Verantwortliches individuelles Verhalten

 

Auch die einzelnen Gemeindemitglieder müssen ihr Konsumverhalten, ihre Geldanlagen etc. überdenken und ändern. Angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung ist jeder und jede Einzelne an vielen Punkten an der Ausplünderung der Erde, an der Zerstörung der Umwelt, an der Ausbeutung von Menschen und an der Verdrängung kleiner Produktions- und Vertriebsunternehmen durch große multinationale Konzerne beteiligt. Das muss nicht zur Zerknirschung führen, sondern kann auch als Chance wahrgenommen werden, aktiv an einer Veränderung der globalen Strukturen mitzuwirken.

 

Ein zentrales Problem auf diesem Weg ist die fehlende Übersicht darüber, wie sich welcher Kauf oder welche Geldanlage auswirkt. Wer einen Teppich oder eine Dose Tomatenmark kauft, kann und will sich nicht jedes Mal gründlich mit den Produktionsbedingungen und den ökologischen Folgen auseinandersetzen. In manchen Fällen helfen Öko-Siegel oder andere Siegel bei der Kaufentscheidung (z. B. das Rugmark-Siegel, das belegt, dass ein Teppich ohne Kinderarbeit entstanden ist). In anderen Fällen sind die Textilien so billig, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden muss, dass sie unter miserablen Lohn- und Arbeitsbedingungen gefertigt wurden. Die weltweiten kirchlichen Verbindungen helfen, von solchen Missständen auch dann zu erfahren, wenn sie in einer abgelegenen Region im Süden der Welt stattfinden. Dies spiegelt sich in vielen kirchlichen Veröffentlichungen wider und hat schon viele Christinnen und Christen veranlasst, ihr Konsumverhalten zu verändern.

 

Was aber bisher fehlt, ist eine gute Übersicht über die gängigen Waren- und Dienstleistungsgruppen, um es zu ermöglichen, ohne detektivische Recherchen eine verantwortbare Entscheidung zu treffen. Dass das Wissen über ethische, gesundheitliche, ökologische und soziale Fragen in Zusammenhang mit einzelnen Gütern so verstreut ist, kann kaum als Zufall angesehen werden. Eine Bündelung dieses Wissens wäre für zahlreiche Unternehmen sehr unbequem. Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass die Verbraucherzentralen nicht zu den Einrichtungen gehören, die üppig mit Finanzen ausgestattet werden.

 

Eigentlich müssten die Propheten des Marktes alles tun, damit die Konsumenten und Konsumentinnen sich umfassend informieren und eine rationale Entscheidung treffen und sich so als ideale Marktteilnehmer erweisen können. Aber Theorie und Praxis klaffen auseinander. Es wäre eine lohnende und wichtige Aufgabe der Kirchen, für ihre Mitglieder und die übrige Gesellschaft das Wissen über einzelne Produkte und Produktgruppen zu bündeln und leicht zugänglich zu machen.

 

So könnte all denen sehr geholfen werden, die keine Produkte kaufen wollen, die unter unmenschlichen Bedingungen und mit Kinderarbeit entstanden sind, bei deren Produktion die Umwelt stark belastet wurde und die nach dem Gebrauch eine weitere Schädigung der Natur verursachen. Ohne eine solche Transparenz bleibt das Bemühen, nicht an der Zerstörung der Umwelt und der Ausbeutung von Menschen mitzuwirken, nicht selten erfolglos. Wenn zum Beispiel der Energieverbrauch eines Gerätes niedrig ist, kann dieser positive Effekt dadurch aufgehoben werden, dass für die Produktion des Gerätes sehr viel wertvolle Rohstoffe und sehr viel Energie aufgewendet wurden. Die Kirchen vertreten keine eigenen Interessen als Produzenten und verfügen gleichzeitig über viele Verbindungen, um lokale, nationale und internationale Probleme in Zusammenhang mit der Produktion einzelner Waren systematisch zu erfassen.

