Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Abrahams Aufbruch aus Mesopotamien

 

Am Anfang der Geschichte des jüdischen Volkes steht der Aufbruch einer Sippe aus der Stadt Ur in Mesopotamien (1. Mose 11,28). Die Geschichte von der Brautsuche für Isaak (1. Mose 24) und die Jakobsgeschichte (1. Mose 28-30) deuten hingegen darauf hin, dass die Familie Abrahams in Harran (oder Haran) im heutigen syrisch-türkischen Grenzgebiet zu Hause war.

 

Es könnte sein, dass dies die ältere Tradition ist und die Stadt Ur erst während der Exilszeit in den biblischen Text eingefügt wurde, weil Ur näher an den Siedlungsgebieten der verschleppten Juden in Babylonien lag und als bedeutende antike Stadt bekannt war. In jedem Fall wird die Geschichte vom Aufbruch Abrahams aus Ur oder Harran von vielen Theologen als Legende angesehen, die in der Exilszeit eine besondere Bedeutung gewann. Den Juden im Exil sollte mit der Geschichte vom Aufbruch Abrahams aus Mesopotamien nahegelegt werden, selbst „in ein von Gott gewiesenes Land zu wandern“, schreibt der Alttestamentler Rainer Albertz. Abraham wurde „den Exilierten als leuchtendes Ur- und Vorbild der Rückkehr in ihre alte Heimat vor Augen“ geführt.[1]

 

Um die Bereitschaft zum Aufbruch aus dem babylonischen Exil zu erhöhen, wurden Abraham – und indirekt auch den späteren rückkehrbereiten Juden – große Verheißungen für das Leben im fernen Palästina verkündet. Im 12. Kapitel des ersten  Buches Mose wird die Aufforderung Gottes, in ein Land zu ziehen, das Gott Abraham zeigen würde, verbunden mit Verheißungen: „Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein“ (1. Mose 12,2).

 

Der Segen sollte bemerkenswerterweise nicht auf die Verwandtschaft oder das Volk Abrahams beschränkt bleiben, denn Gott kündigte gleich anschließend an: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ Wenn es zutrifft, dass diese Verheißungen auch die Juden im babylonischen Exil ansprechen und zur Rückkehr in die Heimat veranlassen sollten, so entdecken wir also bereits hier, in der Geschichte über den Ursprung des jüdischen Volkes, eine Verbindung zu Babylon. Dann ist es keineswegs beliebig, dass Abraham in dieser Erzählung aus Mesopotamien aufbrach und nicht aus irgendeinem anderen Land. Die Erfahrungen im Babylonien der Exilszeit hatten demnach einen beträchtlichen Einfluss darauf, wie der Gründungsmythos des jüdischen Volkes gestaltet wurde.

 

Abraham machte sich nach biblischer Überlieferung zusammen mit seiner Frau, Verwandten und Bediensteten auf den Weg in das Land Kanaan, und Gott kündigte ihm an, dass er seinen Nachkommen dieses Land geben würde, in dem bisher die  Kanaaniter wohnten. Und tatsächlich gelang es Abraham und den Seinen, in Kanaan Fuß zu fassen.

 

Eine Ehefrau aus Mesopotamien

 

Als Abraham hochbetagt war, bestellte er eines Tages seinen ältesten Knecht zu sich und ließ ihn schwören, dafür zu sorgen, dass Abrahams Sohn Isaak keine Kanaaniterin heiraten würde. Der Knecht sollte in Abrahams Heimat ziehen, um dort eine Frau für Isaak zu finden. Krasser konnten die biblischen Verfasser die Ablehnung der Kanaaniter nicht formulieren. Es kam in der Frühgeschichte Israels nach den Erkenntnissen heutiger Historiker häufig zu Ehen zwischen Kanaanitern und zugewanderten Familien. Genau das war das Problem für den Verfasser des biblischen Textes.

 

Die biblische Geschichte von der Brautsuche für Isaak ist dem Bestreben der Verfasser des 1. Buches Mose geschuldet, das jüdische Volk von seinen Nachbarvölkern abzugrenzen und abzuheben. Gerade im späteren Exil und inmitten der Vielfalt von Völkern in der Region zwischen Nil und Euphrat hatten sie das Ziel, das jüdische Volk zu erhalten, indem eine Vermischung mit anderen, und natürlich besonders den benachbarten Völkern vermieden wurde.

