Brunnen

 

Brunnen waren in biblischen Zeiten Orte des Streites, aber vor allem der Kommunikation – und das ist bis heute so geblieben. Immer wieder wird in der Bibel berichtet, wie Menschen an einem Brunnen ins Gespräch kamen. Ein solches Gespräch, das der Evangelist Johannes überliefert hat, ist die Begegnung Jesu mit einer Samariterin am Jakobsbrunnen (Johannes 4,1–42). Dass Jesus sie zur Mittagsstunde traf, deutet auf ihre soziale Situation hin. Sie lebte unverheiratet mit einem Mann zusammen und hatte Beziehungen zu anderen Männern. Das isolierte sie im Ort, und deshalb holte sie nicht zusammen mit den anderen Frauen am frühen Morgen Wasser vom Brunnen. Soziale Ausgrenzung, so zeigt dieses Detail der Geschichte, führt auch im Zugang zum Wasser zu einer Isolierung und zur Benachteiligung (die Frau musste in der Hitze des Tages zum Wasserholen gehen, diese Arbeit war also für sie noch müh­samer als für andere Frauen).

 

So trafen sich an diesem Mittag zwei Außenseiter am Brunnen. Die isolierte Frau und der arme Mann aus dem benachbarten, aber verfeindeten Volk, dazu noch ein armer Wander­prediger, der sich mit seiner Botschaft viele Feinde gemacht hatte. Jesus bat die Frau zu ihrer Verwunderung, Wasser für ihn zu schöpfen. Die Beziehungen zwischen samaritischer und jüdischer Bevölkerung waren so schlecht, dass man einander nicht das Wasser reichen wollte. Dadurch, dass Jesus um Wasser bat, baute er eine Beziehung zu der Frau auf, so wie einst der Knecht Isaaks mit der Bitte um Wasser das Gespräch und das Werben um Rebecca für seinen Herrn begonnen hatte (1. Mose 24).

 

Es ist sicher kein Zufall, dass die Begegnung Jesu mit der Samariterin am Brunnen ein Motiv aus dem Alten Testament aufnimmt. Elisabeth Moltmann-Wendel interpretiert diese Bitte um Wasser in dem Sammelband „Mit Eva predigen“ so: „Gib mir zu trinken – das heißt: Gib mir Nähe, Freundschaft, Zuneigung. Gib mit Verständnis, und ich will dir Verständnis geben. Gib mir Freundschaft und ich will dir Freundschaft geben. Gib mir etwas von dir, und du wirst etwas von mir bekommen. Gib mir zu trinken.“ Wasser ist ein Zeichen für Gastfreundschaft und beginnende Freundschaft.

 

Dass die Frau dennoch zögerte, dem Fremden Wasser zu geben, lag an den sozialen und politischen Konflikten ihrer Zeit, die sich bis in so einfache Gesten wie dem Reichen von Wasser auswirkten. Jesus beantwortete ihre verwunderte Frage mit dem Hinweis auf das lebendige Wasser, das er geben konnte: „Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten, wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, der wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“ (Johannes 4,13–14) Es schloss sich ein Gespräch über das Wasser des Heils an, mit dem Ergebnis, dass die Frau zu Gottes Botin wurde und Menschen zum Heil rief: „Es glaubten aber viele der Samariter aus dieser Stadt um der Rede der Frau willen, die bezeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe.“ (Johannes 4,39) Jesus blieb einige Zeit bei den Menschen in Samarien und viele fanden durch ihn zum Glauben.

 

Beim Gespräch am Brunnen wird deutlich, wie kostbar Wasser ist und dass Gottes Geschenk an die Menschen in dem Wasser des Lebens besteht. Olivia, eine der Frauen, die mit Ernesto Cardenal in Solentiname/Nicaragua über biblische Texte sprach, hat dies so ausgedrückt: „Es heißt, das Wasser, das Jesus uns gibt, würde in uns zu einem quellenden Brunnen. Das heißt, er gibt es, aber es quillt in uns. Es ist das Leben Gottes, das er uns gibt, das heißt, die Liebe. Er nennt es ewiges Leben, weil es das Leben Gottes ist. Aber es quillt aus uns selbst; es ist kein Brackwasser, sondern eine Liebe, aus der das Leben fließt.“ Elbis antwortete da­rauf: „Alle, die für die Befreiung kämpfen, bringen das Wasser des Lebens in alle Teile der Welt, wie eine Quelle. Die Be­freiung ist wie ein Fluss des Lebens für die ganze Menschheit, der schließlich in das ewige Leben mündet.“

