Ein politischer Mord

 

Es war eine wahrhaft befreiende Botschaft, und sie ist es auch nach zwei Jahrtausenden geblieben, die Botschaft, die Menschen bewegt, „Berge zu versetzen“. Nicht resignative Anpassung an das herrschende politische und wirtschaftliche System ist gefragt, sondern ein Leben auf das Reich Gottes hin. Dies ist ein Weg, der nicht ohne Leiden gegangen werden kann. „Der Weg zur Freiheit führt über das Kreuz“ schrieb Albert Lutuli, der Führer des „Afrikanischen Nationalkongresses“ in Südafrika in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.[1] Jesus, Sohn Gottes, also ein Mensch, der Gott mit aller Konsequenz nachfolgte, wusste um die Gefahr, ermordet zu werden. Und er hat seine Jünger darauf vorbereitet, dass die Botschaft, die sie verkündeten, sie notwendigerweise in Konflikt mit den herrschenden Mächten bringen musste. Die letzten Tage vor der Ermordung des Wanderpredigers Jesus sind immer wieder theologisch gedeutet, in Passionsspielen dramatisch dargestellt und sozialgeschichtlich eingeordnet worden. In der christlichen Tradition sind die Ereignisse häufig gegen die jüdische Bevölkerung umgedeutet worden. Das böse Wort von den „Christusmördern“ hat den Holocaust ideologisch mit vorbereitet.

 

Manches an den Ereignissen ist immer noch unklar, und dies schon deshalb, weil die Berichte der Evangelien in einigen Punkten voneinander abweichen, aber es gibt auch vieles, was sie gemeinsam oder doch recht ähnlich berichten. Alle Evangelien berichten, dass Jesus auf einem Esel in die Stadt einritt, dort umjubelt wurde und Aufmerksamkeit erregte. Damit wird der Wahrheitsgehalt der Behauptung untermauert, Jesus sei der Sohn Gottes und der neue König, wie es die Propheten vorausgesagt hatten (Vgl. Jesaja 40,9 und 62,1 sowie Sacharja 9,9).

 

Damit war aber auch das dramatische Ende seines öffentlichen Zeugnisses und seines Lebens eingeleitet. Die Beunruhigung der Herrschenden war vielleicht zunächst noch begrenzt, weil der Einzug der Jesus-Schar inmitten der vielen Tausend Gläubigen doch nicht so viel Aufmerksamkeit erregte, wie die Evangelien es vermuten lassen.[2] Der koreanische Theologe Byung-Mu Ahn hat den Einzug Jesu in Jerusalem so beschrieben: „Jesus reitet auf einem jungen Esel in Jerusalem ... ein. Mit ihm ist eine winzige Schar armseliger Leute. Was hat das zu bedeuten? Den Bewohnern Jerusalems, dem Volk, das den Messias in königlicher Gestalt erwartet, ebenso auch seinen autoritären Oberen, muss der Einzug Jesu auf dem noch niemals gerittenen jungen Esel und mit einem Gefolge von bedeutungslosen Armen lächerlich erscheinen. Doch gibt es auch einige, die ihn lobpreisen. Es sind törichte, ungebildete Menschen. Sie gehören dem Minjung[3] an, das von den Weisen verachtet wird.“[4]

 

Als Jesus die Tische der Geldwechsler umwarf

 

Die Beunruhigung nahm aber deutlich zu, als Jesus im Vorhof des Tempels die Tische der Geldwechsler und Stände der Verkäufer von Opfertieren umwarf und damit handfest seinen Protest gegen ein religiöses System zum Ausdruck brachte, in dem dieser Geldwechsel und der Verkauf von Opfertieren einen festen Platz hatten. Von diesem System lebte eine große Zahl von Priestern, Leviten und natürlich Geldwechslern, und deren Empörung über den Wanderprediger aus Galiläa, der diese Aktivitäten störte, lässt sich durchaus verstehen. Die Protestaktion hatte aber auch eine politische Dimension. Barbara Rauchwarter schreibt über die damalige Funktion des Tempels: „Der Tempel blieb auch unter der römischen Herrschaft Zentrum des Kults, Mittelpunkt der Wirtschaft und Sitz der jüdischen Gerichtsbarkeit. Im Hohenrat saßen die Ansprechpartner der Besatzungsmacht. Hier liefen die Fäden der politischen und religiösen Macht zusammen.“[5] Es spricht deshalb vieles dafür, dass Jesus tatsächlich erst kurz vor seiner Verhaftung und nicht, wie vom Evangelisten Johannes berichtet, am Anfang seines öffentlichen Auftretens diese spektakuläre Aktion im Tempel durchführte. Dass sie am Passahfest stattfand, musste auch die Römer beunruhigen, denn daraus konnten sich religiöse Unruhen entwickeln. Außerdem stellte Jesus sich mit seinem Protest gegen das gut austarierte System einer staatlich geduldeten Religionsausübung bei gleichzeitiger Verpflichtung der religiösen Führer zur Loyalität gegenüber den politisch Mächtigen.[6]

