Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Vom angedrohten Untergang der Stadt am Euphrat

 

Babylon war dem Untergang geweiht, ist eine in kirchlichen Kreisen weit verbreitete Auffassung. Diese Vorstellung geht zurück auf die Untergangsprophezeiungen des Alten Testaments und die apokalyptischen Visionen der Offenbarung des Johannes. Dabei wird aber leicht übersehen, dass Babylon mehr als zwei Jahrtausende lang eine durchaus bedeutende Stadt war und mit einer insgesamt etwa drei Jahrtausende dauernden Geschichte zu den am längsten bestehenden Städten der Weltgeschichte gehört. Die Lage am Euphrat begünstigte den Aufstieg der Stadt ebenso wie der zentrale Standort im Herzen Südmesopotamiens.

 

Aber durch die zentrale Lage war Babylon stets von allen Seiten von Feinden und potenziellen Feinden umgeben. Wie andere mesopotamische Städte musste auch Babylon immer wieder mit Angriffen rechnen, und selbst die hohen und Furcht einflößenden Stadtmauern konnten nicht verhindern, dass es Feinden etwa ein Dutzend Mal gelang, die reiche Metropole zu erobern, zu plündern und zu verwüsten. Ähnlich war es vorher schon der sumerischen Großstadt Uruk ergangen, und auch die assyrische Hauptstadt Ninive fiel mehrfach in die Hand von Feinden. Militärstrategisch kann dies nicht verwundern. Wo stets feindliche Mächte von Ägypten über Kleinasien und Griechenland bis nach Persien auf eine günstige Gelegenheit warteten, ihren Einflussbereich um Mesopotamien zu erweitern, war es praktisch unmöglich, immer siegreich alle Feinde und Bündnisse von Feinden abzuwehren.

 

Babylon hat sich erstaunlich oft von solchen Niederlagen und Zerstörungen wieder erholt. Die Lehmziegel von Stadtmauer und Häusern mochten nicht für die Ewigkeit gebaut sein, aber sie ließen sich rasch erneuern und zu imposanten Höhen aufschichten. Das war einer der Gründe für die lange Existenz der „Steh-auf-Stadt“ Babylon. Auch die Wirtschaftskraft dank ertragreicher Landwirtschaft am Euphrat und florierendem Handwerk in der Stadt darf nicht unterschätzt werden. Und da war schließlich der Mythos Babylon, der in doppelter Hinsicht eine große Wirkkraft entfaltete. Die Bewohner vertrauten auf die Gunst der Götter und die Macht ihres Stadtgottes Marduk. Er war im Glauben der Babylonier mit jedem militärischen Sieg der Stadt weiter nach oben im Götterhimmel aufgestiegen und zur Zeit von Nebukadnezar II. unbestritten an der Spitze der Götterhierarchie angekommen. Auf einen solchen Gott konnte man auch nach vorübergehenden Niederlagen bauen.

 

Der Mythos der Stadt wirkte aber auch nach außen. Als Religions-, Bildungs- und Wissenschaftszentrum genoss Babylon einen Ruf weit über Mesopotamien hinaus. Eine solche Stadt machte man auch als Sieger nicht einfach „platt“ – oder doch nur in extremen Ausnahmefällen. Es war symptomatisch, dass die assyrischen Eroberer im 7. Jh. v. Chr. die eroberte Stadt verschonten, aber dafür eine gewaltige Zahl von Keilschrifttafeln raubten. Allerdings war die Wirkung dieses Raubzugs anders als von den assyrischen Herrschern erhofft. Das babylonische Wissen verbreitete sich über die neuen Bibliotheken in Ninive, und es entstand eine starke Nähe zum Denken, Glauben und Wissen Babylons. Als ein assyrischer König das rebellische Babylon dennoch dem Erdboden gleich gemacht hatte, war es sein Sohn, der dieses Sakrileg wieder gutmachte und die Stadt noch beeindruckender als früher wieder aufbauen ließ.

 

Der Mythos lebte auch dann noch weiter, als das babylonische Königreich längst untergegangen war. Und auch die Stadt existierte weit länger, als man dies nach den biblischen Verwünschungen hätte erwarten können. Ja beinahe wäre Babylon, wie noch zu erzählen sein wird, als prächtige Hauptstadt des Weltreiches von Alexander dem Großen zu neuer Blüte gelangt. Aber der Herrscher starb, bevor er seine Pläne verwirklichen konnte, und Babylon verlor weiter an Bedeutung. Es war dann eine Verkettung ungünstiger Umstände, die dieses Siechtum der Stadt beschleunigten und aus der Weltstadt ein unbedeutendes Dorf machten.