 

Über diese Überlegungen werden die Wasserprobleme im alltäglichen Leben nicht vergessen. Die Hoffnung der Samariterin, nie wieder Wasser schöpfen und ins Dorf tragen zu müssen, trifft sich mit den Hoffnungen der Menschen in Solentiname. Dazu sagte Ernesto Cardenal im Gespräch: „Auch hier in Solentiname müssen die Frauen oder Kinder noch immer Wasser holen. Die Gabe, die Jesus brachte, sollte alle Probleme der Menschheit lösen, auch die Wasserprobleme.“ Wie in der biblischen Geschichte vom Gespräch am Brunnen das Trinkwasser im Brunnen und das Wasser des Heils in einer Beziehung stehen, erkannten auch die Menschen in Solentiname, dass Alltag und Heil beim Wasser nicht auseinanderdividiert werden können. Beides muss zusammenkommen. Hören wir noch einmal in das Gespräch in Nicaragua hinein. Oscar: „… ich meine, das einzige, was man in den zivilisierten Teilen schon erreicht hat, ist, dass man keine Eimer mehr schleppen muss; der wirkliche Durst ist immer noch nicht gestillt, eben weil die Menschen noch nicht vereint sind. Oder vielleicht sind sie vereint, aber ohne Liebe, und an diesem Durst kann keine Wasserleitung etwas ändern.“

 

Wie die samaritanische Frau können wir erkennen, wie wichtig neben dem Wasser aus dem Brunnen das lebendige Wasser ist, von dem wir in der Bibel erfahren. Annette Leppla hat 2003 in einem theologischen Beitrag in der Zeitschrift „eFa – Zeitschrift für evangelische Frauenarbeit“ über dieses lebendige Wasser geschrieben: „Auch uns ist das lebendige Wasser ge­schenkt, wenn wir uns auf unserer Wanderschaft durch das Leben durstig und ausgetrocknet fühlen … Wir dürfen allen Ballast von uns abspülen lassen. Alle Fehler, all unser Versagen, unsere Unzulänglichkeit, unsere Angst, unsere Schuldgefühle, den Druck, unter dem wir stehen, sie alle gelten nicht mehr. Wir dürfen neu ins Leben gehen. Vom lebendigen Wasser werden wir verwandelt. Lebendiges Wasser stillt unseren Durst nach Leben.“

 

Der Bau von Brunnen in Togo

 

Wie viele andere Akteure des sozialen Engagements im Wasserbereich ergreifen auch kirchliche Entwicklungsorganisationen, Missionswerke und lokale Kirche zahlreiche Initiativen, um Brunnen zu graben. Ein Beispiel da­für sind die Brunnen, die von Frauengruppen in der Evangelischen Kirche von Togo mit finanzieller Unterstützung der Norddeutschen Mission mit Sitz in Bremen gebaut werden. Anders als bei vielen früheren Wasserbauprojekten werden die Frauen bei diesen Vorhaben an der Planung, Entscheidung und Durchführung aktiv beteiligt. Das hat auch die Stellung der Frauen in ihren lokalen Gemeinschaften gestärkt. Pastorin Maryse Adubra, die Leiterin des Evangelischen Frauenverbandes für Entwicklung und Solidarität in Togo, beschrieb die Veränderungen vor einigen Jahren so: „Es ist wunderbar, zu sehen, mit welchen Fähigkeiten und mit welchem Selbstbewusstsein die Frauen agieren.“

 