 

Vor allem haben sie klare Orientierungspunkte für die Bewertung der positiven und negativen Aspekte der Produktion von Gütern auf einem globalen Markt. Sie müssen keine chemischen Labors unterhalten, um Waren auf Schadstoffe zu prüfen, aber sie können die vorhandenen Ergebnisse bekannt machen und gegebenenfalls Alternativen vorschlagen. Kirchen können also Hilfe und Orientierung geben und so den Weg der Einzelnen zu einem verantwortlichen Lebensstil erleichtern.

 

Ein zweites Problem bei der Veränderung des individuellen Verhaltens in einer globalen Wirtschaft kann man als die „Wir-Falle“ bezeichnen, die besonders in den Kirchen und in kirchlichen Initiativen weit verbreitet ist. Oft wird dann die ganze westliche Welt mit der Bezeichnung „wir“ bedacht, um selbstanklagend vom zu starken Autoverkehr bis zum zu hohen Energieverbrauch alles „uns“ anzulasten. Aber die Rentnerin in einer Einzimmerwohnung, die gerade so zurecht kommt und sich als einzigen Luxus vor zehn Jahren einmal einen Urlaubsflug nach Mallorca geleistet hat, lässt sich nicht mit der reichen Familie auf eine Ebene stellen, die eine Villa mit Schwimmbad bewohnt, ein Drittauto angeschafft hat (und stolz darauf ist, dass es nur wenig Kraftstoff verbraucht) und die darüber berät, ob noch Zeit ist, im Herbst einen einwöchigen Urlaub in der Karibik einzuschieben oder der Weihnachtsurlaub auf den Malediven um einige Tage verlängert werden sollte.

 

Die Beispiele mögen als sehr krass erscheinen, aber es kann kein Zweifel bestehen, dass es in der westlichen Welt extrem große Unterschiede in der individuellen Ökobilanz gibt, und die müssen thematisiert werden und nicht hinter einem „wir“ verschwinden. Auch muss beachtet werden, dass zu denjenigen, die die Schöpfung in großem Stil belasten, reiche und wohlhabende Familien im Süden der Welt gehören. Die komplexe Realität der heutigen Globalisierung und ihrer Folgen lässt sich nicht mit vereinfachten Kategorien erfassen, bei der „wir“ im Norden die Probleme schaffen. Das „wir“ kann leicht verschleiern, dass jeder und jede die Verantwortung für das hat, was er oder sie den Mitmenschen und der ganzen Schöpfung antut. Damit soll die Verantwortung der westlichen Industriestaaten für die globalen Probleme nicht negiert werden. Als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben wir eine Mitverantwortung dafür, was deutsche Unternehmen oder Politiker in der Welt tun und sagen. Es gibt zum Beispiel auch eine große gemeinsame Verantwortung dafür, dass der Kohlendioxid-Ausstoß drastisch gesenkt wird. Aber „wir“ erhöhen diesen Ausstoß nicht, sondern es sind Individuen und Unternehmen, die sich nicht hinter einer großen Masse verstecken dürfen. Vielleicht gehört es zu den großen Stärken der Botschaft Jesu, dass er individuelle und gemeinsame Verantwortung in eine klare Beziehung gebracht hat. Er hat Einzelnen klar gemacht, wo sie sich falsch verhalten haben (z. B. dem Zolleinnehmer Zachäus)[1], und er hat sich damit auseinandergesetzt, wie mit Strukturen des Unrechts umgegangen werden kann (vgl. zum Beispiel den Umgang mit der Frage, ob den Römern Steuern gezahlt werden sollten[2]).

 

Jesus wollte seine Mitmenschen so zum Nachdenken und zu einem veränderten Verhalten bewegen. Jeder und jede Einzelne ist für das eigene Verhalten verantwortlich und kann sich nicht hinter den anderen verstecken, und gleichzeitig haben wir alle eine Mitverantwortung für die ganze Welt, die Gottes Schöpfung ist. Ein „wir“ ist also überall da angebracht, wo es darum geht, eine gemeinsame Verantwortung wahrzunehmen, und es ist dann ein freiwilliges „wir“, beruht also auf Entscheidungen der Einzelnen. Das hat eine gute biblische Tradition.

