Das Leben der Israeliten in Städten

 

Die politischen Verhältnisse waren günstig für die Wüstenwanderer, im „gelobten Land“ Fuß zu fassen. Die Ägypter hatten sich in einer Periode politischer und militärischer Schwäche gerade aus der Region zurückgezogen, die Philister waren vor allem mit der Eroberung der fruchtbaren Küstengebiete beschäftigt und die kanaanäischen Städte erlebten einen Niedergang.[1] Einige von ihnen waren bereits verfallen. So wurde es den Israeliten möglich, einzelne Städte zu erobern und in anderen Orten gemeinsam mit der ansässigen Bevölkerung zu leben.[2] Der Prozess der Landnahme hat nach archäologischen und historischen Forschungen wohl auf eine friedlichere Weise stattgefunden, als dies aus manche biblische Berichte erscheinen lassen.[3]

 

Der Niedergang der kanaanäischen Städte, so wird vermutet, war nicht zuletzt darin begründet, dass die Stadtherrscher, die sich selbst als „Lieblingskinder“ der Götter ansahen, ein System der Ausbeutung der Bauernfamilien schufen, das viele von diesen veranlasste, ihre Loyalität gegenüber den Herrschern aufzukündigen und sich durch die Flucht in bisher ungewohnte Gebiete dem wirtschaftlichen Druck zu entziehen. Es kann darüber spekuliert werden, ob die geflüchteten kanaanäischen Bauern, die aus Mesopotamien eingewanderten Halbnomaden und die aus Ägypten geflüchteten Zwangsarbeiter um Mose den Kern dessen bildeten, was einmal zum Volk der Israeliten zusammenwachsen sollte. Diese These vertreten zum Beispiel die Befreiungstheologen Marcelo de Barros Souza und José Luis Caravias, und für sie bestand der Beitrag der „Mosegruppe“ darin, aus Ägypten den Glauben an den einen Gott mitgebracht und ihn durch den Exodus und den Bundesschluss in der Wüste als den befreienden Gott erfahren zu haben.[4]

 

Wie immer man dieser Hypothese gegenübersteht, fest steht auf jeden Fall, dass diejenigen, die zu den Stämmen des Gottesvolkes zusammenwuchsen, zunächst in den Einöden lebten, die von den globalen und regionalen Mächten ihrer Zeit nicht beherrscht wurden. Es gelang ihnen dann durch die veränderte politische und militärische Konstellation, sich in dem Land festzusetzen und sich allmählich auch in kleineren Orten und Städten niederzulassen.

 

Die Städte, nach heutigen Maßstäben größere Dörfer, waren oft von Mauern oder Wällen geschützt, boten den Bewohnern also mehr Sicherheit als vorher die nomadische Existenz. Die allermeisten Familien lebten von der Kleinviehzucht und vom Ackerbau.[5] Sie blieben wirtschaftlich weitgehend autonom, handelten also nur in sehr begrenztem Umfang mit ihren Nachbarn oder mit Menschen in anderen Orten. Es herrschten hier ökonomische Verhältnisse, die die Grundlage für das, was Franz Segbers die „Politische Ökonomie der Tora“ bezeichnet: „Wirtschaftliche Grundlage bildet die Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehzucht. Das Handwerk ist Teil der Hauswirtschaft (vgl. Gen 4,22).

 

Relative Gleichheit in kleinen Städten

 

Die Ökonomie des Hauses (oikos/bajit) beruht auf dem Ideal einer möglichst großen Autarkie. Grundlage ist die gemeinsame Erwirtschaftung der Lebensgrundlage. Handel und Tausch spielen eine nur geringe Rolle. Von dieser Grundlage her entwickelte sich der Ökonomiebegriff. Ökonomie ist nicht die Lehre von der optimalen Gewinnerwirtschaftung, sondern die Anleitung zur Führung eines Hauses als sozialer und wirtschaftlicher Einheit. Unter ‚Haus’ wird also nicht nur das Gebäude verstanden, sondern der Personenverband aller im Hause lebenden Menschen.“[6]

 

Nur ganz allmählich entstand ein Markt für Waren, und der Handel diente zunächst fast ausschließlich dem Ziel, die wenigen benötigten Güter zu erwerben, die die eigene Familie nicht selbst herstellen konnte. Religiös sind sie offenbar ihren Familiengöttinnen und -göttern treu geblieben[7], aber der religiöse Austausch war natürlich größer als unter den Bedingungen des nomadischen Lebens. So entwickelten sich gemeinsame religiöse Feste, die meist mit der Ernte von Feldfrüchten verknüpft waren.

 

Es gab zunächst keine hierarchischen politischen Strukturen in diesen Siedlungen, sondern die Ältesten als Oberhäupter ihrer Familien trafen sich bei Bedarf am Stadttor und fällten notwendige Entscheidungen. Im Buch Rut wird beschrieben, wie diese kleinstädtische Entscheidungsfindung stattfand. „Boas ging hinauf ins Tor und setzte sich daselbst. Und siehe, als der Löser vorüberging, von dem er geredet hatte, sprach Boas: Komm, mein Lieber, und setze dich hierher! Und er kam herbei, und setzte sich dort hin. Und Boas nahm zehn Männer von den Ältesten der Stadt und sprach: Setzt euch hierher. Und sie setzten sich.“ (Rut 4,1-2)

 

Dann wird ausführlich beschrieben, wie ein Problem diskutiert und gelöst wurde. In einer überschaubaren Gemeinschaft und in einer kleinen Stadt mit meist nur einem Tor[8], reichte es, sich früh am Morgen an dieses Tor zu stellen und auf die Menschen zu warten, die nötig waren, um ein Problem zu lösen als unmittelbar Beteiligte und als Älteste und Vermittler in einem Streit. Probleme vor Ort und nicht von oben herab zu lösen, das ist heute eine Forderung vieler, die sich für andere Formen des Lebens, der Politik und der Ökonomie einsetzen.

 

Die Gehöfte, die die Archäologen in den Siedlungen in dieser Zeit fanden, waren ziemlich gleich groß. Es gab in den meisten Orten keine Paläste und Tempel, keine großen Lagerhäuser oder Prachtstraßen. Diese Städtebildung stand also im Kontrast zu den – allerdings sehr viel größeren – Städten der politischen Mächte an Nil, Euphrat und Tigris. Die Strukturen relativer Gleichheit blieben auch in den neu entstandenen Städten zunächst erhalten. Damit fiel es auch leichter als in Gesellschaften mit krassen sozialen Unterschieden, die Solidarität aller Bewohner des Ortes zur Grundlage des Zusammenlebens zu machen. Man war um des gemeinsamen Wohls willen auf gemeinschaftsförderndes Verhalten angewiesen, wenn auch nicht in dem Umfang, wie dies für die Familie weiterhin galt.

 

Die Lebenserfahrung zeigte, dass man am besten überleben und leben konnte, wenn man zusammenarbeitete, und diese Einsicht wurde auch durch unvermeidliche alltägliche Konflikte nicht überschattet. Krasse soziale Unterschiede aber, so konnten die Israeliten bei benachbarten Völkern sehen, zerstörten solche Solidarität und damit die Existenzgrundlage einer Gemeinschaft. Deshalb gehört die Einforderung von Solidarität mit den Armen und Schwachen zu den ganz zentralen Gründen dafür, dass die Israeliten die vielen Kriege und die Niederlagen gegenüber globalen Mächten überlebten. Nächstenliebe war also nicht nur ein abstraktes religiöses Gebot, sondern die beste Gewähr dafür, in kriegerischen und gefährlichen Zeiten zu überleben. So bildete das biblische Volk erstmals so etwas wie Gemeinden.

 

Zusammenleben mit Menschen anderer Herkunft und anderen Glaubens

 

Die Israeliten lebten in einem multiethnischen und multireligiösen Teil der Welt. Mit der Ansiedlung in Städten war eine Horizonterweiterung verbunden. Es galt, die komplizierten politischen und militärischen Konstellationen der Region zu durchschauen, um einen eigenen Platz im Machtgefüge zu erringen und zu verteidigen. Gleichzeitig wuchs allmählich der Handel mit anderen Orten und Regionen.

 

Auch religiös wurde der Pluralismus der Vorstellungen nun sehr viel systematischer erfasst, als dies vermutlich bei den Nomaden und Halbnomaden der Fall war. Es entstand ein besseres Weltverständnis, jedenfalls für den Teil der Welt, zu dem regelmäßige Beziehungen bestanden. Religiös haben die Israeliten manches von anderen Völkern übernommen, sich in anderer Hinsicht abgegrenzt und erst aus diesem Spannungsverhältnis heraus wurden ihnen jene Glaubensüberzeugungen und Einsichten zueigen, die sich in der Bibel finden. Die Geschichte Israels ist ein Lehrbuch dafür, wie in Abgrenzung zu den vorherrschenden globalen Mächten bei gleichzeitiger Übernahme vieler ihrer Errungenschaften eine eigene Identität gefestigt und das Überleben gesichert werden kann.[9]

 

Der gemeinsame Gott ist kein Kriegsgott

 

Nach dem Entstehen der befestigten Dörfer und Städte entwickelte sich die Stammesbildung weiter, ein zunächst sehr lockerer Zusammenschluss zu überörtlichen Strukturen zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung gegen Feinde, die es in Kanaan in großer Zahl gab. Ein ganz entscheidender Faktor wurde dabei der gemeinsame Glaube an den einen Gott, der die ganze Welt beherrschte und der sich auf die Seite der Israeliten gestellt hatte. Diese Überzeugung hat sicher wesentlich zu den militärischen Erfolgen beigetragen. Gott als Kriegsgott, der für die Seinen eintritt, diese Tradition spiegelt sich in verschiedenen biblischen Texten wider. In einer Zeit, in der Kanaanäer, Moabiter, Ammoniter, Midianiter, Philister und Israeliten auf engstem Raum lebten und auf brutale Weise gegeneinander kämpften und wo die Niederlage Vernichtung oder Versklavung bedeutete, war der Hass auf die „Anderen“ groß, und das hat seine Spuren in der Bibel hinterlassen.

 

Das Bild vom Kriegsgott, das wir aus einigen Büchern des Alten Testaments gewinnen, ist in seiner Zeitgebundenheit zu sehen. Und da war er offenbar erfolgreich. Stammesgruppen, die fest daran glauben, dass ein übermächtiger Gott an ihrer Seite steht, kämpfen anders und entschlossener als die Söldner eines Königs oder Stadtfürsten. So siegten die Israeliten mit ihrem Gott mehrfach gegen weit überlegene Feinde.[10]

 

Der Gott der Schlachten und der Siege feiern hatte seine historische Bedeutung, hat das Überleben einiger Stämme und wohl auch das Zusammenwachsen dieser Stämme zu einem Volk begünstigt. Aber Jahwe als Kriegsgott hätte keine Zukunft gehabt, wäre wahrscheinlich mit einer vernichtenden Niederlage seiner Stämme in die Vergessenheit geraten wie so viele Kriegsgötter der Geschichte, über die wir höchstens noch in einigen historischen Spezialwerken lesen, weil ihre Namen auf einigen Tonscherben oder zerbröckelnden Säulen zu finden sind. Leider haben die Überlieferungen in der Bibel über das Wirken des Kriegsgottes immer wieder verheerende Wirkungen gehabt, wenn sie aus ihrem historischen Kontext gelöst wurden. Ein Gott, der die Ermordung aller gegnerischen Männer, Frauen und Kinder gutheißt, ist in der Situation eines existenziellen Überlebenskampfes kleiner Stämme im alten Kanaan zu interpretieren, aber diese Bibeltexte können uns in der heutigen Zeit nichts anderes sein als eine Mahnung, Verhältnisse zu verhindern, die in Krieg und Vernichtung münden.[11]

 

Der Kriegsgott war nicht konkurrenzlos, genauer gesagt war er für einen bestimmten Bereich des Lebens zuständig, aber in den Familien und in den einzelnen Orten gab es weiter die Göttinnen und Götter, die bereits seit vielen Jahren Begleiter der Sippen durchs Leben geworden waren. Es gab noch keine mächtige Priesterschaft, die den Glauben an den einen Gott verfocht. Ebenso wenig gab es eine zentrale staatliche Autorität. Die Dörfer und Städte blieben autonom und wählten nur im Konflikt- und Kriegsfall Anführer, manchmal auch Richter genannt, die für eine begrenzte Zeit Leitungsaufgaben übernahmen.

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 

 



[1] Vgl. Volkmar Fritz: Die Stadt im alten Israel, München 1990, S. 33ff.

[2] Biblische Berichte hierzu finden sich im Buch Josua und im Buch der Richter; vgl. hierzu: Siegfried Herrmann: Die Schriften des Alten Testaments, in: Siegfried Herrmann/Walter Klaiber: Die Schriften der Bibel, Stuttgart 1996, S. 61ff., vgl. Siegfried Herrmann, Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, a. a. O., S. 33f.

[3] Vgl. auch: Marcelo de Barras Suza/José Luis Caravias: Theologie der Erde, Düsseldorf 1990, S. 86ff.

[4] Ebenda, S. 88ff.

[5] Vgl. Volkmar Fritz: Die Stadt im alten Israel, a..a O., S. 96f.

[6] Franz Segbers: Die Hausordnung der Tora – Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik, Luzern 2000, S. 117

[7] Erhard S. Gerstenberger: Theologien im Alten Testament, Stuttgart 2001, S. 80

[8] Vgl. u. a. Volkmar Fritz: Die Stadt im alten Israel, a. a O., S. 97

[9] Wie spannungsreich der Prozess der Abgrenzung gegenüber den Nachbarvölkern war und wie er sich bis hin auf persönliche Beziehungen ausgewirkt hat, hat Musa W. Dube, theologische Hochschullehrerin in Botswana in ihrem Aufsatz „Divining Ruth for International Relations“ herausgearbeitet, in: Musa W. Dube (Hrsg.): Other ways of reading, African Women and the Bible, Genf 2001, S. 179ff.

[10] Wie spannungsreich der Prozess der Abgrenzung gegenüber den Nachbarvölkern war und wie er sich bis hin auf persönliche Beziehungen ausgewirkt hat, hat Musa W. Dube,theologische Hochschullehrerin in Botswana in ihrem Aufsatz „Divining Ruth for International Relations“ herausgearbeitet, in: Musa W. Dube (Hrsg.): Other ways of reading, African Women and the Bible, Genf 2001, S. 179ff.

[11] Vgl. Gerstenberger: Die Theologien des Alten Testaments, a. a O., S. 127ff.