 

Wichtig ist die Protestaktion auch im Blick darauf, wie Jesus die damalige globale Macht herausforderte, welche Form von Protest er also wählte. Dazu schreibt der Industrie- und Sozialpfarrer Walter Sohn: „Jesus dürfte nicht zu mehr gekommen sein als dazu, vielleicht zwei oder drei Tische umzustoßen und dabei die Händler lautstark zu beschimpfen. In einer Ecke des Tempelvorhofes wird er damit immerhin einigen Tumult ausgelöst haben. Jesus kann unmöglich erwartet haben, durch seine Protestaktion den Handel mit religiösen Gebrauchsartikeln auf dem Tempelvorhof abschaffen zu können ... Was war es aber dann, was Jesus hier getan hat? Was dann von dieser Szene bleibt, ist eine Zeichenhandlung, ein Fanal. Ein Geschehen, das sich unweigerlich dem Gedächtnis einprägt, weil es die Situation blitzartig erhellt; deutlich macht, was hier eigentlich gespielt wird, welche Kräfte da am Werke sind und was da bis ins Innerste hinein verkehrt ist ... Die Zeichen, die im Namen des Herrn getan werden, wird man immer daran erkennen, wie sie mit Macht und Ohnmacht umgehen. Sie spielen die Macht nicht aus (insofern verstehen wir den wütenden Jesus vom Tempelvorhof nur dann richtig, wenn wir uns klarmachen, dass er ein paar Tage später elend am Kreuz hängt). Zeichen im Namen unseres Herrn sind Zeichen des Lebens gerade mitten aus der Situation der Ohnmacht, des Leides, des Todes heraus.“[7]

 

Wer den „Frieden“ der Römer stört

 

Dass Jesus nicht gleich festgenommen wurde, hing vermutlich damit zusammen, dass die religiösen und politischen Autoritäten Aufsehen vermeiden wollten. Gesichert ist, dass er kurz nach dieser Aktion im Tempelvorhof festgenommen, abgeurteilt und von den Römern gekreuzigt wurde, also als vermeintlicher Terrorist angesehen und ermordet wurde. Da in Judäa und Galiläa der Widerstand gegen die römische Herrschaft immer wieder aufflammte, waren die Machthaber schnell bei der Hand, tatsächliche oder vermeintliche Gegner ihres Weltreiches zu ermorden. Die „Pax Romana“ galt nicht für Leute, die im Verdacht standen, den „Frieden“ der globalen Herrschaft Roms zu stören.

 

Welche Rolle aber spielten der Hohepriester und seine Anhänger, die nach den Berichten der Evangelien ganz entscheidend dazu beitrugen, dass die Römer Jesus hinrichteten? Hier nun stoßen wir auf Strukturen, die vielen globalen Machtverhältnissen zu eigen sind, und die die Behauptung als Legende erscheinen lassen, heute seien die globalen Strukturen um vieles komplizierter und raffinierter als im alten Rom. Die Römer setzten nämlich eine lokale politische und religiöse Führung der unterworfenen Länder ein, um die Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. Die von ihnen bestimmten obersten Priester waren ihnen gegenüber dafür verantwortlich, dass es zu keinen religiös begründeten Unruhen kam. Diese Priester waren aber nicht lediglich willfährige Erfüllungsgehilfen der römischen Herrschaft, sie wussten auch, welches Blutvergießen mit einem Aufstand verbunden sein würde und kannten die militärische Stärke der Römer. Sie waren deshalb überzeugt, dass ein Aufstand sinnlos war und zeigten sich deshalb zu einer Anpassung an die Regeln der römischen Herrschaft bereit.

 

Sie vertraten also eine Position, die die Repräsentanten der christlichen Kirchen später ebenfalls oft vertreten haben. Angesichts übermächtig erscheinender globaler oder regionaler Mächte waren sie daran interessiert, die Ausübung der religiösen Riten und die Existenz der religiösen Institutionen zu bewahren. Der Hohepriester und der Hohe Rat konnten darauf verweisen, dass die römischen Herrscher den Juden immerhin in einigen Punkten entgegengekommen waren. So mussten sie keinen Militärdienst leisten, weil dies bedeutet hätte, hinter einer Standarte mit dem Bild des Kaisers in den Krieg zu marschieren. Auch auf einigen anderen Gebieten wurde auf die religiösen Überzeugungen der jüdischen Bevölkerung Rücksicht genommen, sicher aus der pragmatischen Überlegung der Römer, endlich Ruhe in diesem durch Aufstände geprägten Teil des Reiches zu schaffen.

 

Jesus als Gefahr für Ruhe und Ordnung

 

Aus der Sicht des Hohepriesters gab es also gute Gründe, die Römer nicht zu provozieren, und der Wanderprediger aus Galiläa bildete zweifellos eine Gefahr für Ruhe und Ordnung, wie sein Einzug in Jerusalem und sein Verhalten im Tempelvorhof zeigten. Dass es auch Neidgefühle gegenüber dem Prediger aus der hintersten Provinz gab, der so viele Menschen anzog, ist wahrscheinlich. Aber im Kern waren die Priester am Tempel im System der geschickten Einbeziehung der lokalen Autoritäten in das römische Herrschaftssystem verfangen. Sie hatten für Ruhe und Ordnung zu sorgen, und die Römer griffen erst ein, wenn dies nicht gelang – für die lokalen Verantwortlichen selbstverständlich mit gravierenden Konsequenzen. Sie wurden haftbar dafür gemacht, dass es zu den Unruhen gekommen war. Es bestehen Ähnlichkeiten zur vorherrschenden Globalisierung, auch wenn das heutige System noch komplexer ist.

 

Der Hohepriester sah also in Jesus eine Gefahr für Ruhe und Ordnung. Außerdem waren seine religiösen Vorstellungen weit von den seinen entfernt. Deshalb hat er – soweit wir dies heute noch nachvollziehen können – zur Verhaftung und Ermordung Jesu beigetragen. „Die Juden“ waren es jedenfalls nicht, und wenn dieser Eindruck in den Evangelien entsteht, so ist dies aus dem schwierigen Trennungsprozess von Judentum und Christentum zu verstehen. Dennoch haben manche Aussagen in den Evangelien über die Rolle „der Juden“ bei der Hinrichtung Jesu bis hin nach Auschwitz katastrophal gewirkt.[8]

 

Jesus stand keineswegs mit einer kleinen Gruppe von Anhängern allein, das beweist – bei aller Zurückhaltung in der Bewertung der Beschreibungen – schon sein Einzug in Jerusalem. Sein Eintreffen erfolgte zu einem brisanten Zeitpunkt in den politischen und religiösen Auseinandersetzungen. Die Sadduzäer hatten, wie dargestellt, einen politischen Kompromiss mit den Römern geschlossen, der eine Ausübung religiöser Gesetze und Rituale ermöglichte. Von ihnen konnte Jesus in dieser kritischen Lage keine Unterstützung erwarten. Anders stand es mit den Pharisäern. Mit ihnen verband Jesus die Ablehnung des römischen Herrschaftssystems und die Überzeugung, dass man nicht Gott und dem römischen Kaiser dienen konnte. Aber die Vorstellungen, wie diese Überzeugungen umgesetzt werden konnten, unterschieden sich.

 

Die Pharisäer sahen es als ganz entscheidend an, in chaotischen Zeiten besonders genau nach den Gesetzen der Tora zu leben. Im Kern vertraten sie eine Position der inneren Distanz zu den herrschenden Mächten, der Bewahrung der religiösen Traditionen und der Kompromisse, wo diese unumgänglich waren. Jesus wählte wie dargestellt einen anderen Weg, sich mit den globalen Machtstrukturen auseinanderzusetzen. Dabei nahm er die kultischen Gebote ernst, stellte sie aber hintan, wenn es darum ging, Leben zu bewahren. Im Rückblick fallen aber trotzdem die vielen Ähnlichkeiten in den Vorstellungen der Pharisäer und der Jesus-Leute auf.[9]

 

Für die Gruppe der Zeloten, die viel Sympathie im Volk genoss, und deren Anhänger offenbar von Jesu Auslegung der Botschaft vom Reich Gottes beeindruckt und angezogen waren, war dessen konsequent friedliche Vorgehensweise nicht nachvollziehbar. Aber man kann davon ausgehen, dass unter denen, die Jesus zujubelten, viele waren, die mit den Zeloten sympathisierten. Es gab also für Jesus viele Anknüpfungspunkte für das Gespräch mit den Pharisäern und er konnte auf viel Sympathie auch bei radikalen Gruppen rechnen, aber das machte ihn aus der Sicht der Mächtigen nur noch gefährlicher.

 

Sie fürchteten, dass Jesus gewollt oder ungewollt einen Aufstand auslösen würde. Das hätte dann den mühsam erreichten Status quo, der den Sadduzäern so wichtig war, zerstört. Martin Forward schreibt hierzu in seiner Jesus-Biographie: „... war alles, was Jesus tat und was politische Auswirkungen haben konnte, dazu angetan, das heikle Gleichgewicht, das die Tempelautoritäten mit den römischen Herrschern gefunden hatten, zu stören. Kollaborateure sind nur so lange willkommen, wie sie den wichtigsten Anliegen der Besatzungsmacht dienen, indem sie den Frieden wahren helfen und potenzielle wie tatsächliche Abweichler ausmerzen. Die Sadduzäer wussten das und waren bereit, Jesus zur Strecke zu bringen.“[10]

 

Es bestand also eine tiefe Kluft zwischen den Sadduzäern und Jesus. Ob sie wirklich so groß war, wie sie von den Evangelisten beschrieben wird, muss offen bleiben, denn die Evangelien entstanden in einer Zeit heftiger Konflikte zwischen den Jesus-Anhängern und den jüdischen Gruppen, die nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem einen neuen religiösen Weg suchten, Jesus aber nicht als Messias anerkannten. Außerdem waren die Jesus-Anhänger unter Druck der römischen Machthaber und wollten vermutlich ihre Situation nicht noch dadurch verschlechtern, dass sie in ihren Büchern die Römer allein für den Tod Jesu verantwortlich machten.[11]

 

Es gab also Gründe für den Hohepriester, Jesus nachts verhaften zu lassen und in seinem Haus zu verhören. Eine Gerichtsverhandlung im eigentlichen Sinne hat wohl nicht stattgefunden, und war auch schon deshalb nicht geboten, weil die religiösen Autoritäten gar nicht berechtigt waren, über ein so schweres Verbrechen zu urteilen, das mit dem Tode bestraft werden konnte. Ein todeswürdiges Verbrechen war allerdings auch in römischen Zeiten das Umwerfen einiger Tische von Geldwechslern im Tempelvorhof nicht, und mit der Frage, ob Jesus der Messias war, würden die Römer sich gewiss nicht abgeben. Deshalb wurde vonseiten der religiös Mächtigen der Vorwurf erhoben, Jesus habe sich als „König der Juden“ bezeichnet, so erscheint es jedenfalls in den Evangelien. Den Königstitel zu beanspruchen, erfüllte nach römischem Recht den Tatbestand des Hochverrats, und deshalb waren die politischen Autoritäten der Stadt gezwungen, sich mit dem Fall auseinanderzusetzen.

 

Pilatus wusch seine Hände nicht in Unschuld, aber unschuldig war er vermutlich nicht

 

Welche Rolle spielten die Römer bei der Ermordung Jesu? Sie hatten zunächst einmal kein Interesse daran, in die innerjüdischen religiösen Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Religiöse Konflikte hatten immer das Potenzial, in Gewalt zu münden, und waren für die Vertreter des Römischen Reiches vermutlich ziemlich undurchschaubar. Das sollten gefälligst die eingesetzten einheimischen Vertreter des Weltreiches klären.[12] Wohl deshalb war Pilatus, ansonsten als sehr brutaler Herrscher bekannt, vielleicht zögerlich, sich in den Konflikt um diesen Wanderprediger aus Galiläa einzuschalten. Gemäß dem Bericht von Lukas ließ er Jesus zunächst zu Herodes Antipas bringen, damit dieser von den Römern eingesetzte jüdische Herrscher von Galiläa sich der Sache annehmen sollte, aber der lehnte das ab (vgl. Lukas 23,6-12).

 

Als Pilatus merkte, dass der Konflikt so brisant war, dass daraus Unruhen entstehen konnten, ließ er Jesus hinrichten.[13] Dabei spielte vermutlich auch das komplizierte Verhältnis zum Hohepriester eine Rolle. Zwar war Pilatus als Vertreter der Weltmacht dem lokalen Oberpriester weit überlegen, aber sein schwacher Punkt war, dass er bekanntermaßen korrupt war, und die Drohung von Kaiphas, sich nach Rom zu wenden, konnte dazu führen, dass das Finanzgebaren des Pilatus näher untersucht würde.[14]

 

Die Weltmacht Rom hatte schon häufiger Leute in die Verbannung geschickt, die sich als unfähig oder korrupt erwiesen hatten. Das wollte Pilatus nicht wegen irgendeines Wanderpredigers riskieren. So jedenfalls könnte es gewesen sein. Denkbar wäre aber auch eine sehr viel aktivere Rolle der Römer, die mit einem Aufrührer, der dazu noch im Ruf stand, König werden zu wollen, kurzen Prozess gemacht und ihn gekreuzigt haben.[15]

 

Pilatus konnte ja nicht ahnen, dass er mit dem Hinrichtungsurteil auf ewig einen festen, wenn auch nicht ehrenhaften Platz im christlichen Glaubensbekenntnis erwerben würde. Er handelte sicher nach politischen Maßstäben, und danach war Jesus nur einer von zahllosen Aufrührern, der zudem im Ruf stand, sich König zu nennen. Wie brisant der Versuch war, den Königstitel anzustreben, musste einige Jahre später Herodes Antipas erleben, als er in Rom nachsuchte, den Königstitel verliehen zu bekommen. Dort war man über dieses Ansinnen so ungehalten, dass Herodes seiner Ämter enthoben und nach Lyon verbannt wurde.[16]

 

Sehr unwahrscheinlich ist, dass Pilatus seine Hände in Unschuld wusch, obwohl er dafür in die Geschichte eingegangen ist. Diese jüdische Tradition war bei den Römern unbekannt, und es ist geradezu unmöglich, dass Pilatus bei einem offiziellen Auftritt als Repräsentant der römischen Staatsmacht diese Sitte übernommen hat, zumal sie ein gehöriges Maß an Machtlosigkeit zum Ausdruck gebracht hätte.[17]

 

Nein, eine Weltmacht wäscht ihre Hände nicht in Unschuld, sondern sie handelt, wenn es erforderlich ist, mit aller Brutalität, und mit der festen Überzeugung, alles zum Wohle der eigenen Macht und des selbst definierten Gemeinwohls zu tun. Jesus wurde gekreuzigt, und damit war die „Pax Romana“ in Jerusalem und Umgebung erst einmal wieder gesichert.

 

Der Tod am Kreuz

 

Das letzte Wort zu diesem „kurzen Prozess“ einer Weltmacht mit einem Wanderprediger soll der jüdische Theologe und Schriftsteller Pinchas Lapide haben. Er schreibt in seinem Buch „Der Jude Jesus“: „Die fundamentalen Tatsachen, die sich hinter all dieser antijüdischen Polemik verbergen, treten dennoch für den aufmerksamen Leser klar hervor: Die Verhaftung Jesu wurde von römischen Truppen befehligt (Mk 14,43). Es war römisches Recht – lex julia majestatis – das bei Jesus angewandt wurde; nur der römische Landpfleger besaß die Kompetenz, ihn zum Tod zu verurteilen, was er tat, obwohl er wusste, dass Jesus unschuldig war (Lk 23,4 par). Die sadistisch brutale Art der Hinrichtung war römisch und dem jüdischen Strafrecht unbekannt. Ebenso waren es römische Soldaten, die Jesu blutenden Körper auspeitschten, ihn – und mit ihm sein ganzes Volk – als angespienen, gedemütigten und dornengekrönten ‚Judenkönig’ verhöhnten, um dann seine Glieder an ein römisches Kreuz zu nageln. Aber Juden waren es, die ‚in großen Scharen folgten’ (Lk 23,27), als ihr Landsmann den Hügel Golgatha erstieg. Jüdinnen versuchten, seine Qualen mit einem Betäubungstrank zu lindern (Mk 13,23). Jüdisch waren ebenso die Frauen, ‚die ihn beweinten und beklagten’ (Lk 23,27), wie auch die Volksmassen, die sich trauernd ‚an die Brust schlugen’ (Lk 23,48). Zwei jüdische Schicksalsgefährten teilten sein Los, als er verschied. Ebenso waren es Juden, die den toten Jesus liebevoll vom Kreuz herabnahmen, um ihm ein würdiges jüdisches Begräbnis zuteil werden zu lassen (Lk 23,50ff.). Schließlich waren es Juden, die als erste seine Frohbotschaft predigten; den Juden erschien er als Auferstandener, und Juden waren es, welche die ersten Kirchen gründeten.“[18]

 

Der Tod Jesu am Kreuz war das Ende eines Lebensweges und zugleich ein Neubeginn. 1986 hat der damalige ÖRK-Generalsekretär Emilio Castro (Argentinien) auf einer internationalen Diakonie-Konferenz in Larnaka/Zypern erläutert: „Das Kreuz Jesu Christi ist das einzige christliche Vorbild für unsere Beziehung zur Welt. Ich kann die Welt aus keiner anderen Perspektive als aus der des Kreuzes sehen. Das Kreuz hilft uns, die Wirklichkeit des Bösen, die mächtige Gegenwärtigkeit der Sünde in all ihren menschlichen Äußerungen zu erkennen. Es öffnet uns auch die Augen für die Wirklichkeit der zahllosen unterdrückten Menschen in der Welt, für die Machtlosigkeit derer, die wie Jesus am Kreuz an den Rand gedrängt werden. Gleichzeitig lässt uns das Kreuz aber auch die Wirklichkeit der durch Gott in Jesus Christus bewirkten Erlösung und die Qualität eines Lebens erkennen, mit der er sich der Welt annimmt, sie erlöst und befreit.“[19]

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Vgl. Albert Lutuli: The Road to Freedom is via the Cross, Publikation des African National Congress, ohne Jahr

[2] Vgl. Karl Jaroš: Jesus von Nazareth, Geschichte und Deutung, Mainz 2000, S.300

[3] Minjung ist der Ausdruck für die Armen und Ausgegrenzten in Korea, vgl. auch den Abschnitt über die koreanische Theologie in dieser Veröffentlichung.

[4] Byung-Mu Ahn: Draußen vor der Tür, Kirche und Minjung in Korea, Göttingen 1986, S. 73

[5] Barbara Rauchwarter: Tempelreinigung, in: EMS-Jahrbuch 17, Stuttgart 2000, S. 65

[6] Vgl. Sharon Ringe: Jesus’ criticism of the temple economy, in: Colloquium 2000, edited by Ulrich Duchrow, Studies from the World Alliance of Reformed Churches 45, Genf 2002, S. 72ff.

[7] Walter Sohn: Zeichen setzen!, in: Experimentelle Theologie, Freundschaftsgabe für Kristian Hungar zum 60. Geburtstag, Heidelberg 1995, S. 149ff.

[8] Vgl. zu diesem Zusammenhang z. B.: Jochen Vollmer: Der Jude Jesus, Warum die Kirche Israel nicht vergessen darf, in: Evangelische Kommentare, 7/2000, S. 38ff.

[9] Vgl. Dorothee Sölle/Luise Schottroff: Jesus von Nazaret, München, S. 60f.

[10] Forward: Jesus, Eine Biografie, Freiburg im Breisgau 2000, S. 147

[11] Vgl. hierzu u. a. ebenda, S. 145f.

[12] Der jüdische Philosoph Philo zeichnet im ersten Jahrhundert dieses Bild von Pilatus: „Er war ein Mann unbeugsamen Charakters und zugleich sehr mitleidlos und hartnäckig. Da waren seine korrupte Regierung, seine herausfordernde Unverschämtheit und seine Raubtaten und seine Grausamkeit und seine fortgesetzten Hinrichtungen ohne Gerichtsverhandlung und Urteil und seine nicht endende willkürliche und höchst bedauerliche Unmenschlichkeit. Und stets war er ein Mann der wildesten Leidenschaften.“ Zitiert nach: John Dominic Crossan: Die Akte Jesus, in: NZZ Folio, 12/1999

[13] Von den Drohungen gegen Pilatus ist in Johannes 19,12 die Rede.

[14] Vgl. auch: Hubertus Halbfas: Die Bibel, Düsseldorf 2001, S. 452ff.

[15] Vgl. hierzu u. a. Theißen/Merz: Der historische Jesus, Göttingen 2001, S. 399ff.

[16] Vgl. Michael Ernst: Die sozioökonomischen Verhältnisse in Palästina zur Zeit Jesu, in:Füssel/Segbers: „... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit“, Luzern und Salzburg 1995 S. 69

[17] Vgl. Jaroš: Jesus von Nazareth, Mainz 2000, S. 328f.

[18] Pinchas Lapide: Der Jude Jesus, Düsseldorf/Zürich 2000, S. 80f.

[19] Emilio Castro: Ökumenische Ökonomie, in: der überblick, 1/87, S. 78