 

Dieses Ziel prägte konsequenterweise auch die Abrahamsgeschichten, also die Legenden vom Ursprung dieses Volkes. Der Knecht sollte Isaak nicht mit nach Mesopotamien nehmen, sondern für ihn die richtige Braut aussuchen und zwar aus der Verwandtschaft Abrahams. Gott würde einen Engel vor dem Knecht hersenden, damit dieser den richtigen Weg finden und die vorgesehene Frau mit nach Hause bringen könnte. Der Knecht schwor, sich genau an diese Weisungen zu halten, erfahren wir im 24. Kapitel des 1. Buches Mose.

 

Der Knecht wählte zehn Kamele seines Herrn aus und zog mit ihnen und wertvollen Geschenken in die Stadt Harran in Nordmesopotamien. So kann es allerdings    historisch nicht gewesen sein, betonen die Archäologen Lidar Sapir-Hen und Erez Ben-Yosef von der Universität Tel Aviv, denn in der Zeit, in der die Geschichte zeitlich angesiedelt wird, etwa zwischen 2000 und 1500 v. Chr., waren die Kamele in Kanaan noch gar nicht domestiziert. Das geschah nach Erkenntnissen israelischer Wissenschaftler erst gegen Ende des 10. Jh. v. Chr.[2]

 

Solche wissenschaftlich belegten Tatsachen bringen manche „bibeltreuen“ Christen in Rage, die fest daran glauben, dass sich alles genau so zugetragen hat, wie es in der Bibel steht. Alle anderen Christen können die Erkenntnisse über die erst spätere Domestizierung der Kamele gelassen aufnehmen, weil sie diesen Bibeltext als eine Glaubensgeschichte lesen, die wir gerade dann verstehen können, wenn wir nicht davon ausgehen, dass der Knecht tatsächlich vor einigen Jahrtausenden mit zehn Kamelen nach Mesopotamien aufgebrochen ist.

 

Aufgeschrieben wurden die Geschichten von Abraham und seiner Familie in der heute vorliegenden Form erst im letzten Jahrtausend vor Christus, wahrscheinlich im babylonischen Exil oder in nachexilischer Zeit.

 

Es fällt in diesen Geschichten über die Frühzeit des jüdischen Volkes auf, dass immer wieder Menschen lange Strecken unterwegs waren: Abraham von Mesopotamien nach Kanaan, der Knecht zurück nach Mesopotamien und anschließend zusammen mit Rebekka nach Kanaan. Rebekkas Sohn Jakob machte sich ebenfalls auf die Reise nach Harran, wo er seine Cousine Rahel traf und sich in sie verliebte. Einige Jahre später zogen sie zurück nach Kanaan. Das waren jeweils Strecken von etwa 800 Kilometern. Die Wander-Geschichten können durchaus so gedeutet werden, dass hier die Erfahrung von Menschen auf dem Weg ins babylonische Exil und zurück durchschimmert.

 

Eine Begegnung am Brunnen

 

Der Knecht Abrahams ließ bei seiner Ankunft in Harran seine Kamele am Brunnen außerhalb der Stadt lagern und wartete darauf, dass die Frauen der Stadt kommen würden, um dort Wasser zu schöpfen. Während er wartete, betete der Knecht zu Gott, dass sein Plan gelingen möge, hier die richtige Frau für Isaak zu finden. Während er noch betete, kam Rebekka, eine schöne Jungfrau, die zur Familie des Abrahambruders Nahor gehörte, mit einem Krug auf der Schulter aus der Stadt. Der Knecht lief ihr entgegen und bat sie, sie möge ihm ein wenig Wasser aus ihrem Krug zu trinken geben. Rasch ließ sie den Krug in den Brunnen hinab und gab ihm zu trinken. Danach bot sie an, auch für die Kamele Wasser zu schöpfen. Und sie holte so lange Wasser aus dem Brunnen und goss es in die Tränke, bis alle Kamele ihren Durst gestillt hatten.

 

Das Verhalten von Knecht und junger Frau war nach damaligen Maßstäben sehr ungewöhnlich, denn ein Mann durfte eine fremde Frau nicht ansprechen, und sie durfte nicht für einen fremden Mann Wasser schöpfen. Aber wir hören an dieser Stelle der Bibel eine schöne Legende, und so können wir beruhigt die gesellschaftlichen Konventionen vernachlässigen und wahrnehmen, dass diese Begegnung von Knecht und junger Frau unverzichtbar war, damit die Geschichte die vorgesehene Richtung nehmen konnte.