 

Am Ende blieben nur noch die Erinnerung an den Mythos und ein archäologisches Grabungsgebiet gewaltiger Größe mit den Resten von vielen Hunderttausend Lehmziegeln. Und nach all dem wäre Babylon beinahe noch einmal neu erstanden, das war am Ende des 20. Jahrhunderts, und auch davon soll noch berichtet werden.

 

Babylon in der Offenbarung des Johannes

 

Die negative Darstellung Babylons im Alten Testament setzt sich im Neuen Testament und besonders in der Offenbarung des Johannes fort, zu einer Zeit, als das reale Babylon schon jede Bedeutung verloren hatte. Die Offenbarung des Johannes gilt mit ihren vielen Bildern, Metaphern, Symbolen und Visionen in Theologenkreisen als schwieriges biblisches Buch, um das in Gottesdienst und Bibelkreisen oft ein weiter Bogen gemacht wird.

 

Dass dieses Buch von den utopisch orientierten und revolutionären Gruppen der Kirchengeschichte als Aufruf zu grundlegenden kirchlichen und gesellschaftlichen Veränderungen reklamiert wurde, hat es in etablierten Theologenkreisen nur noch suspekter gemacht. Heute sind viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überzeugt, dass die Offenbarung des Johannes ein zentraler Text ist, wenn es um die Frage der Auseinandersetzung mit globalen Mächten geht, weil die Konflikte mit dem römischen Weltreich den historischen Hintergrund für die Prophezeiungen bilden.

 

Der Autor der Offenbarung, über den wir wenig wissen, schrieb sein Buch in der Verbannung auf der Insel Patmos (Offenbarung 1,9) und versuchte, den oft verzagten Jesusanhängern Mut zu machen, ohne die Schrecken der Gegenwart und die noch kommenden Schrecken zu verschweigen. Vor allem wohl, um die römischen Machthaber nicht noch mehr zu reizen, die die Jesusanhänger ohnehin als eine gefährliche religiöse Sekte betrachteten, ersetzte der Verfasser des biblischen Buches in seinem Text Rom durch Babylon. Dass im Text von der Stadt auf sieben Bergen gesprochen wird (Offenbarung 17,9), ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass mit den Prophezeiungen tatsächlich Rom gemeint war.

 

Gleichzeitig gibt es Bezüge zum historischen Babylon. Im 16. Kapitel gießt der sechste Engel seine Schale aus auf den Euphrat, der daraufhin austrocknet (Offenbarung 16,12). Der Untergang Babylons wird als ein Ereignis verstanden, das bereits stattgefunden hat: „Und aus der großen Stadt wurden drei Teile, und die Städte der Heiden stürzten ein. Und Babylon, der großen, wurde gedacht vor Gott, dass ihr gegeben werde der Kelch mit dem Wein seines grimmigen Zorns“ (Offenbarung 16,19).

 

Babylon kommt auch am Anfang des 17. Kapitels vor, in dem das Bild von der Hure Babylon eine wichtige Rolle spielt. Johannes lässt einen der Engel sagen: „Komm, ich will dir zeigen das Gericht über die große Hure, die an vielen Wassern sitzt ...“ (Offenbarung 17,1). Und einige Verse später wird deutlich, wer diese große Hure ist: „Und ich sah eine Frau auf einem scharlachroten Tier sitzen, das war voll lästerlicher Namen und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. Und die Frau war bekleidet mit Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelsteinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll von Gräuel und Unreinheit ihrer Hurerei, und auf ihrer Stirn war geschrieben ein Name, ein Geheimnis: das große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Gräuel auf Erden“ (Offenbarung 17,3-5).

 

Der Engel verkündet anschließend: „Und er sprach zu mir: Die Wasser, die du gesehen hast, an denen die Hure sitzt, sind Völker und Scharen und Nationen und Sprachen“ (Offenbarung 17,15). Die Verwendung des Begriffs Hure macht deutlich, dass hier nicht die Völker und Nationen pauschal gemeint sind, wenn von Babylon die Rede ist, sondern nur jene Völker, die andere unterdrücken und ausbeuten. Im historischen Kontext von Johannes ist es das Römische Reich. Der „Hure Babylon“ wird die „Braut Jerusalem“ gegenübergestellt. Diese Braut heiratet das Lamm, nachdem Gott die Hure vernichtet hat. Die Braut wartet ab, bis dieser Sieg der himmlischen Heerscharen errungen ist, erwartet passiv ihren Bräutigam. Die Hure ihrerseits setzt sich gegen die Bestrafung durch den männlich auftretenden Gott nicht zur Wehr. So sind beide Frauen – wenn auch auf unterschiedliche Weise – den Männern untergeordnet.[1]

 

Im 18. Kapitel der Offenbarung wird erneut – und mit drastischen Formulierungen – an den Untergang Babylons erinnert, und ein Engel ruft mit mächtiger Stimme: „Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die Große, und ist eine Behausung der Teufel geworden und ein Gefängnis aller unreinen Geister und ein Gefängnis aller unreinen Vögel und ein Gefängnis aller unreinen und verhassten Tiere. Denn von dem Zorneswein ihrer Hurerei haben alle Völker getrunken, und die Könige auf Erden haben mit ihr Hurerei getrieben, und die Kaufleute auf Erden sind reich geworden von ihrer großen Üppigkeit“ (Offenbarung 18,2-3).

 

Die Sünden hätten bis an den Himmel gereicht, erfahren wir, und deshalb würden die Bewohner nun so viel Qual und Leid ertragen müssen, wie sie vorher Herrlichkeit und Üppigkeit genossen hatten. Dann wird eine Beziehung hergestellt zwischen den Plagen, unter denen Ägypten vor dem Exodus zu leiden hatte, und den Plagen Babylons: Darum werden ihre Plagen an einem Tag kommen, Tod, Leid und Hunger, und mit Feuer wird sie verbrannt werden; denn stark ist Gott der Herr, der sie richtet“ (Offenbarung 18,8).

 

Die Zerstörung Babylons wird von den Königen der Erde beweint und beklagt, die mit der Stadt „gehurt und geprasst“ (Offenbarung 18,9) hatten. Voller Furcht würden sie fernab stehen und feststellen, dass die Stunde des Gerichts über die Stadt gekommen sei. Auch die Kaufleute der übrigen Welt würden weinen, weil ihnen nun niemand mehr ihre kostbaren Waren abkaufen würde. Es wird eine große Zahl von Gütern aufgezählt, die das Luxusleben in Babylon plastisch sichtbar machen, darunter feines Leinen, Purpur, Gold und Edelsteine. Man mag daraus den Neid gegenüber dem Reichtum von Babylon oder auch von Rom herauslesen. Aber damit ist nun Schluss: „… denn in einer Stunde ist verwüstet solcher Reichtum“ (Offenbarung 18,17).

 

Dass anschließend auch von der Klage der Schiffsherrn und Seefahrer auf dem Meer die Rede ist, spricht wiederum dafür, dass es in diesem biblischen Text eher um Rom als um das weit vom Meer entfernt gelegene Babylon geht. Am Ende dieses Abschnitts stellt der Verfasser der Offenbarung dem Elend der reichen Stadt die Hoffnung für die Gläubigen gegenüber: „Freue dich über sie, Himmel, und ihr Heiligen und Apostel und Propheten! Denn Gott hat sie gerichtet um euretwillen“ (Offenbarung 18,20).

 

Die Offenbarung des Johannes knüpft direkt an das Buch Daniel und besonders an die apokalyptischen Vorstellungen in Daniel 7 an. In einem Traum Daniels steigen vier Ungeheuer aus dem Meer, von denen das erste mit Babylon identifiziert wird, ein Löwe, der Flügel hat wie ein Adler. Die drei anderen Ungeheuer symbolisieren Medien, Persien und Griechenland. Im 13. Kapitel der Offenbarung verschmelzen diese vier Tiere zu einem einzigen.

 

Die Gläubigen, die zuerst die Offenbarung des Johannes hörten und lasen, wussten vermutlich, dass Babylon eine Chiffre für Rom sein sollte und dass es dem Verfasser darum ging, das Römische Reich und seine allumfassenden Machtansprüche anzuprangern. Aber das Wissen über die „stellvertretende“ Rolle der „Hure Babylon“ trat danach viele Jahrhunderte in den Hintergrund, und die theologischen Einsichten der Neuzeit haben es nicht vermocht, das einseitig negative Bild von Babylon in den Kirchen und in der Gesellschaft zu korrigieren.

