Babylon

 

Das Zusammenleben mit Menschen aus vielen verschiedenen Völkern, Kulturen und Religionen erinnert heute hierzulande manche an das antike Babylon. Sie denken dabei an Chaos und Schreckensszenarien und erinnern sich an die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. Menschen aus vielen Ländern bauten an dem Turm, ohne einander zu verstehen. Der Turm wurde in der biblischen Geschichte deshalb auch nie fertiggestellt.

 

Diese Geschichte hat nichts mit dem historischen Geschehen in Babylon gemein. Zwar arbeiteten tatsächlich Menschen aus allen Teilen des babylonischen Reiches an dem Turm, aber sie verstanden einander nicht nur, sondern der gewaltige Bau wurde auf beeindruckende Weise dank einer gut geplanten und koordinierten Arbeit fertiggestellt. Menschen aus vielen Völkern und Kulturen lebten im Schatten des Turms friedlich zusammen, und immer neue Zuwanderer trugen zum Wohlergehen dieser antiken Weltstadt bei.

 

Auch die „oberen Zehntausend“ der Jerusalemer Bevölkerung, die nach Babylon verschleppt wurden, muss der Turm beeindruckt haben. Als sich ihr Zug der Stadt Babylon näherte, erblickten sie gewaltige Stadtmauern und den Turm, der alles überragte. Dann kamen sie in eine fremde Stadt, in der ein verwirrend buntes Leben herrschte und viele Sprachen zu hören waren. Das musste die Neuankömmlinge zutiefst verunsichern. Bald waren sie selbst Teil dieser multikulturellen Gesellschaft, und viele von ihnen fürchteten, ihre Identität als Volk und als religiöse Gemeinschaft zu verlieren.

 

Die Geschichte vom unvollendeten Turmbau und die anderen biblischen Texte über die sündige und dem Untergang geweihte Stadt sollten der realen Macht der Babylonier die Glaubensüberzeugung entgegenstellen, dass diese Großmacht nicht von Dauer sein würde und ihre Machtsymbole nicht in den Himmel reichten. Der eigene, der einzige Gott werde den Sieg davontragen und sein Volk retten. Immer wieder wird in den biblischen Texten, die in Babylon entstanden, der baldige Untergang der Stadt prophezeit.

 

Tatsächlich ging es den Exilisraeliten an Euphrat und Tigris für damalige Verhältnisse relativ gut. Und der prophezeite Untergang blieb aus. Selbst die Besetzung der Stadt durch persische Truppen verlief keineswegs so brutal, wie die biblischen Propheten verkündet hatten. Und als sich nun für die Nachfahren der Verschleppten die Möglichkeit ergab, in die ihnen unbekannte und wirtschaftlich rückständige frühere Heimat zurückkehren, blieben sehr viele von ihnen in Babylonien.

 

Eine prosperierende Metropole

 

Babylon war offenkundig für Menschen aus verschiedensten Völkern ein geschätztes Zuhause. Das Neben- und Miteinander von Zuwanderern unterschiedlicher Sprachen und Kulturen war eines der „Erfolgsgeheimnisse“ der Stadt. Das Wissen und das Können von Zuwanderern trugen viele Jahrhunderte lang wesentlich zu ökonomischer Prosperität und kulturellem Reichtum bei.

 

Babylon hat die Kultur, Wissenschaft und Religion der gesamten Region geprägt und vieles, was dort gedacht und entdeckt wurde, wirkt bis heute nach. Wem heute die Stunde schlägt, der richtet sich immer noch nach der babylonischen Zeiteinteilung, und auch auf mathematischem Gebiet haben die Babylonier lange vor den Griechen Beeindruckendes geleistet – das dann von griechischen Mathematikern übernommen wurde. Und in den heiligen Schriften der Juden und Christen finden sich viele Spuren der Glaubenswelt der Babylonier, so in der Legende von der großen Flut und der Arche des Noah. Diese Geschichten werden in der Bibel so erzählt, dass sie den Glauben an den einen Gott festigen.

 

Ein Mythos als Überlebensgrundlage

 

Babylon bildete nach Überzeugung der Herrscher und der übrigen Stadtbewohner den Mittelpunkt der Erde und war der Verbindungspunkt zu den Göttern im Himmel und in der Tiefe der Erde. Diese Glaubensüberzeugungen haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Stadt mindestens ein Dutzend Eroberungen überstanden hat und immer wieder aufgebaut wurde. Babylon war stets mehr als eine Ansammlung von Lehmhäusern, Tempeln und einem großen Turm. Der Mythos dieser Stadt hat ihren Aufstieg und ihren allmählichen Niedergang begleitet.

 

Und dieser Mythos von Babylon wirkt bis heute nach. Er wird weitererzählt in Filmen wie Fritz Langs "Metropolis" und Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz". Selbst die Vorstellung vom "Sündenbabel" zeigt bis heute ihre Wirkung und lebt in der Namensgebung von einschlägigen Etablissements weiter.

 

Aber auch die Diffamierungen des antiken Babylons wirken bis heute nach. Vor allem fundamentalistische US-Theologen ziehen eine Linie von den biblischen Vernichtungsankündigungen und den Kriegen im Irak der letzten Jahrzehnte. Der Irak als Nachfolgestaat Babyloniens ist nach diesem Verständnis dem totalen Untergang geweiht, und die US-Invasion in dem Land war ein Schritt auf diesem gottgewollten, unentrinnbaren Weg der Vernichtung.

 

Irakische Historiker versuchen hingegen, König Nebukadnezar und die anderen bedeutenden babylonischen und assyrischen Herrscher sowie vor allem die großen kulturellen und ökonomischen Leistungen in Städten wie Babylon zum Ausgangspunkt für den Stolz auf und die Identifizierung mit der gemeinsamen Geschichte des ganzen irakischen Volkes zu machen. Das ist eine ebenso mühsame wie notwendige Aufgabe in einem zerrissenen Land. Die Geschichte des historischen Babylons und seines Mythos immer neu zu erzählen, ist auch ein Schritt zur Bewahrung und zum geistigen Wiederaufbau des Landes.

 

Babylon war kein Multikulti-„Paradies“, aber die Stadt ermöglichte die Wahrung und Fortentwicklung von Identität in einem Gemeinwesen, in dem die Menschen sehr planvoll und sehr erfolgreich einen Wohlstand geschaffen haben, der weit höher war als in den meisten Städten und Dörfern der damaligen Welt. Auch wir sollten der Geschichte und den großen Leistungen Babylons mit großer Achtung begegnen und uns von negativen Zerrbildern verabschieden. Dazu sollen die Babylon-Texte auf dieser Website beitragen.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann