Der König, der in die Wüste zog
Der letzte König von Babylonien war zugleich derjenige, um den sich immer noch die größten Geheimnisse ranken. Nabonid wurde nach dem Jahr 609 v. Chr. geboren und war assyrischer Abstammung. In seiner Kindheit wurde das Assyrische Reich von den Truppen der Babylonier und Meder besiegt und verlor seine politische Selbstständigkeit. Nabonids Vater war Gouverneur von Harram, seine Mutter Adad-happe wahrscheinlich Priesterin des in Assyrien verehrten Mondgottes Sin. Auf jeden Fall huldigte sie diesem Gott, und ihr Sohn folgte dieser mütterlichen Tradition.
Wie bereits erwähnt, kam es nach dem Tod von Nebukadnezar II. zu heftigen Auseinandersetzungen um die politische Macht in Babylon, die nacheinander mit der Ermordung von drei Nachfolgern des Königs endeten. Nabonid hatte als höherer Beamter am Hof Nebukadnezars und seiner Nachfolger offenbar so geschickt agiert, dass es ihm gelang, 556 v. Chr. zum neuen König gekrönt zu werden. Da war er bereits fast 50 Jahre alt. Zu seinen ersten bedeutenden Leistungen gehörte es, keinem Mordkomplott am Königshof zum Opfer zu fallen und wieder stabile politische Verhältnisse in Babylonien zu schaffen. Da er nicht von Nebukadnezar abstammte, versuchte Nabonid, sich zu dessen legitimem Nachfolger zu stilisieren. Dafür nahm er seine Berufung durch den Gott Marduk und – dass musste die Bewohner Babylons überraschen – durch den Mondgott Sin für sich in Anspruch.
Im Gegensatz zu Nebukadnezar II. betrieb König Nabonid eine Politik der Dezen-tralisierung – bis hin zur systematischen Förderung örtlicher religiöser Traditionen. So ließ er in Assyrien alte Tempelheiligtümer wiederherstellen. Die Hauptstadt Babylon verlor dadurch allerdings etwas an politischer, wirtschaftlicher und auch religiöser Bedeutung. Letzteres löste den Zorn der Priester des Stadtgottes Marduk aus, zumal der König kein Geheimnis daraus machte, dass für ihn persönlich die Anbetung des Mondgottes Sin eine Herzensangelegenheit war. Da konnte es bei den Marduk-Priestern nur weiteren Groll auslösen, dass der König in den ersten Jahren seiner Herrschaft ihren Einfluss vor allem dadurch zurückdrängte, dass er Ländereien, die bisher im Besitz des Tempels Egasila waren, in königliches Land umwandelte. Das raubte den Tempelpriestern einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen. Demgegenüber förderte er die Sin-Tempel finanziell großzügig und befreite sie von Steuern und Abgaben.
Die wissenschaftliche Auswertung zahlreicher Keilschrifttafeln aus der Regierungszeit von König Nabonid hat ergeben, dass es in Babylon nach Jahren des wirtschaftlichen Niedergangs zu einem neuen Aufschwung mit einer regen Bautätigkeit kam, von dem große Teile der Bevölkerung profitierten – aber eben nicht die Marduk-Priester von Babylon. Sie mussten nun erleben, dass auch ihr religiöser Einfluss zu schwinden drohte, weil der König sich – angeblich oder tatsächlich – bemühte, die Götter Marduk und Sin zu einem neuen, alle Götter einbeziehenden Reichsgott zu vereinen. Dabei drohte die Marduk-Tradition gegenüber der Sin-Tradition immer stärker in den Hintergrund zu geraten.
Ein Jahrzehnt in der Wüstenstadt – die Suche nach den Gründen
Der Streit mit den Marduk-Priestern kann der Anlass dafür gewesen sein, dass König Nabonid 552 v. Chr. für ein Jahrzehnt seine Hauptstadt Babylon verließ und mit einem großen Heer in eine Wüstenstadt im heutigen Saudi-Arabien zog. Die jahrelange Abwesenheit des Königs aus Babylon lässt sich zweifelsfrei aus Keilschriftchroniken ablesen. Unter Altorientalisten wird aber darüber debattiert, ob es dafür auch andere Gründe als den Streit mit den Marduk-Priestern gegeben haben könnte. Warum zog der König in einen so weit entfernten und aus babylonischer Perspektive abgelegenen Ort?
Dass er sein Reich dauerhaft bis dorthin ausdehnen wollte, ist als Grund für den langen Aufenthalt in der Wüstenstadt nicht plausibel. Es hätte in dem Falle gereicht, einen Feldzug durchzuführen, die Stadt zu erobern und dort eine Garnison zurückzulassen. Auch die Annahme, Nabonid habe versucht, die Weihrauchstraße zu kontrollieren, kann nicht wirklich erklären, weshalb er sich ein Jahrzehnt lang in einer eroberten Stadt aufgehalten und alle seine übrigen Verpflichtungen vernachlässigt hat. Zumal in jener Zeit die Bedrohung seines Reiches durch die Perser massiv wuchs. Und die These, er sei gerade vor diesem persischen Druck in die Wüste geflüchtet, ist deshalb nicht plausibel, weil dann unverständlich bleibt, warum Nabonid just in der Zeit nach Babylon zurückkehrte, als die Bedrohung immer akuter wurde und der König in seiner Wüstenresidenz sehr viel sicherer gelebt hätte. Es spricht deshalb viel dafür, dass König Nabonid vor allem aufgrund der Konflikte mit der Marduk-Priesterschaft freiwillig oder unter massivem Druck die Stadt Babylon verlassen hat und in die Wüste zog.
Eindeutig geklärt ist inzwischen immerhin, wo Nabonid sich in diesen Jahren aufgehalten hat. Er eroberte die große Oase Tayma, ein bedeutendes Handelszentrum an der Weihrauchstraße. Die Stadt befand sich mehr als 800 Kilometer von Babylon entfernt. Seit einigen Jahren führt das „Deutsche Archäologische Institut“ umfangreiche Grabungen in Tayma durch und hat zum Beispiel die Reste einer 15 Kilometer langen Stadtmauer und eines großen Tempels freigelegt. Eine zerbrochene Stele mit der Abbildung eines stehenden Königs im babylonischen Stil gilt als Beleg dafür, dass König Nabonid dort tatsächlich gelebt hat. Auch drei Astralsymbole – Mondsichel, Sonne und Stern – sind auf dieser Stele zu sehen, deutliche Hinweise auf Nabonid, gilt doch die Sonnenscheibe als Symbol des vom König besonders verehrten Sonnengottes Sin. Bisher sind allerdings noch keine Spuren einer Residenz Nabonids gefunden worden, obwohl der babylonische König sicher einen Palast in der Stadt errichten ließ, in der er ein Jahrzehnt lang wohnte.
Für die Zeit seiner Abwesenheit von Babylon setzte König Nabonid seinen Sohn Belsazar als Regenten ein. Er wurde berühmt durch die biblische Geschichte vom „Menetekel“, auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde. Da Belsazar kein König war, musste das jährliche Neujahrsfest in Babylon in der Zeit der Abwesenheit Nabonids ausfallen. Das wird den Zorn der Marduk-Priester und beträchtlicher Teile der Bevölkerung auf den König noch erhöht haben. Das Fest war gleichzeitig von herausragender religiöser Bedeutung und eine schöne Gelegenheit zum gemeinsamen Feiern.
Die Katastrophe nach der Rückkehr
542 v. Chr. kehrte Nabonid nach Babylon zurück und erfüllte wieder seine königlichen Pflichten – z.B. beim Neujahrsfest zur Verehrung des Gottes Marduk, aber die Priesterschaft blieb ihm gegenüber offenbar weiterhin feindselig eingestellt. Zu dieser Zeit war der Einfluss des persischen Reiches und seines Königs Kyros II. in der Region stark gewachsen, und seine Truppen bedrohten das babylonische Reich. Als es dem persischen König gelang, ein Bündnis mit den Medern zu schließen, war er stark genug, die babylonischen Truppen in einer Feldschlacht anzugreifen und vernichtend zu schlagen. Tausende babylonische Kriegsgefangene wurden bei einem Massaker ermordet.
Kyros II. zog 539 v. Chr. vor die Tore von Babylon. Es gelang ihm offenbar, die Marduk-Priester und Teile der Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen, sodass die Tore der Stadt geöffnet wurden und die persischen Truppen kampflos einziehen konnten. Nabonid wurde wahrscheinlich von den persischen Siegern gefangen genommen und in den heutigen Ostiran verbannt, wo er später starb. Die Sieger bemühten sich, alle Spuren seiner Herrschaft zu tilgen, indem sie die in seiner Regierungszeit entstandenen Gebäude abreißen und möglichst viele Keilschrifttafeln über diesen König zerstören ließen.