 

Die „Hure Babylon“ in Berlin

 

Es ist ein Weib, bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergüldet mit edlen Steinen und Perlen und hat einen goldenen Becher auf der Hand. Sie lacht. An ihrer Stirn steht ihr Name geschrieben, ein Geheimnis, die große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Gräuel auf Erden. Sie hat das Blut der Heiligen getrunken, vom Blut der Heiligen ist sie trunken. Die Hure Babylon sitzt da, das Blut der Heiligen hat sie getrunken.[2] Das Berlin am Ende der 1920er Jahre erschien Franz Biberkopf nach jahrelangem Gefängnisaufenthalt so chaotisch und verwirrend wie den biblischen Autoren die antike Großstadt Babylon. Er fand sich dort nicht mehr zurecht. Die Stadt war für ihn, erfahren wir von Alfred Döblin in seinem Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“, wie die „Hure Babylon“, wie die apokalyptische Figur aus der Offenbarung des Johannes, die den baldigen Untergang einer aus den Fugen geratenen Welt symbolisierte.

 

Dass „Berlin Alexanderplatz“ viele religiöse Motive enthält, ist kein Zufall, sondern spiegelt auch die religiöse Suche von Alfred Döblin wider, der 1878 in einer jüdischen Familie in Stettin geboren wurde. Sein Judesein bemerkte er mehr am Antisemitismus seiner Umgebung als am religiösen Leben seiner Familie. Er wurde Arzt, erlebte die Schrecken des Ersten Weltkriegs in einem Lazarett an der Westfront und praktizierte dann als Mediziner in einem Berliner Arbeiterviertel. Hier lernte er die soziale Realität der „Goldenen Zwanziger Jahre“ kennen, die er in seinem apokalyptischen Roman verarbeitet hat, in dem das moderne Babylon an der Spree bei allem Schrecken auch eine Faszination besitzt.

 

Die „heile Welt“ vor dem Chaos der Apokalypse, das war für den Kleinkriminellen Franz Biberkopf ausgerechnet die geordnete Welt des Gefängnisses Tegel. Die dunklen Seiten der Metropole Berlin der zwanziger Jahre werden sichtbar durch die Darstellung des vergeblichen Versuchs von Franz Biberkopf, sich in dieser rauen Welt zurechtzufinden: „Wind gibt es massenhaft am Alex, an der Ecke von Tietz zieht es lausig. Es gibt Wind, der pustet zwischen die Häuser rein und auf die Baugruben.“[3]

 

Immer wieder greift Döblin in seinem Roman auf biblische Bilder zurück. Neben Anspielungen auf die Offenbarung des Johannes, etwa durch das Bild der Posaune des Jüngsten Gerichts, werden auch die Schöpfungsgeschichte, die Hiobgeschichte und die Botschaft der Propheten einbezogen: „Sprach Jeremia, wir wollen Babylon heilen, aber es ließ sich nicht heilen. Verlasst es, wir wollen ein jeglicher nach seinem Lande ziehen. Das Schwert komme über die Kaldäer, über die Bewohner Babylons.“[4]

 

Die Nacherzählung biblischer Geschichten im Roman und die vielen direkten und indirekten Bibelzitate und biblischen Themen sind kein Beiwerk, sondern halten den Roman zusammen. In diesem Roman werden die Abschnitte aus der Lebens- geschichte von Franz Biberkopf immer wieder unterbrochen durch Zitate aus Schlagertexten, Zeitungsartikeln, Werbesprüchen und Verordnungen der 1920er Jahre, die die reale Stadt Berlin in den Roman einbeziehen. Diese „Montage“ bedurfte in Alfred Döblins Roman einer interpretierenden, einordnenden Klammer, die biblische Texte – wie die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies – bildeten.

 

Textpassagen aus der Offenbarung des Johannes zur „Hure Babylon“ werden ein halbes Dutzend Mal fast wörtlich in den Roman eingefügt. Fast zwei Jahrtausende, nachdem Johannes seine Apokalyse-Darstellung geschrieben hatte, waren seine Bilder noch so aktuell und stark geblieben, dass sie in einen Großstadtroman eingepasst werden konnten. Mögen Theologen auch längst herausgefunden haben, dass die biblische „Hure Babylon“ eigentlich in Rom zu Hause war, so ist doch durch Döblins Roman für immer eine Verbindung zwischen den Großstädten an Euphrat und Spree hergestellt worden.

 

Untergehen wird das Babylon des Romans nicht, jedenfalls nicht auf eine spektakuläre Weise, aber das Bedrohliche und das Bedrohte bestimmen das Leben in dieser Stadt. In diesem modernen Babylon scheitert Franz Biberkopf immer wieder. Dass er aus einem fahrenden Auto geworfen wird und einen Arm verliert, ist nur eines der Ereignisse, die dieses Scheitern erfahrbar machen. Am Ende stirbt Franz Biberkopf, erlebt den Endkampf der „Hure Babylon“, erwacht zu neuem Leben und findet schließlich doch noch einen Platz in der Großstadt, als Hilfsportier in einer Fabrik.

 

Wenige Monate nach dem Erscheinen von „Berlin Alexanderplatz“ begann die Weltwirtschaftskrise und zeigte, wie fragil das anscheinend „goldene“ Stadtleben war. Drei Jahre später begann die Naziherrschaft. Alfred Döblin flüchtete nach dem Reichstagsbrand ins Nachbarland Frankreich und später in die USA. Die Apokalypse, die dann folgte, hat er aus dem Exil und anschließend als französischer Besatzungssoldat beobachtet. Literarisch konnte er nie an seinen erfolgreichen Vorkriegsroman anknüpfen. Er, der anders als andere Exilautoren gleich nach dem Krieg in die Heimat zurückkehrte, musste später die Bilanz ziehen: „Und als ich wiederkam – da kam ich nicht wieder.“ Den Satz hätte auch Franz Biberkopf sagen können. Im Alter erkrankte der tief enttäusche Schriftsteller an Parkinson, und, so erfahren wir von seinem Biografen Wilfried F. Schoeller, erlebte zudem ein „Verblassen seiner Frömmigkeit“.

 

Anders als von Franz Bieberkopf ist von seinem Schöpfer keine überraschende positive Wende am Ende des Lebensweges überliefert. Der Hiob der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts hat wenigstens seinem Romanhelden ein schönes Weiterleben zugeschrieben: „Es geht in die Freiheit, die Freiheit hinein, die alte Welt muss stürzen, wach auf, die Morgenluft.“[5] Allerdings ahnen wir am Ende des Romans, dass der Weg aus der alten Welt in einen neuen Krieg führen wird. „Und Schritt gefasst und rechts und links und rechts und links, marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg …“[6] Ein himmlisches Jerusalem, wie in der Offenbarung des Johannes, fehlt in diesem Roman.

 

Die „Zurückgelassenen“ und das Ende der Welt

 

Nun machen wir einen großen geografischen und auch religiösen Sprung. In den USA ist eine Buchreihe erschienen, die ebenfalls Babylon-Themen aus der Bibel und vor allem der Apokalypse aufgreift. Bietet sie ein „Panoptikum fundamentalistischer Urängste“, wie ein Autor der Schweizer „Weltwoche“ 2002 in einer Rezension urteilte?[7] Oder sind die Bücher „fesselnd von der ersten Seite an“, wie ein Leser schrieb? Die zwölfteilige Buchreihe „Left Behind“ (deutscher Titel: „Finale – die letzten Tage der Erde“) erschien von 1995 an, erreichte mittlerweile eine Gesamtauflage von weit mehr als 50 Millionen Exemplaren und wurde in viele Sprachen übersetzt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stieg der Absatz vorübergehend auf das Doppelte.[8] Das Ende der Welt schien für viele US-Amerikaner nahe herbeigekommen, und „Left Behind“ die dazu passende Lektüre zu sein. Die Autoren Tim LaHaye und Jerry Jenkins machen die Offenbarung des Johannes und weitere prophetische biblische Texte zur Grundlage ihrer Zukunftsromanreihe, an deren Ende die Wiederkehr Jesu steht.

 

Am Anfang der Geschichte steht der Transatlantikflug eines Jumbojets, aus dem auf zunächst unerklärliche Weise etwa hundert Passagiere spurlos verschwinden. Nur ihre Kleidungsstücke sind auf den Sitzen zurückgeblieben. Der Pilot kehrt daraufhin um und landet mit seinem Flugzeug in den USA, wo das ganze Ausmaß des sonderbaren Geschehens sichtbar wird. Millionen Menschen sind vom Erdboden verschwunden. Das Rätsel löst sich für die Leserinnen und Leser bald auf. Die verschwundenen Menschen sind wiedergeborene Christinnen und Christen, die in den Himmel entrückt wurden, begleitet von den unschuldigen ungeborenen Föten. Sie alle hat Gott zu sich genommen. Die „Zurückgelassenen“ sind Ungläubige, Alltagschristen, liberale Protestanten und Katholiken, denen es am rechten Glauben fehlt.

 

Auch der Pilot des Jumbojets gehört zu ihnen, während seine tiefgläubige Frau und sein Sohn zu den von Gott in den Himmel „Entrückten“ zählen. Der Pilot fragt sich in dem Roman, ob es „wirklich endgültig zu spät“ für ihn ist. Aber nicht alle „Zurückgelassenen“ sind für alle Zeiten verloren, erfahren wir. Allerdings durchleben sie erst einmal sieben Jahre des Schreckens und der gewaltigen Schlachten zwischen Gut und Böse. Wer sich von den Alltagschristen und den Juden zum wahren Glauben der wiedergeborenen Christen bekehrt, hat noch die Möglichkeit, am Heil teilzuhaben.

 

Der Gedanke einer solchen „Entrückung“ findet sich nicht in der Bibel, sondern entstand in den 1830er Jahren in den USA. Ebenso wurden hier und in Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert mehrere einflussreiche Werke veröffentlicht, die die Visionen vom Untergang Babylons in Verbindung bringen mit dem bevorstehenden Ende einer sündigen Welt, so das Buch „The Two Babylons“ von Alexander Hislop, in dem die katholische Kirche als Fortführung der heidnischen Religion von Babylon und insbesondere der Anbetung Nimrods erscheint. Auch wird eine direkte Linie von Belsazar bis zu den katholischen Päpsten gezogen. Dieses Buch wird immer noch verkauft und in einigen fundamentalistischen christlichen Kreisen intensiv studiert.

 

Zurück zu den „Zurückgelassenen“ der Romanreihe. Sie sind mit dem Chaos konfrontiert, die das plötzliche Verschwinden der in den Himmel Entrückten ausgelöst hat. Zahlreiche Flugzeuge stürzen ab, weil die Piloten entschwebt sind, ebenso sind Autos ohne Fahrer durch die Städte gerast und haben zahllose Verkehrsunfälle ausgelöst. Nur eine Romanidee? Nicht ganz, denn an vielen US-Autos findet sich der Aufkleber „In case of Rapture, this car will be unmanned“, im Falle der Entrückung wird dieses Auto unbesetzt sein.

 

Erstaunlicherweise arbeitet im Roman der Fernsehsender CNN noch, dort scheint es nur wenige nun fehlende wiedergeborene Christen gegeben zu haben. Die UNO schwingt sich in der Romanreihe unter Leitung eines rumänischen Despoten zur Weltregierung auf und verlegt ihren Sitz von New York in den Irak, in das neue Babylon. Der UN-Generalsekretär ist der personifizierte Antichrist, der bei einem Anschlag zwar stirbt, aber drei Tage später vom Teufel beseelt aufersteht. Hinter der negativen Darstellung der Vereinten Nationen steht durchaus eine religiös-politische Tagesordnung von Tim LaHaye. In einer CNN-Sendung äußerte er 2005: „… es hat mehr Kriege gegeben seit der Bildung der Vereinten Nationen als in jeder anderen vergleichbaren Periode der Geschichte“.[9] In dem CNN-Gespräch nannte er einen Grund, warum er diese Organisation so vehement ablehnt: „Bereits 1945, als sie die Vereinten Nationen starteten, habe ich als junger Prediger gesagt, dass sie scheitern werden, weil sie Gott absichtlich ausgeschlossen haben.“

 

Die Prophezeiungen der Offenbarung des Johannes lassen sich im Roman ganz direkt gegen das wieder aufgebaute Babylon, dem neuen Sitz der UNO, richten. Und um das Ganze noch zu steigern, wird in der Romanreihe eine „Enigma-Babylon-Welt-einheitsreligion“ eingeführt, die an die heidnischen Kulte des alten Babylons anknüpft und von einem Kardinal geleitet wird (in einem anderen Buch bezeichnet Tim LaHaye den Katholizismus als „Babylonischen Mystizismus“). Damit sind die Fronten geklärt. Die letzte Schlacht gegen den Humanismus, den Tim LaHaye seit vielen Jahren ausficht, und alle Formen des Christentums, die nicht den Vorstellungen der fundamentalistischen Autoren der Romanreihe entsprechen, kann beginnen. Dass das Gute am Ende der Schlacht („Armageddon“) siegt und der Pilot des Jumbojets und seine Frau wieder vereint werden, sollte niemanden überraschen.

 

Vielleicht ist das Gefährlichste an solchen christlichen Zukunftsromanen, dass die Welt krass in Gut und Böse aufgeteilt wird, und die Rollen klar verteilt sind: die wiedergeborenen Christinnen und Christen gegen den Rest der Welt. US-Politiker wie der frühere Präsident George W. Bush waren und sind von solchen Glaubensvorstellungen stark beeinflusst worden und meinten zum Beispiel, eine „Achse des Bösen“ auf der Welt zu erkennen. Die zwei Irakkriege lassen sich aus der Sicht vieler wiedergeborener Christen in Verbindung bringen mit dem Kampf gegen Babylon in der Offenbarung des Johannes und im Alten Testament. Wenn Gott am Anfang der Romanreihe von Tim LaHaye viele Tausend Menschen bei Flugzeugabstürzen, Autounfällen und anderen Katastrophen umkommen lässt, weil er ganz plötzlich alle wahren Gläubigen entrückt, dann können im Kampf für das Gute offenbar „Kollateralschäden“ hingenommen werden, und Nachsicht gegenüber den Bösen ist anscheinend ohnehin fehl am Platze.

 

Der bekannte deutsche Theologe Jürgen Moltmann hat die fundamentalistische Weltsicht und den Romanzyklus „Left Behind“ so kritisiert: „Die Zukunft Christi findet auf Erden statt, nicht im Himmel. Es wäre also besser, die Glaubenden blieben der Erde auch in Katastrophen treu und würden sich nicht ins Jenseits flüchten. Der fromme Entrückungstraum dagegen enthält eine Resignation, die diese Erde der Vernichtung preisgibt. Wer in seinem Glauben andere ‚zurücklässt‘, verlässt sie. Das kann weder eine gesegnete Hoffnung sein, noch etwas mit Liebe zu tun haben. Schließlich: Ein Gott, der nur darauf wartet, christliche Besatzungen aus ihren Flugzeugen zu ‚entrücken‘, damit diese abstürzen und Tausende Menschen getötet werden, kann kein Gott sein, dem man vertrauen kann. Das ist eher der üble Abgott einer krankhaften Weltverachtung.“[10]

 

Tim LaHaye, der die inhaltlichen Schwerpunkte der Romanreihe entworfen hat, kennt sich im Kampf gegen liberal-protestantische und katholische Gedanken sowie gegen säkulare Tendenzen in den Vereinigten Staaten aus. Er studierte in den 1950er Jahren an der privaten „Bob Jones University“, die zu dieser Zeit nicht nur ein fundamentalistisches Verständnis des Christentums verbreitete, sondern auch dadurch bekannt wurde, dass sie keine afro-amerikanischen Studenten aufnahm und Heiraten zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen ablehnte, weil dies die Sache einer „Eine Welt Regierung“ und damit des Antichristen fördern würde.

 

Tim LaHaye wurde nach dem Studium zum Prediger der sehr konservativen „Southern Baptists“ und neben dem Fernsehprediger Jerry Falwell einer der führenden Köpfe der evangelikalen politischen Bewegung „Moral Majority“, die u. a. Ronald Reagan massiv unterstützt hat. Tim LaHaye hat als einer der Ko-Vorsitzenden des Wahlkampfteams des republikanischen Kandidaten Jack Kamp in den US-Vorwahlkampf 1987/88 eingegriffen, musste sich aber zurückziehen, nachdem seine heftigen antikatholischen und antisemitischen Attacken bekannt wurden und breite Empörung auslösten.

 

Aber sein Kampf gegen „Babylon“ ging weiter und fand in der Buchreihe „Left Behind“ einen Höhepunkt. Zu den Lesern dieser Bücher gehörte auch George W. Bush, der mit der Mehrheit der US-Amerikaner die Überzeugung teilt, dass die in der Offenbarung des Johannes angekündigte Endzeit begonnen hat. In welchem Maße die „Left Behind‘“-Reihe diesen US-Präsidenten beeinflusst hat, im Irak einen Kampf gegen das Böse und den Erzfeind (Saddam Hussein) unter Einsatz massiver militärischer Mittel zu führen, lässt sich im Nachhinein schwer klären.

 

Aber dass die apokalyptische Story von „Left Behind“ eine beträchtliche religiöse, gesellschaftliche und politische Wirkung in den USA ausgeübt hat und ausübt, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Der kommerzielle Bucherfolg war Anlass, auch einen Film, eine Kinderbuchreihe, eine Comicversion, ein Computerspiel und verschiedene andere Medien zu den „Zurückgelassenen“ zu produzieren. Der Film zur Buchreihe wurde von einem katholischen Kritiker in den USA als „der schlechteste Film zur Entrückung, der jemals produziert wurde“ bezeichnet.[11] Und die „Washington Post“ schrieb: „Auf fast jeder Ebene ist dieser Film amateurhaft“.[12]

 

Der Archäologe, der den Countdown bis zum Ende der Menschheit beschleunigt

 

Als Anschlussprojekt von Tim LaHaye erschien von 2003 an die Buchreihe „Babylon Rising“. Auf dem Buchrücken der englischen Ausgabe des ersten Bandes wird angekündigt: „Babylon Rising macht uns bekannt mit einem großartigen Helden für unsere Zeit. Michael Murphy ist ein Hochschullehrer auf dem Gebiet der biblischen Prophetie, aber er gehört nicht zur behäbigen und konservativen Art von Hochschullehrern. Murphy ist ein Archäologe, der vor Ort Ausgrabungen durchführt, der Gefahren trotzt und furchtlos antiken Gegenständen aus biblischen Zeiten nachjagt und ihre Authentizität nachweist. Seine jüngste Entdeckung ist zugleich seine verblüffendste – aber sie wird ihn hineinschleudern lassen von einem Leben der Ausgrabungen in eine Konfrontation mit den Kräften des größten Bösen. Denn das neueste Geheimnis, das Michael Murphy enthüllt, beschleunigt den Countdown zu einer Zeit des Endes der ganzen Menschheit.“

 

Michael Murphy, laut dem Vorwort „ein wahrer Held unserer Tage“, kämpft noch einmal den in der Wirklichkeit längst verlorenen Kampf, die historische Exaktheit der ganzen Bibel mit den Mitteln der Archäologie zu beweisen – und, wir ahnen es, er siegt trotzdem und besiegt dabei die Mächte des Bösen. In die Handlung einbezogen ist geradezu notwendigerweise eine fantasiereiche Darstellung der Zerstörung Babylons, wie sie in biblischen Büchern prophezeit worden ist.

 

Der Archäologe gerät zunächst einmal in einen Kampf mit einem Löwen (ein Anklang an eine Daniel-Geschichte in der Bibel), den er schließlich besiegt. Derweil nimmt eine globale Verschwörung der „Sieben“ ihren Lauf, und einer von ihnen verkündet: „Mit Sicherheit wird mit dem Plan von uns Sieben die wahre Macht von Babylon – die dunkle Macht von Babylon – neu erstehen.“

 

Michael Murphy unterrichtet an einer Hochschule und will die Studentinnen und Studenten in Vorlesungen überzeugen, dass die Biblische Archäologie viele Beweise dafür gefunden hat, dass die biblischen Geschichten sich historisch genau so zugetragen haben, wie wir sie in der Bibel lesen. Bald darauf sucht und findet er nach verschiedenen gefährlichen Abenteuern als Archäologe im Irak die Teile einer Messingschlange des Mose (Numeri 21,9), die laut Roman als Kriegsbeute nach Babylon gelangte. Der Romanheld entdeckt zusätzlich den goldenen Kopf einer Statue von Nebukadnezar. Die Handlung wird unterbrochen durch dramatische und – positiv formuliert – fantasievolle Erzählungen vom heroischen Auftreten von Daniel gegenüber dem mächtigen König Nebukadnezar.

 

Im Mittelpunkt des zweiten Bandes steht die Arche Noahs, und im dritten Band macht sich der Held der Romanreihe auf die Suche nach der Handschrift an der Wand in der Belsazar-Geschichte. Auch ein Mordversuch auf den Helden und ein geplanter Sprengstoffanschlag auf eine Brücke in New York sind in die abenteuerliche Geschichte verwoben. Dieser dritte Band trägt den Titel „The European Conspiracy“, und darin werden ähnlich massive Vorwürfe gegen die Europäische Union erhoben wie in anderen Werken LaHayes gegen die UNO. Europa als Zentrum liberalen theologischen Denkens ist wiedergeborenen Christen in den USA suspekt und durchaus zu einer „Konspiration“ fähig. Noch verwegener wird die Handlung im vierten Band, in dem der israelische Geheimdienst Mossad gemeinsam mit Murphy falsche Propheten enttarnt und das Böse bekämpft. Der Sieg gegen die bösen „Sieben“ ist nun garantiert.

 

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Vgl. Ulrike Sals: Die Biographie der „Hure Babylon“, Tübingen 2004, S. 52.

[2] Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz, Frankfurt am Main 1980, S. 371.

[3] Ebenda, S. 239.

[4] Ebenda, S. 22.

[5] Ebenda, S. 677.

[6] Ebenda.

[7] Vgl. Martin Kilian: Der Bestseller, Die Weltwoche, 14/2002.

[8] Vgl. „Left Behind” author Jerry Jenkins on God and September 11, CCN, 3.10.2001.

[9] CNN Transcripts: America’s Most Influencial Evangelicals, 1. 2. 2005.

[10] Jürgen Moltmann: Die Endzeit hat begonnen, in: Die Zeit, 12.12.2002.

[11] Carl E. Olson: The Worst Rapture Movie Ever Made, The Catholic World Report, 5.10.2014.

[12] Michael O’Sullivan: „Left Behind“ movie review: Reboot costs more, adds Nicalas Cage to amateurish mix, The Washington Post, 2.10.2014.