 

Die Bibel kann auch helfen, mit den Ohnmachtsgefühlen umzugehen, dass Verhaltensänderungen der einzelnen Menschen angesichts des globalen Charakters der Probleme fast sinnlos erscheinen. Wenn ich kein Auto fahre, aber die Zulassungszahlen in Deutschland weiter stark steigen, was bewirke ich dann? Aus der Bibel können wir die Überzeugung gewinnen, dass das Handeln des oder der Einzelnen wichtig ist, selbst wenn keine unmittelbare Lösung der Probleme bewirkt wird. Wichtig ist aber auch, dass dieses Handeln in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Die Propheten des Alten Testaments haben nicht selten ziemlich allein und ohne sichtbare Erfolge das gesagt und getan, was sie als Gottes Willen erkannt hatten und was dem Wohle und dem Überleben der Gemeinschaft diente. Sie haben nicht nur das eigene Verhalten verändert, sondern auch versucht, auf eine Veränderung der sozialen und ökonomischen Strukturen hinzuwirken. Dazu gehörte es für viele der Propheten, Unrecht öffentlich zu brandmarken und die politische und wirtschaftliche Führungsschicht zu Verhaltensänderungen aufzufordern. Durch das eigene Verhalten gewannen die Propheten Glaubwürdigkeit. Diese setzten sie dazu ein, soziale Veränderungen einzufordern.

 

Auch heute ist ein glaubwürdiges Engagement für eine grundlegende ökologische und soziale Umgestaltung der Gesellschaft und der globalen Beziehungen nicht möglich, wenn der eigene Lebensstil und der eigene Umgang mit Finanzen dem diametral widersprechen. Umgekehrt hilft es wenig, die eigene Lebensweise zu verändern und darauf zu vertrauen, die Situation würde sich schon bessern, wenn alle dies täten. Es muss gleichzeitig etwas dafür getan werden, diese Alternative zu propagieren und in der Gesellschaft durchzusetzen. Bei einer ökumenischen mittel- und osteuropäischen Konsultation zu Globalisierungsfragen im Jahre 2001 in Budapest wurde ein Aufruf verabschiedet, in dem es heißt: „Wir bitten die Kirchen, ihren Mitgliedern zu helfen, traditionelle christliche Werte wie Selbstbeschränkung und Askese (einfache Lebensführung) wiederzuentdecken, und diese Werte in ihrer Gesellschaft als eine Antwort auf Individualismus und Konsumdenken und als alternative Basis für wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu propagieren.“[3]

 

Christinnen und Christen haben gewiss kein Monopol darauf, ein solches Konzept der Verbindung von persönlichem Engagement und Einsatz für tief greifende Veränderungen auf gesellschaftlicher und globaler Ebene umzusetzen. Man muss sogar selbstkritisch feststellen, dass sie solchen Erwartungen oft nicht entsprechen. Aber es bleibt dennoch wahr, dass der Glaube an den einen Gott, der diese Welt geschaffen hat und erhält und der uns zu seinen Haushaltern gemacht hat, eine Motivation und einen Orientierungsrahmen für ein solches Engagement gibt. Die Ökumene als die andere Globalisierung ermöglicht es also, die eigenen kleinen Schritte in den Rahmen eines breiten ökumenischen Engagements zu stellen und in dem Wissen zu handeln, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die für ähnliche Ziele eintreten und die gemeinsam an einer anderen Welt bauen, die nicht von Marktgesetzen und Gewinnerwartungen geprägt ist, sondern von Mitmenschlichkeit und einer tiefen Achtung vor der ganzen Schöpfung.

 

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Visionen und kleine Schritte – Auf dem Weg zu einer anderen Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Vgl. Frank Kürschner-Pelkmann, Gott und die Götter der Globalisierung, (EMW, Weltmission heute 45) Hamburg 2002, S. 87f.

[2] Ebenda, S. 88f.

[3] epd-Dokumentation 22/2002, S. 42