Die Marduk-Priester stellten ihre Sicht des Sturzes von Nabonid in einem Schmähgedicht dar, das erhalten geblieben ist. Darin wird der König als geisteskrank beschrieben. Auch soll er seine Untertanen so sehr ausgeplündert haben, dass sie Hunger litten.
Historisch zuverlässig ist diese Quelle natürlich ebenso wenig wie der „Kyros-Zylinder“, der die Geschichte des Sturzes des letzten babylonischen Königs aus der Perspektive der persischen Eroberer schildert. Nabonid wurde später auch von griechischen Historikern sehr negativ dargestellt, und daran haben dann die Verfasser des Daniel-Buches der Bibel angeknüpft. In den biblischen Texten wird Nabonid nicht beim Namen genannt, aber hinter einigen Darstellungen von Nebukadnezar wird König Nabonid vermutet.
Der Traum des Königs und seine Deutung durch Daniel
Im vierten Kapitel des Daniel-Buches wird von einem Traum von König Nebukadnezar berichtet, wobei heute allgemein angenommen wird, dass die Geschichte Anspielungen auf das Schicksal von König Nabonid enthält. Überraschenderweise kommt in diesem Kapitel der babylonische König selbst ausführlich zu Wort: „Ich, Nebukadnezar, hatte Ruhe in meinem Hause und lebte zufrieden in meinem Palast. Da hatte ich einen Traum, der erschreckte mich, und die Gedanken, die ich auf meinem Bett hatte, und die Gesichte, die ich gesehen hatte, beunruhigten mich“ (Daniel 4.1-2).
Der König befragte alle Zeichendeuter, Weisen, Gelehrten und Wahrsager zur Bedeutung seines Traums, aber keiner von ihnen konnte ihn deuten. Schließlich wurde Daniel um die Deutung jenes Traums gebeten, den der König laut biblischem Text so wiedergegeben hat: „Siehe, es stand ein Baum in der Mitte der Erde, der war sehr hoch. Und er wurde groß und mächtig und seine Höhe reichte bis an den Himmel, und er war zu sehen bis ans Ende der ganzen Erde. Sein Laub war dicht und seine Frucht reichlich, und er gab Nahrung für alle. Alle Tiere des Feldes fanden Schatten unter ihm und die Vögel des Himmels saßen auf seinen Ästen, und alles Fleisch nährte sich von ihm. Und ich sah ein Gesicht auf meinem Bett, und siehe, ein heiliger Wächter fuhr vom Himmel herab. Der rief laut und sprach: Haut den Baum um und schlagt ihm die Äste weg, streift ihm das Laub ab und zerstreut seine Frucht, dass die Tiere, die unter ihm liegen, weglaufen und die Vögel von seinen Zweigen fliehen. Doch lasst den Stock mit seinen Wurzeln in der Erde bleiben; er soll in eisernen und ehernen Ketten auf dem Felde im Grase und unter dem Tau des Himmels liegen und nass werden und soll sein Teil haben mit den Tieren am Gras auf der Erde. Und das menschliche Herz soll von ihm genommen und ein tierisches Herz ihm gegeben werden, und sieben Zeiten sollen über ihn hingehen. Dies ist im Rat der Wächter beschlossen und ist Gebot der Heiligen, damit die Lebenden erkennen, dass der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie geben kann, wem er will, und einen Niedrigen darüber setzen“ (Daniel 4,7-14).
Daniel deutete den Traum so, dass der Baum der mächtige König selbst war. Dass der Baum nach dem Ratschlag des Höchsten abgehauen und zerstört werden sollte, bedeute, dass der König aus der Gemeinschaft der Menschen verstoßen werden würde. Er müsste bei den Tieren des Feldes leben und Gras fressen „und sieben Zeiten werden über dich hingehen, bis du erkennst, dass der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will“ (Daniel 4,22).
Dass in dem Traum gesagt wurde, man solle dennoch den Stock des Baumes mit seinen Wurzeln übrig lassen, bedeute, dass das Reich des Königs erhalten bleiben würde, sobald er erkannt hätte, dass der Himmel die Gewalt über ihn hat. Daniel gab dem König den Rat, seine Sünden und Missetaten hinter sich zu lassen durch Gerechtigkeit und Wohltaten für die Armen. Aber der König hörte nicht auf den Traumdeuter, und so griff Gott selbst in das Geschehen ein. „Denn nach zwölf Monaten, als der König auf dem Dach des königlichen Palastes in Babel sich erging, hob er an und sprach: Das ist das große Babel, das ich erbaut habe zur Königsstadt durch meine große Macht zu Ehren meiner Herrlichkeit. Ehe noch der König diese Worte ausgeredet hatte, kam eine Stimme vom Himmel: Dir, König Nebukadnezar, wird gesagt: Dein Königreich ist dir genommen, man wird dich aus der Gemeinschaft der Menschen verstoßen und du sollst bei den Tieren des Feldes bleiben; Gras wird man dich fressen lassen wie die Rinder, und sieben Zeiten sollen hingehen, bis du erkennst, dass der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will“ (Daniel 4,26-29).
