Jesu Leben im Gegenüber zu einer globalen Macht

 

„Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.“ (Markus 10,42) Wie haben sich Jesus und seine Anhänger gegenüber der damaligen „Globalisierung“ verhalten? Auffällig ist zunächst, dass sie die direkte Konfrontation mit den militärisch mächtigen Römern vermieden. Anders als die Gruppe der Zeloten glaubten sie nicht daran, die Gegner militärisch besiegen zu können. Umgekehrt waren sie aber auch nicht zur Kollaboration mit den Römern bereit. Während seiner Wirkungszeit als Prediger zog Jesus vor allem durch ländliche Gebiete und vermied so auch die Begegnung mit den politisch Mächtigen, die das Land im Auftrag Roms regierten. Als Wanderprediger war es für ihn natürlich leichter, die Zusammenarbeit mit den Repräsentanten der Besatzungsmacht zu vermeiden, als dies für den Hohepriester am Tempel in Jerusalem war. Jesus ließ sich nicht in das System der Diplomatie mit der globalen Macht integrieren, sondern hat dieses wohlaustarierte System sogar herausgefordert, als er die Geldwechsler im Vorhof des Tempels angriff.

 

Jesus predigte auch nicht den Rückzug aus der Gesellschaft und den Weg in die Einöde, sondern er propagierte einen Weg, der sichtbar machen sollte, dass das Reich Gottes schon mitten in dieser Welt beginnt. Er stellte sich in die Tradition der Propheten, indem er Missstände in der Gesellschaft und auch der Religionsgemeinschaft mit deutlichen Worten kritisierte und zur Umkehr aufforderte. Gerade darin, dass er nicht nur Missstände benannte, sondern auch eine Vision von einem anderen Leben darlegte und gemeinsam mit seiner Anhängerschar an deren Verwirklichung arbeitete, wurde Jesus gefährlich für die Machthaber, die die „Pax Romana“ als einzige Alternative zum großen Chaos ansahen und die – in heutigen Kategorien – mit dieser römischen Herrschaft „das Ende der Geschichte“ gekommen sahen. Es gab für die römischen Herrscher keine lebenswerte Alternative zu ihrem „Frieden“. Und es dauerte Jahrzehnte, bis sie die Lehre des Wanderpredigers aus Palästina als Alternative zu ihrem religiös verbrämten Herrschaftssystem wahr- und später auch ernstnahmen.

 

Das Unrecht muss beim Namen genannt werden, und es gibt eine Alternative. Diese Botschaft Jesu ist aktuell geblieben. Sie kann allerdings nicht losgelöst werden von der Erwartung des kommenden und schon beginnenden Reiches Gottes. Das unterscheidet Jesu Botschaft von einem politischen Programm und macht deutlich, dass man seine radikalen Positionen nicht von dem tiefen Glauben an den einen Gott, der die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, trennen kann.

 

Dies ist jedenfalls das Bild, dass man aus den Evangelien gewinnen kann. Aber Jesus war aus der Sicht der Mächtigen nur einer von vielen Wanderpredigern, dem sie kaum Beachtung schenkten und ihn zu Lebzeiten nicht in ihre umfangreichen Beschreibungen der Verhältnisse in Rom und den abhängigen Gebieten aufnahmen.

 

Die zeitgenössischen Quellen über Jesus sind spärlich und zudem noch unzuverlässig.[1] Die Historiker der damaligen Zeit schrieben über die Herrscher, nicht über einen Wanderprediger im abgelegenen Galiläa. Um so bedauerlicher ist, dass auch die Jesus-Anhänger zunächst wenig aufschrieben und diese Schriften, wenn es sie denn gab, heute nicht mehr aufzufinden sind.[2]

 

Der größte Teil der Jesus-Anhänger waren arme Leute, die nicht lesen und schreiben konnten und schon deshalb nicht in der Lage waren, das Geschehene und Gehörte aufzuschreiben. Das Christentum entstand aus einer zunächst kleinen Bewegung armer Leute, die all ihre Hoffnung auf das Reich Gottes setzten. Die Jesus-Anhänger selbst hielten es offenbar zunächst nicht für so wichtig, das aufzuschreiben, was sie erfahren hatten, erwarteten sie doch die baldige Wiederkehr ihres Herrn. Später hat Paulus die Aufgabe übernommen, die Lehre Jesu systematisch zu erfassen und weiterzuvermitteln, so wie er sie verstanden hat. Ein Biograf Jesu wollte er offenbar nicht werden. Es ging ihm vor allem um die Botschaft von Tod und Auferstehung des Mannes aus Nazareth, die es galt, bis an die Enden der Welt zu tragen.[3]

 

Es ist also kein Zufall, dass die schriftlichen Quellen zur Zeit Jesu keine Hilfe sind, etwas über den historischen Jesus zu erfahren. Aber es bleiben uns die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Briefe. Sie sind so vielfältig und widersprüchlich wie das Leben selbst, und doch sind sie das wichtigste Fundament einer weltweiten Bewegung geworden, der heute mehr als eine Milliarde Menschen angehören. So wenig wir historisch abgesichert über Jesu Leben wissen[4], so ist im Neuen Testament doch eine Botschaft erhalten geblieben, die die Welt verändert hat und verändern kann. Der Nürnberger Theologe Claus Petersen hat in einem Beitrag der Zeitschrift „Publik-Forum“ unter dem Titel „Wie Jesus an das Reich Gottes glauben“ über diese Botschaft geschrieben:

 

„Welche eine Botschaft! Welch eine eigentlich nicht mehr steigerungsfähige Hoffnung! Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung – keine Randthemen mehr, sondern die zentralen Anliegen jesuanischer Religiosität. Ein Leben im Miteinander und in Verbundenheit und nicht mehr in Konkurrenz und ausgerichtet auf persönlichen Gewinn. Gottesdienst im Alltag. Ein einfacher, bewusster Lebensstil, das heißt jetzt Frömmigkeit. Und immer wieder die Feier des Lebens, der Geschwisterlichkeit aller Menschen, des Einsseins mit der ganzen Schöpfung. Gibt es ein überzeugenderes Gegenmodell gegen die wirtschaftliche Globalisierung, die weltweite Ausbeutung so vieler Menschen und der Natur als die Vision Jesu, dass Himmel und Erde sich berühren und mehr und mehr miteinander verschmelzen, dass diese Erde Himmel ist und werden soll?“[5]

 

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Auch die immer wieder zitierten Sätze des jüdischen Autors Josephus sind in der heute überlieferten Form mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht echt, und ob sie einen echten Kern enthalten, bleibt umstritten, vgl. hierzu: Karl Janoš: Jesus von Nazareth, Mainz 2000, S. 98ff.

[2] Schon alt ist die These, dass es eine Sammlung von Jesus-Aussagen gab, die älter ist als die Evangelien und auf die die Evangelisten Zugriff hatten. Sie wird die Logienquelle Q (Q für Quelle) bezeichnet und soll bereits Mitte des 1. Jahrhunderts entstanden sein (vgl. hierzu das Interview mit Paul Hoffmann in: Publik-Forum, 4/2001, S. 26f.). Wenn es diese Sammlung gegeben hat, handelte es sich also wahrscheinlich um mündlich überlieferte Jesus-Worte, um jene Worte, die einzelnen Zuhörerinnen und Zuhörern so wichtig waren, dass sie sie im Gedächtnis behalten haben.

[3] Der Theologe und Rundfunkjournalist Eike Christian Hirsch hat auf Grund der biblischen Quellen über einen Besuch des Paulus in Jerusalem geschrieben: „Niemanden sonst von denen, die Jesus noch selbst gekannt hatten, außer Jakobus, den Bruder Jesu, wollte er sehen. Er hatte nicht einmal den Wunsch, etwas über Jesus und sein Leben zu erfahren.“ Eike Christian Hirsch: Mein Wort in Gottes Ohr, Hamburg 1995, S. 175

[4] Es gibt viele Theologen, die die Suche nach dem historischen Jesus für eine hoffnungslose Sache halten, manchmal mit dem Effekt, dass sie in den Predigten diese Frage außen vor lassen und so tun, als seien die Evangelien eine exakte Wiedergabe dessen, was Jesus gesagt und getan hat. Aber spätestens bei der Frage nach den Widersprüchen zwischen den Evangelien erleidet diese „Doppelstrategie“ des heimlichen eigenen Zweifels und der ungebrochenen historisierenden öffentlichen Predigt Schiffbruch. Die Frage nach dem historischen Jesus bleibt aktuell und wichtig, auch wenn es nur wenige gesicherte Erkenntnisse gibt. Vgl. zu dieser Diskussion u. a. die Beiträge von Peter Rosien „Glaube und Erfahrung – Baustelle Jesus (Publik-Forum 15/2000, S. 22ff.) und „Der konstruierte Jesus und ich“ (Publik-Forum 15/2001. S. 46ff.). Einen guten Einblick in die Diskussion bietet das Buch „Der historische Jesus“ von Gerd Theißen und Annette Merz (Göttingen 2001).

[5] Claus Petersen: Wie Jesus an das Reich Gottes glaubte, in: Publik-Forum, 22/2000, S. 44