 

Der Knecht vergewisserte sich, dass Gott mit der Wahl dieser jungen Frau zur Gemahlin Isaaks einverstanden war, dann schenkte er ihr einen goldenen Stirnreif und zwei goldene Armreife. Er erkundigte sich nach ihrer Familie und fragte, ob im Hause ihres Vaters genügend Raum war, um ihn und seine Kamele zu beherbergen. Ja, erfuhr der Knecht von der jungen Frau, es sei ausreichend Raum vorhanden und es gäbe auch viel Stroh und Futter. Da dankte der Knecht seinem Gott, und Rebekka lief nach Hause, um ihrer Mutter zu erzählen, was sie erlebt hatte. Die Familie schickte den Bruder des Mädchens zum Brunnen, um den Fremden in ihr Haus einzuladen. Über den Bruder wird dann gesagt: „Da führte er den Mann ins Haus und zäumte die Kamele ab und gab ihnen Stroh und Futter, dazu auch Wasser, zu waschen seine Füße und die Füße der Männer, die mit ihm waren“ (1. Mose 24,32).

 

Man lud den Fremden zum Essen ein, aber er wollte zunächst sein Anliegen vorbringen. Er stellte sich als Knecht Abrahams vor und vergaß nicht zu erwähnen, dass Gott seinen Herrn reich gesegnet hatte mit Schafen und Rindern, Silber und Gold, Knechten und Mägden, Kamelen und Eseln. Dieses ganze Vermögen habe Abraham seinem Sohn Isaak übertragen. Er, der Knecht, sei gekommen, um eine Frau für diesen Sohn in Abrahams ursprünglicher Heimat zu finden.

 

Dann erzählte er ausführlich, wie er Rebekka am Brunnen getroffen hatte, und fragte: „Seid ihr nun die, die an meinem Herrn Freundschaft und Treue beweisen wollen, so sagt mir‘s; wenn nicht, so sagt mir‘s auch, dass ich mich wende zur Rechten oder zur Linken“ (1. Mose 24,49). Der Hausherr und sein Sohn stimmten zu, dass Rebekka mit dem Knecht reisen sollte, um die Frau des Sohnes seines Herrn zu werden, so wie Gott es bestimmt hatte.

 

Der Knecht dankte Gott und überreichte der zukünftigen Braut, ihrer Mutter und ihrem Bruder viele wertvolle Geschenke. Anschließend speisten die Männer ausführlich. Am nächsten Morgen drängte der Knecht, mit der Braut abzureisen. Das ging der Familie nun aber doch zu schnell, und die Verwandten baten, das Mädchen möge noch einige Tage bei ihnen bleiben, bevor sie in die Fremde ziehen würde. Aber der Knecht antwortete: „Haltet mich nicht auf, denn der HERR hat Gnade zu meiner Reise gegeben. Lasst mich, dass ich zu meinem Herrn ziehe“ (1. Mose 24,56). Daraufhin ließ man Rebekka rufen und fragte sie, ob sie mit dem Mann ziehen wollte. Nachdem sie dies bejaht hatte, ließ man sie in Begleitung ihrer Mägde mit dem Knecht ins fremde Land ziehen. In Kanaan angekommen, wurde Rebekka zur Frau Isaaks „und er gewann sie lieb“ (1. Mose 24,67).

 

Der getreue Knecht war offenkundig auch ein kluger Knecht, der den göttlichen Auftrag umsichtig ausgeführt hatte. Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass Rebekka von ihrer Familie gefragt wurde, ob sie mit in das fremde Land ziehen und dort heiraten wollte. Die Männer ihrer Familie entschieden also nicht einfach über ihren Kopf hinweg. Die Frau entschloss sich, wie einige Jahrzehnte vorher Abraham, ihre mesopotamische Heimat zu verlassen, um in ein unbekanntes Land aufzubrechen. Hatte sich Rebekka vorher schon als gastfreundlich und hilfsbereit erwiesen, so wurde sie in der Erzählung nun als mutige junge Frau dargestellt.

 

Der biblische Text lässt erkennen, dass schon am mythologischen Beginn der Geschichte des Volkes Israel enge Verbindungen nach Mesopotamien bestanden. Erst danach wird von Verbindungen nach Ägypten berichtet. Anschließend spielten die Länder an Nil sowie an Euphrat und Tigris immer wieder wichtige Rollen in den biblischen Texten und auch in der Historie Israels, wie sie von Archäologen und Historikern rekonstruiert worden ist.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Rainer Albertz: Die Exilszeit, Stuttgart 2001, S. 197.

[2] Vgl. Christian Weber: Bibel-Autoren erfanden Kamele, in: Süddeutsche Zeitung, 12. 2. 2014.