Im gleichen Augenblick, heißt es im Buch Daniel, wurde Nebukadnezar aus der Gemeinschaft der Menschen verstoßen und fraß Gras wie die Rinder. Nachdem die „sieben Zeiten“ zu Ende waren, richtete der König seine Augen zum Himmel, bekam seinen Verstand zurück und lobte den Höchsten: „Ich pries und ehrte den, der ewig lebt, dessen Gewalt ewig ist und dessen Reich für und für währt …“ (Daniel 4,31). Der König regierte von nun an in noch größerer Herrlichkeit. „Darum lobe, ehre und preise ich, Nebukadnezar, den König des Himmels; denn all sein Tun ist Wahrheit, und seine Wege sind recht, und wer stolz ist, den kann er demütigen“ (Daniel 4,34).
Diese Geschichte weist Ähnlichkeiten mit der Traumdeutungsgeschichte in Daniel 2 auf, die wir bereits kennen gelernt haben. Aber es gibt signifikante Unterschiede, vor allem nach der Deutung des Traums durch Daniel. Während der König in Daniel 2 durch die Traumdeutung zur Umkehr und zum Glauben an den einen Gott veranlasst wird, zeigt sich der König in Daniel 4 uneinsichtig. Es bedarf erst einer längeren Zeit des Wahnsinns, bis er seinen Blick nach oben richtet und den König des Himmels als seinen Herrn erkennt.
Der babylonische König, der in der Geschichte den Namen Nebukadnezar trägt, wird heute mit König Nabonid in Verbindung gebracht, weil gewisse Ähnlichkeiten zu entdecken sind. Nabonid wurde von seinen Gegnern, den Marduk-Priestern, in einer Schmähschrift vorgeworfen, er sei wahnsinnig geworden. Auch lässt sich die längere Zeit, in der der König in der Geschichte seine Amtsgeschäfte nicht wahrnehmen konnte, weil er zum Tier geworden war, als Anknüpfung an die historische Tatsache deuten, dass sich König Nabonid zehn Jahre lang nicht in Babylon, sondern in einer Wüstenstadt aufhielt. Professor Matthias Albani deutet in seinem Daniel-Buch die „animalische Erniedrigung“ des Königs so: „… entscheidend ist wohl, dass die Existenzweise des Königs als Gras fressendes Weidetier den Zustand totaler Machtlosigkeit und Demütigung zum Ausdruck bringen soll. Es ist im Wortsinne ein ‚Dahinvegetieren‘.“[1]
Der Königsname Nebukadnezar wäre, wenn eigentlich König Nabonid das historische Vorbild bildet, lediglich in die Geschichte eingeführt worden, weil er der „Bösewicht“ par excellence biblischer Geschichten war. In dieser Geschichte wird er als starrsinnig dargestellt, denn er weigert sich, die Botschaft des Traums, den Daniel für ihn interpretiert, ernst zu nehmen. Auffällig ist die starke Betonung Gottes als Weltenlenker, der auch über Aufstieg und Fall der Herrscher der Weltreiche entscheidet. Das ist die zentrale Botschaft dieser Geschichte.
Der britische Altorientalist Irving L. Finkel erinnert daran, dass Nabonid nicht nur durch die Marduk-Priester diffamiert wurde, sondern auch durch den persischen Babylon-Eroberer Kyros. „Die außerordentliche Schmähung, durch die Nabonid zu einem nie verziehenen Geächteten wurde, übertrug sich später auf den wesentlich klangvolleren Namen seines großen Vorgängers Nebukadnezar und fand somit Eingang in das Buch Daniel und in zahlreiche spätere jüdische Schriften. Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die Feindseligkeit, die Letzterem aufgrund seiner Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und der Deportation der besiegten Bevölkerung ins eigene Reich entgegenschlug.[2]
© Steinmann
Verlag, Rosengarten
Autor: Frank Kürschner-Pelkmann