In den Gebieten, in denen schon Gemeinschaftsbrunnen gebaut worden sind, müssen die Frauen in der Trockenzeit nicht mehr große Strecken zurücklegen, um Wasser aus Flüssen oder Tümpeln zu holen. Sie sind, wie in vielen Gesellschaften der Welt (und auch im antiken Samarien), für die Beschaffung von Wasser zuständig. Pastorin Adubra hat die Situation so beschrieben: „Sie brauchen Wasser für die ganze Familie zum Trinken, Kochen, zur Körper-Hygiene, zum Wäsche waschen und zur Bewässerung der Gemüsefelder.“ Frauen müssen also oft Wasser holen, um diesen Bedarf zu decken, und je weiter die Wasserquelle entfernt ist, desto mehr Zeit geht für andere Aufgaben verloren. Vor allem die zunehmende Trockenheit im Norden Togos, wo es acht Monate im Jahr nicht regnet, erfordert dringend Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserversorgung. Der Klimawandel verschärft diese Situation. Mit dem Bau von Brunnen bessert sich die Gesundheitssituation der Familien, weil das Brunnenwasser sauber ist, während das Wasser aus offenen Gewässern häufig so belastet ist, dass es besonders bei Kindern Krankheiten wie Cholera ver­ursacht.

 

Die Dorfbewohner helfen beim Bau der Brunnen mit und können vor allem bei der Herstellung von Betonringen, die zur Befestigung in den Brunnen eingelassen werden, einen eigenen Beitrag leisten. Auf Motorpumpen, die teuer und störanfällig sind, wird verzichtet. Stattdessen dienen Eimer, Seile und Rollen dazu, das Wasser zu schöpfen. Über eines dieser Brunnenprojekte hat Pastor Hannes Menke von der Norddeutschen Mission im Dezember 2003 geschrieben: „Das Motto der Evangelischen Kirche in Togo lautet: ‚Das ganze Evangelium für den ganzen Menschen.‘ Das Wort vom lebendigen Wasser ist bei den Frauen in Todzi-Kao angekommen. Sie erfahren, wie Gottes Liebe bei ihnen Gestalt annimmt.“

 

Wenn Brunnen zur tödlichen Falle werden

 

Es galt als einer der großen Erfolge des entwicklungspolitischen Engagements im Süden der Welt, dass in den 1970er und 1980er Jahre etwa zehn Millionen Brunnen in Bangladesch gebaut wurden. Die zunehmende Belastung des Oberflächenwassers hatte in dem südasiatischen Land verursacht, dass es zu katastrophalen Durchfall- und Choleraepidemien gekommen war. Der Bau von Brunnen, der vor allem vom UN-Kinderhilfswerk UNICEF betrieben wurde, rettete vielen Hunderttausend Menschen, vor allem Kindern, das Leben.

 

Aber seit mehr als zwei Jahrzehnten ist bekannt, dass die gewaltige Brunnenbau-Aktion zugleich die „größte Massenvergiftung in der Geschichte der Menschheit“ (so die Weltgesundheitsorganisation WHO) ausgelöst hat. Es hat sich nämlich gezeigt, dass zwischen 35 und 77 Millionen Menschen in Bangladesch darunter leiden, dass das Wasser aus vielen Brunnen hochgradig mit Arsen belastet ist. Die WHO schätzt, dass jährlich mehr als 40.000 Menschen an den Folgen der Arsenvergiftung sterben.

 

Das Arsen kommt in den oberen Bodenschichten des Schwemmlandes von Bangladesch ohne menschliche Einwirkung in größeren Mengen vor. Mit den Monsunniederschlägen und dem Bewässerungswasser der Reisfelder gelangt das Arsen in das Grundwasser und von dort in die Brunnen. Ähnliche Probleme gibt es in benachbarten Regionen Indiens, aber auch in zahlreichen anderen Ländern wie Taiwan und Chile.

