“ belebt.[24]

 

Im Mittelpunkt steht der Monotheismus Echnatons (Pharao Amenophis IV.). Wie immer man die Bedeutung der religiösen Vorstellungen in Ägypten für das Gottesbild der Israeliten einschätzt, ist religiöse Vielfalt bereits eine Erfahrung der Sippen in Kanaan und den Nachbarregionen, und schon sie haben erfahren, dass religiöse Intoleranz zu Kriegen führt beziehungsweise in Kriegen als Instrument zur Bekämpfung der Feinde eingesetzt werden kann. Der „Normalfall“ war damals die Respektierung des Glaubens der anderen, vielleicht auch die Bereitschaft, von diesen etwas zu übernehmen, sofern es sich in die Glaubensüberzeugungen der eigenen Sippe einfügen ließ.

 

In diesem Prozess hat sich ganz allmählich der gemeinsame Glaube entwickelt, den wir heute als den biblischen Glauben bezeichnen. Die Wahrung der je eigenen Identität und deren Verteidigung mithilfe eines Schutzgottes oder einer Schutzgöttin gingen einher mit der Bereitschaft und der Notwendigkeit zu religiösem und kulturellem Austausch.

 

Es herrschte in dieser Phase der Sesshaftwerdung der Sippen also eine große religiöse Vielfalt. Die Götter befreundeter Völker wurden respektiert, die Götter der Feinde verflucht. Von diesen Verfluchungen lesen wir noch in der Bibel, während die Redakteure der älteren Überlieferungen und Texte im babylonischen Exil und nach der Rückkehr nach Jerusalem die Passagen redigiert haben dürften, die gar zu sehr die Vielfalt religiöser Vorstellungen beschrieben und positiv wahrnahmen.[25]

 

So kam man dem göttlichen Geheimnis in kleinen Schritten und im Austausch miteinander näher. Es war dann die geografische Lage Kanaans mitten zwischen den politischen und ökonomischen Zentren östlich des Mittelmeers, die die Entwicklung von drei Weltreligionen begünstigte.

 

Die Sippen der Kleinviehhirten blieben zunächst Objekte der Großmächte ihrer Zeit und erlebten mit, wie die Ägypter sich aus Kanaan zurückziehen mussten und die Philister von Norden her das Gebiet eroberten. Waren die ägyptischen Herrscher weit weg gewesen, so wurden die Philister zu direkten Unterdrückern und Gegnern der Israeliten, und das hat ihnen eine ausgesprochen negative Rolle im Alten Testament eingebracht. Der Kampf der Großmächte geht zulasten der Machtlosen und Armen, das war eine Erfahrung der Viehhirten in Kanaan, und diese Erfahrung machten in den letzten Jahrzehnten zum Beispiel auch viele afrikanische Völker. Sie haben diese Erfahrung in ein Sprichwort gefasst: „Wenn die Elefanten kämpfen, leidet das Gras.“ Um in diesen Kämpfen überleben zu können, mussten die nomadischen Sippen Bündnisse schließen und gemeinsame Feldzüge durchführen, aber dies waren zunächst nur ad hoc-Koalitionen. Neben die Familiengöttinnen und -götter trat nun der Kriegsgott, der half, die Feinde zu besiegen, an den man sich aber nicht mit den alltäglichen kleinen und großen Sorgen wandte.

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung

- Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 


[1] Einen guten Überblick über die beiden Schöpfungsberichte, ihren Kontext und ihre Bedeutung gibt Hubertus Halbfas in dem Buch „Die Bibel, Düsseldorf 2001, S. 41ff.; erstellt die biblischen Schöpfungsberichte auch in Beziehung zu anderen Schöpfungsvorstellungen und zu heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.

[2] Ausschuss für den Dienst auf dem Lande in der Evangelischen Kirche: Globalisierung der Landwirtschaft aus christlicher Sicht – eine Streitschrift, Kirche im ländlichen Raum, Sonderheft 2000, S. 13f.

[3] Ebenda, S. 17

[4]Vgl. z.B. Grace N. Ndyabahika: The earth belongs to God: Women’s place in Creation, in: Tro & Tanke, Uppsala, 5/1995, S, 87ff.

[5] Leonardo Boff: Schrei der Erde, Schrei der Armen, Düsseldorf 2002, S. 64

[6] Zitiert nach: Ebenda, S. 66

[7] Mercy Amba Oduyoye: Wir selber haben ihn gehört, Theologische Reflexionen zum Christentum in Afrika, Freiburg/Schweiz 1988, S. 139

[8] Vgl. Franz Segbers: Die Hausordnung der Tora – Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik, Luzern 2000, S. 338ff.

[9] Dorothee Sölle: Lieben und arbeiten, Eine Theologie der Schöpfung, Hamburg 1999, S. 107

[10] Frank Crüsemann: Menschheit und Volk, Israels Selbstdefinition im genealogischen System der Genesis, in: Experimentelle Theologie, Freundschaftsgabe für Kristian Hungar zum 60. Geburtstag, Heidelberg 1995, S. 181 und 187

[11] Erhard S. Gerstenberger: Theologien im Alten Testament, Stuttgart 2001, S. 9

[12] Zur Geschichte Abrahams vgl.: Hubertus Halbfas: Die Bibel, a. a. O., S. 74ff.

[13] Erhard S. Gerstenberger schreibt hierzu: „Die produktiven und protektiven Tätigkeiten von Frau und Mann, Kind und Greis im Familienverband waren gemeinsam auf das Ziel abgestellt, der Gruppe und damit jedem einzelnen Mitglied das Überleben von Jahr zu Jahr, in Krisenzeiten auch von Tag zu Tag, zu ermöglichen.“ Erhard S. Gerstenberger: Theologien des Alten Testaments, a. a. O., S. 26

[14] Hubertus Halbfas: Die Bibel, a. a. O., S. 136

[15] Dabei ist aber vor einer Idealisierung der kleinen Gemeinschaften zu warnen und es müssen realistisch die Unterschiede zwischen der damaligen und der heutigen Gesellschaft in Rechnung gestellt werden: „Die rein physische Notwendigkeit, gemeinsam für den Lebensunterhalt zu sorgen, hat in der Antike die Familien zusammengeschweißt. Der gegenteilige Zwang, möglichst flexibel einer industriellen, leistungsorientierten, mobilen Beschäftigung nachzugehen, treibt die Menschen auseinander und in die Einsamkeit.“ Gerstenberger: Theologien des Alten Testaments, a. a. O., S. 238

[16] Vgl. Vinay Samuel: A Christian perspective on family, in: Transformation, September 1995, S. 10ff.

[17] Vgl. hierzu: Hubertus Halbfas: Die Bibel, a. a. O., S. 137ff.

[18] Vgl. Gerstenberger: Theologien im Alten Testament, a. a. O., S. 29ff.

[19] Ebenda, S. 51

[20] So setzt sich Enrique Dussel in seinem Aufsatz „Die Familie in der ‚Welt der Peripherie’“ (Concilium 4/95) mit der biblischen und der sozialen Tradition der Großfamilien auseinander und stellt dann die Frage nach deren Zukunft: „Diese moderne Kernfamilie hat zwar viele Werte gewonnen, vor allem was das individuelle Selbstbewusstsein, die Möglichkeit einer nicht durch Schuldkomplexe belasteten erotischen Beziehung, die Entscheidungsfreiheit im Handeln und die persönliche Verantwortung für das soziale Engagement betrifft. Aber kann man sich letztendlich so gewiss sein, dass das, was mit der Großfamilie verlorengegangen ist, weniger wertvoll ist als das, was man gewonnen hat, und vor allem, dass nicht vieles von dem Verlorenen wiedergewonnen werden könnte, wenn man nur Kriterien für eine Neuaneignung hätte? Zum Beispiel: Könnte die ‚christliche Basisgemeinde’ nicht auch ein Versuch sein, in der heutigen städtischen (und ländlichen) Gesellschaft vital und konkret die verloren gegangenen Werte der Großfamilie wiederzugewinnen – ohne deren Fehler zu wiederholen?“ (S. 328)

[21] Vgl. Gerstenberger: Theologien des Alten Testaments, a. a. O., S. 39ff.

[22] Ebenda, S. 65

[23] Vgl. u. a. Siegfried Herrmann: Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, in: Siegfried Herrmann/Walter Klaiber: Die Geschichte Israels, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1996, S. 19

[24] Jan Assmann: Moses der Ägypter, München/Wien 1998

[25] Zur gegenwärtigen Debatte über die Entstehung der Schriften des Alten Testaments und des Monotheismus vgl. u. a.: Mark A.O’Brien: Vom Wesen des biblischen Monotheismus, in: Concilium, Internationale Zeitschrift für Theologie, 1/2001, S. 53ff.