 

Arsen im Trinkwasser löst schwere Gesundheitsschäden aus, vor allem Hautkrankheiten und Hautkrebs. Es wird intensiv geforscht, mit welchen Methoden sich das Arsen aus dem Brunnenwasser entfernen lässt. Am wirksamsten, aber auch am teuersten ist eine in den USA entwickelte Methode, das Arsen an Eisenoxide zu binden und dann mit Hilfe von Elektromagneten aus dem Wasser zu entfernen. Bisher ist dies nur mit Nanopartikeln möglich, deren Herstellung kostenaufwendig ist. Alternativ kann in Bangladesch nicht belastetes Grundwasser aus tiefen Schichten gefördert werden, aber die dafür erforderlichen Tiefbrunnen und leistungsstarken Pumpen sind teuer. 2016 veröffentlichte die Regierung ein Programm zum Bau von mehr als 200.000 Tiefbrunnen, wofür 250 Millionen Dollar benötigt werden. Angesichts von Finanzierungsproblemen, Korruption und Vetternwirtschaft lässt sich aber nicht absehen, wann es gesundheitlich unbedenkliches Wasser für alle geben wird.

 

Die Rückkehr zur Nutzung von Oberflächenwasser setzt voraus, dass das Wasser gründlich gefiltert wird und die Filter regelmäßig gewartet und gereinigt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Arsen keineswegs das einzige tödliche Wasserproblem von Bangladesch ist. Der Wasserverbrauch hat so stark zugenommen, dass der Grundwasserspiegel zum Beispiel in der Hauptstadt Dhaka von 1996 bis 2004 um bis zu 24 Meter gesunken ist. Vielerorts droht eine Situation, in der die Brunnen nicht einmal mehr arsenhaltiges Wasser liefern.

 

Gleichzeitig werden die tropischen Wirbelstürme, die das Land schon immer heimgesucht haben, als Folge des Klimawandels ständig heftiger. Und die flache Küstenregion, die immer dichter besiedelt wird, ist durch das Ansteigen des Meeresspiegels akut bedroht. Wenn der Indische Ozean wie vorhergesagt in diesem Jahrhundert um einen Meter ansteigen wird, verliert Bangladesch ein Fünftel seiner Landfläche an das Meer. Zu den wenigen Hoffnungszeichen in dieser Problemsituation kann gelten, dass es erfolgreiche Initiativen dafür gibt, vermehrt Regenwasser aufzufangen und als Trinkwasser zu nutzen, um so die Abhängigkeit vom Brunnenwasser zu vermindern.

 

Der Brunnen auf dem Marktplatz

 

In Europa waren die Dorfbrunnen über Jahrhunderte eine wichtige Lebensgrundlage und zugleich Orte der Begegnung. Auch in den Städten versorgte sich ein großer Teil der Familien mit Wasser aus Brunnen, die oft auf zentralen Plätzen standen. Brunnenfeste, wie sie vor allem in Süddeutschland eine lange Tradition haben, bringen die Wertschätzung der Menschen für dieses kostbare Geschenk zum Ausdruck. Aber auch im schleswig-holsteinischen Bad Bramstedt wird ein Brunnenfest mit Gottesdienst gefeiert.

 

Bad Sooden-Allendorf ist stolz darauf, dass das städtische Brunnenfest eines der ältesten Feste in Nordhessen ist. Es wird als Dankfest für die heilbringende Solequelle gefeiert und findet jedes Jahr Pfingsten statt. Ein Höhepunkt ist stets der Festzug mit Pfarrer und Salzträgern an der Spitze. Die 11 Brunnen der thüringischen Stadt Steinach werden aus Anlass des jährlich im Juni stattfindenden Brunnenfestes geschmückt. Die Stadt selbst schmückt sich mit dem Namen „Stadt der Brunnen“.

 

Diesen Titel könnte auch die Stadt Wunsiedel für sich in Anspruch nehmen. Beim jährlichen Brunnenfest ziehen dort Sänger und Musikanten zu den zweiunddreißig Brunnen der Stadt, die aus diesem Anlass festlich geschmückt werden, und bringen ihnen ein Ständchen. Die Tradition soll darauf zurückgehen, dass die Stadtbewohner in einem sehr trockenen Sommer unter Durst leiden mussten, weil die Brunnen trocken gefallen waren. Als endlich wieder Wasser aus ihnen geschöpft werden konnte, wurden sie aus Dank geschmückt. So bieten Brunnenfeste eine Gelegenheit, sich der lebenspendenden Bedeutung des Wassers bewusst zu werden und dankbar dafür zu sein, genügend Wasser zu haben.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann