Die Eroberung der Stadt Babylon durch die Perser

 

539 v. Chr. gelang es den Truppen des persischen Herrschers Kyros II., die Stadt Babylon einzunehmen. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot liefert eine fantasiereiche Beschreibung dieser Eroberung. Dabei spielte der bereits erwähnte Stausee am Euphrat oberhalb der Stadt eine wichtige Rolle. König Kyros ließ laut Herodot nämlich den Euphrat kurzfristig in den See umleiten, sodass der Fluss im Stadtgebiet weitgehend trocken war. Die persischen Truppen drangen nun durch das Flussbett vor, und weil die Stadt hier weniger stark befestigt war, gelang die Eroberung rasch.

 

Heute wissen wir, dass alles ganz anders verlaufen ist und Babylon kampflos in die Hände der Perser fiel. Die Umstände der Kapitulation sind bisher nicht restlos geklärt, aber viele Historiker nehmen an, dass die Marduk-Priester so zornig über das Verhalten von König Nabonid waren, dass sie und ihre Anhänger sich auf die Seite der Perser stellten. Gleichzeitig hatte der König offenbar die Unterstützung größerer Teile des Volkes verloren, sodass die Stadttore geöffnet wurden, als die persischen Truppen anrückten.

 

Der persische König betrieb eine kluge Besatzungspolitik, indem er die Priester ebenso wie die Staatsangestellten in ihren Ämtern beließ, die wirtschaftliche Betätigung der Bewohner der Stadt nicht behinderte und Babylon zumindest eine gewisse Bedeutung als Hauptstadt einer Provinz gab. Auch blühte Babylon noch einmal als Zentrum der Gelehrsamkeit und der Wissenschaft auf, wobei wichtige neue Impulse von persischen Zuwanderern ausgingen.

 

Das persische Reich war drei- bis viermal so groß wie das babylonische Reich zur Zeit seiner größten Ausdehnung. Dieses Großreich war nur zusammenzuhalten, wenn den einzelnen Völkern ein gewisser Grad von Eigenständigkeit zugebilligt wurde. Ebenso galt es, stabile politische und soziale Verhältnisse zu gewährleisten, was die persischen Könige vor allem dadurch erreichten, dass sie kooperationsbereite lokale Eliten in ihr Herrschaftssystem integrierten. Auch wurden die lokalen Tempel gefördert, wenn dies als geeignete Maßnahme erschien, die Loyalität gegenüber dem persischen Reich zu fördern.

 

Der Prophet Esra stärkt den Einfluss der Rückkehrer aus Babylon

 

Der Prophet Esra beschreibt, wie der persische König – in Erfüllung eines Auftrags Gottes – den Juden erlaubte, in ihre Heimat zurückzukehren: „Im ersten Jahr des Kyrus, des Königs von Persien, erweckte der HERR – damit erfüllt würde das Wort des HERRN, das durch den Mund Jeremias gesprochen war – den Geist des Kyrus, des Königs von Persien, dass er in seinem ganzen Königreich mündlich und auch schriftlich verkünden ließ: So spricht Kyrus, der König von Persien: Der HERR, der Gott des Himmels, hat mir alle Königreiche der Erde gegeben, und er hat mir befohlen, ihm ein Haus zu Jerusalem in Juda zu bauen“ (Esra 1,1-2).

 

Die Juden im Exil werden in diesem biblischen Text von König Kyros aufgefordert, nach Jerusalem zu ziehen und das Haus des Herrn, also den Tempel, wieder aufzubauen. Im 6. Kapitel des Buches Esra wird der Befehl von König Kyrus zum Wiederaufbau des Tempels noch einmal aufgenommen, und hier gibt der persische König sogar Anweisungen, wie der neue Tempel aussehen soll: „… seine Höhe sechzig Ellen und seine Breite auch sechzig Ellen und drei Schichten von behauenen Steinen und eine Schicht von Holz, und die Mittel sollen vom Hause des Königs gegeben werden“ (Esra 6,3-4).

 

Erwähnt wird auch eine Anordnung des Königs, die von Nebukadnezar geraubten goldenen und silbernen Geräte aus dem Tempel von Jerusalem zurückzugeben, damit sie wieder in den Tempel gebracht werden könnten. Der Anspruch der Rückkehrer aus dem Exil, den Tempel im Auftrag Gottes und im Auftrag des Königs von Persien wieder aufzubauen, verlieh den Zurückkehrenden eine herausragende Autorität bei diesem Bauvorhaben und damit auch im neuen Tempel, ebenso bei der theologischen Festlegung der Grundlagen des Glaubens an den einen Gott. Das wird dadurch bekräftigt, dass in Esra 2 die Familien aufgelistet werden, die aus dem Exil zurückkehrten. In Esra 8 finden wir dann eine weitere Auflistung der Familien. Diesen Familien – das wird deutlich – kam eine hervorgehobene Stellung beim Wiederaufbau des Landes zu.

 

Esra beanspruchte für sich selbst eine führende Stellung im neuen Jerusalem und beim Wiederaufbau des Tempels. Er war ein hochgebildeter Priester und führte seine Abstammung auf Aaron zurück, also bis in die israelitische Frühgeschichte. Auch stammte er in der Darstellung des Esra-Buches von bedeutenden Priestern am Tempel von Jerusalem ab. Er nahm in sein Buch eine Abschrift eines Briefes auf, den er vom persischen König Artahsasta erhalten haben wollte, „dem König aller Könige“. In dem Brief lesen wir: „Und nun, von mir ist befohlen worden, dass alle, die von dem Volk Israel und den Priestern und Leviten in meinem Reich willig sind, nach Jerusalem zu ziehen, mit dir ziehen können, weil du vom König und seinen sieben Räten gesandt bist, um aufgrund des Gesetzes deines Gottes, das in deiner Hand ist, nachzuforschen, wie es in Juda und Jerusalem steht, und hinzubringen Silber und Gold, das der König und seine Räte freiwillig geben dem Gott Israels, dessen Wohnung zu Jerusalem ist, und was du sonst an Silber und Gold erhältst in der ganzen Landschaft Babel samt dem, was das Volk und die Priester freiwillig geben für das Haus ihres Gottes zu Jerusalem“ (Esra 7,13-16).

 

Es folgen weitere Anweisungen für den Umgang mit dem Geld, verbunden mit der Ankündigung, dass bei Bedarf weitere Finanzmittel aus den Schatzhäusern des Königs zur Verfügung stehen würden. So großzügig waren die persischen Herrscher höchstwahrscheinlich nicht, aber sie hatten zweifellos ein Interesse daran, die sozialen und – verknüpft damit – auch die religiösen Verhältnisse in den Ländern ihres Herrschaftsgebietes zu stabilisieren. Einem Mann wie Esra kam im Rahmen einer solchen Politik durchaus eine wichtige Rolle zu, zumal er und andere Exiljuden sich loyal gegenüber den persischen Herrschern zeigten, die es ihnen ermöglichten, nach Jerusalem heimzukehren.

 

Esra erhielt in dem Brief nach biblischer Überlieferung auch die Autorität, Richter und Rechtspfleger einzusetzen und jene zu bestrafen, die sich nicht an das Gesetz Gottes und des Königs halten würden. Esra nutzte seine Autorität, erfahren wir in diesem biblischen Buch, um in Jerusalem für geordnete religiöse Verhältnisse zu sorgen und dabei den Einfluss der aus Babylonien zurückgekehrten Juden zu stärken. Er bekämpfte zudem Mischehen zwischen Juden und Angehörigen anderer Völker. Auch wurde den Bewohnern des früheren Nordreiches, die wegen der Heiraten mit zugezogenen Menschen aus anderen Völkern nicht mehr als wahre Juden galten, die Mitwirkung am Neubau des Tempels verwehrt. Die Samaritaner wurden also faktisch aus der religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen, was Konflikte auslöste, von denen noch im Neuen Testament mehrfach die Rede ist.

 

Es gibt erhebliche Zweifel daran, dass die Briefe des persischen Königs und seiner Beamten, die im Esra- und auch im Nehemia-Buch zitiert werden, authentisch sind, denn das verwendete Aramäisch weist Eigenheiten auf, die auf die frühe hellenistische Zeit hindeuten. Thomas Hieke schreibt in einem Beitrag über die beiden biblischen Bücher: „… erweisen sich diese ‚Briefe‘ als Fiktionen, die somit nicht als Schreiben persischer Könige und Beamter aufzufassen sind, sondern als geschickte literarische Stilelemente, die eine bestimmte Sicht von Welt, Gott und Geschichte vermitteln wollen, mithin ‚Theologie treiben‘."[1] Entstanden sind die Texte vermutlich etwa im 3. Jh. v. Chr.

 

Zu den Leistungen des biblischen Verfassers Esra gehört es, wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass die Tora als Sammlung religiöser Texte des Judentums eine feste Gestalt annahm und zur verbindlichen Glaubensgrundlage wurde. Esra genoss im Jerusalem der Nachexilzeit ein so hohes Ansehen, dass er als „zweiter Mose“ bezeichnet wurde, was auch im späteren Babylonischen Talmud nachzulesen ist.

 

Der gepriesene Förderer eines „dunklen Kultes“

 

Kehren wir noch einmal zurück zu König Kyros. Dass er den Marduk-Kult förderte, kann natürlich Fragen für diejenigen Christen aufwerfen, die den persischen König als von Gott gesandten Retter verstehen und gleichzeitig die babylonische Religion als zutiefst heidnisch brandmarken. Das muss besonders für den schon mehrfach zitierten Werner Keller gelten, der in seinem Buch „Und die Bibel hat doch recht“ die babylonische Religion als „dunklen Kult“ verunglimpft und in Verbindung mit der Prostitution gebracht hatte. Nun lesen wir: „Nach seinem Einzug in Babylon lässt Kyros sofort die Bilder und Schreine der volkstümlichen Gottheiten wiederherstellen.“[2]

 

 Aus massiv attackierten heidnischen Göttern sind hier also „volkstümliche Gottheiten“ geworden, weil dies gerade passt, um ein uneingeschränkt positives Bild von König Kyros zu zeichnen. Man wird eine solche leicht durchschaubare „Neugewichtung“ wohl nur als plumpen Versuch bezeichnen können, ein tatsächliches historisches Geschehen mit vielen Grautönen in eine Schwarz-Weiß-Geschichte umzudeuten. Sei hinzugefügt, dass die Bildnisse und Schreine der „volkstümlichen Gottheiten“ während der Herrschaftszeit des babylonischen Königs Nabonid keineswegs zerstört worden waren.

 

Die Vernachlässigung des Kults reichte, um die Marduk-Priester gegen den König aufzubringen. Und die babylonischen Kriegsgefangenen, die nach einer Schlacht im Norden Babyloniens auf Befehl von Kyros II. zu Tausenden niedergemetzelt wurden? Sie fehlen in der Darstellung von Werner Keller. Eine solche historische Tatsache passte nicht zum Bild von einem „Herrscher der Toleranz“.[3] Über diesen König lesen wir: „Die Bibel bewahrt ihn als den Lichtbringer im Gedächtnis. Sein beispiellos rascher, glänzender Aufstieg ist durch keine Gewalttat befleckt. Seine kluge, weitherzige Politik macht ihn zu einer der sympathischen Gestalten des Alten Orients. Die widerwärtigen Eigenschaften orientalischer Herrscher vor ihm, die despotische Grausamkeit, ist diesem Perser fremd.“[4] Es gibt Zitate, die mich sprachlos machen angesichts des Ausmaßes von Ignoranz (in diesem Falle über den historischen Kyros II.) und Böswilligkeit (in diesem Falle gegen orientalische Herrscher).

 

König Kyros hat sich schließlich doch nicht als eine solche Lichtgestalt erwiesen, wie viele Juden im babylonischen Exil gehofft hatten. Nicht nur förderte er den Marduk-Kult auf vielfältige Weise, sondern er unterstützte die Rückkehr der verschleppten Juden in die Heimat nur in geringem Umfang und den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem sehr wahrscheinlich gar nicht. Zwar war in seiner Herrschaftszeit eine Rückkehr der Exiljuden grundsätzlich möglich, aber ohne eine staatliche Förderung war der Weg in eine kriegszerstörte Heimat, in der andere sich das eigene Land und Vermögen angeeignet hatten, für die meisten Juden in Babylonien keine attraktive Perspektive. Erst unter den Nachfolgern Kambyses und vor allem Darius wurden eine Rückkehr größerer Exilgruppen und der Beginn des Wiederaufbaus des Tempels in bedeutendem Umfang gefördert. Die Hoffnungen im Esra-Buch für eine rasche Rückkehr großer Exilgruppen in die Heimat und den schnellen Wiederaufbau des Tempels erfüllten sich unter König Kyros also nicht.

 

Umstritten: Die „erste Charta der Menschenrechte“

 

König Kyros II. wurde 1971 vom Schah von Persien zur Lichtgestalt der persischen Geschichte stilisiert, um bei den pompösen Feiern von 2.500 Jahren Monarchie in Persien eine Linie von dem antiken Herrscher zum nun herrschenden Schah zu ziehen. Im Rahmen dieser Propagandafeiern wurde den Vereinten Nationen feierlich eine Kopie des „Kyros-Zylinders“ überreicht. Der Text stellte nach Darstellung der iranischen Führung um den Schah die „erste Charta der Menschenrechte“ dar, und gern sah dieser iranische Monarch sich in der Tradition als Verteidiger der Menschenrechte.

 

Eine solche Propaganda war um so wichtiger, als er Anfang der 1970er Jahre im eigenen Land und international zu Recht für eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wurde. Deshalb ist die Leitung der Vereinten Nationen in New York immer wieder dafür kritisiert worden, dass sie die Darstellung der iranischen Führung ungeprüft übernahm. Der damalige UN-Generalsekretär sprach von einer „antiken Deklaration der Menschenrechte“ und ließ den Keilschrifttext in alle offiziellen UN-Sprachen übersetzen. Die Kopie des Zylinders ist weiterhin in einer Schauvitrine im UNO-Gebäude in New York ausgestellt. Das Original befindet sich im Britischen Museum.

 

Genauere historische Überprüfungen ergaben, dass es sich beim „Kyros-Zylinder“ eindeutig um einen Propagandatext des militärisch erfolgreichen persischen Königs handelt, der wenig mit den tatsächlichen politischen und sozialen Verhältnissen im damaligen persischen Reich zu tun hatte. Kyros II. war zweifelsohne ein genialer Feldherr und Politiker, der aus kleinen Anfängen ein riesiges Reich zusammenfügte, aber er war keineswegs ein früher Verfechter dessen, was wir heute unter Menschenrechten verstehen. Nicht nur führte Kyros II. fast drei Jahrzehnte lang Kriege, sondern er bestrafte Unbotmäßigkeit auch mit dem Abschneiden von Nasen und Ohren sowie in gravierenderen Fällen damit, dass die Betroffenen bis auf den Kopf im Wüstensand eingegraben wurden und dann qualvoll unter der sengenden Sonne litten, bis sie schließlich starben.

 

Im Rückblick ist eindeutig, dass der Schah von Persien 1971 eine antike Propagandaschrift für die eigene Propaganda nutzte. Er war damit überaus erfolgreich, und auch in Deutschland erschien aus diesem Anlass eine Festschrift mit Geleitworten des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten. Geholfen haben die Jubelfeiern und die geschickt lancierte Propaganda um die „Menschenrechtserklärung“ dem Schah nicht, denn er wurde bald darauf gestürzt und aus dem Iran vertrieben.

 

Die Debatte um den angeblichen Menschenrechts-Zylinder von Kyros II. könnte ein Anlass für die Kirchen sein, das einseitig positive Bild dieses antiken Herrschers zu korrigieren und seine Darstellung in biblischen Texten als zeitgeschichtlich verständliche Aussagen von Menschen zu interpretieren, deren Exilszeit dank dieses Herrschers ihrem Ende entgegenging. Das Überdenken ist schon deshalb naheliegend, weil im Text des Zylinders ein Rechenschaftsbericht des Königs enthalten ist, in dem es über seinen Aufenthalt in Babylon heißt: „Tag für Tag kümmere ich mich um die Verehrung von Marduk.“ Das ist jener Gott, über den wir in der Bibel und in der christlichen Literatur eine große Anzahl von Schmähungen finden.

 

Daniel in der Löwengrube

 

Wir kehren an dieser Stelle noch einmal in die Welt des Daniel-Buches zurück. In der zeitlichen Abfolge der Daniel-Geschichten übernahm Darius aus Medien die Herrschaft über das schmählich untergegangene Babylonien. Vorbild für den Darius in dieser Geschichte war aber wahrscheinlich der persische König Darius I. Der König Darius der biblischen Geschichte setzte Daniel als einen von drei Fürsten ein, denen gegenüber die 120 Statthalter Rechenschaft ablegen sollten, „damit der König der Mühe enthoben wäre“ (Daniel 6,3).

 

Daniel übertraf die übrigen Fürsten und Statthalter, und der König dachte daran, ihn zu seinem Stellvertreter im ganzen Königreich zu berufen. Das löste die Missgunst der anderen Fürsten und Statthalter aus, und sie suchten, zunächst allerdings vergeblich, nach einem Vergehen von Daniel und einen Grund, gegen ihn Anklage zu erheben. Schließlich schmiedeten sie den Plan, Daniel wegen seiner Gottesverehrung vor dem König anzuklagen.

 

Sie gingen zum König und sprachen: „Es haben die Fürsten des Königreichs, die Würdenträger, die Statthalter, die Räte und Befehlshaber alle gedacht, es solle ein königlicher Befehl gegeben und ein strenges Gebot erlassen werden, dass jeder, der in dreißig Tagen etwas bitten wird von irgendeinem Gott oder Menschen außer von dir, dem König, allein, zu den Löwen in die Grube geworfen werden soll“ (Daniel 6,8). König Darius ließ tatsächlich ein Gebot verkünden. „Als nun Daniel erfuhr, dass ein solches Gebot ergangen war, ging er hinein in sein Haus. Er hatte aber an seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem, und er fiel dreimal am Tag auf seine Knie, betete, lobte und dankte seinem Gott, wie er es auch vorher zu tun pflegte“ (Daniel 6,11).

 

Darauf hatten seine Gegner nur gewartet, und sie berichteten dem Herrscher: „O König, hast du nicht ein Gebot erlassen, dass jeder, der in dreißig Tagen etwas bitten würde von irgendeinem Gott oder Menschen außer von dir, dem König, allein, zu den Löwen in die Grube geworfen werden solle?“ (Daniel 6,13). Der König antwortete: „Das ist wahr, und das Gesetz der Meder und Perser kann niemand aufheben.“ Nun wurde dem König berichtet, dass Daniel drei Mal am Tag zu seinem Gott betete. Der König war daraufhin betrübt und bemühte sich, Daniels Leben zu retten. Aber die Fürsten und Statthalter drangen darauf, dass dieses wie alle Gesetze der Meder und Perser eingehalten werden müsste. Da blieb dem König in dieser Geschichte nichts übrig, als Daniel in die Grube der Löwen werfen zu lassen.

 

Früh am nächsten Morgen ging der König eilig zur Löwengrube und rief Daniel „mit angstvoller Stimme“: „Daniel, du Knecht des lebendigen Gottes, hat dich dein Gott, dem du ohne Unterlass dienst, auch erretten können von den Löwen?“ (Daniel 6,21). Daniel lebte, pries den König und sprach: „Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat, sodass sie mir kein Leid antun konnten; denn vor ihm bin ich unschuldig, und auch gegen dich, mein König, habe ich nichts Böses getan“ (Daniel 6,23).

 

Der erfreute König ließ Daniel aus der Löwengrube ziehen und die Männer, die Daniel angeklagt hatten, zu den Löwen werfen, ebenso ihre Kinder und Frauen. „Und ehe sie den Boden erreichten, ergriffen die Löwen sie und zermalmten alle ihre Knochen“ (Daniel 6,25). König Darius ließ allen Völkern und Menschen auf der ganzen Erde schreiben und verkünden: „Das ist mein Befehl, dass man in meinem ganzen Königreich den Gott Daniels fürchten und sich vor ihm scheuen soll. Denn er ist der lebendige Gott, der ewig bleibt, und sein Reich ist unvergänglich, und seine Herrschaft hat kein Ende. Er ist ein Retter und Nothelfer, und er tut Zeichen und Wunder im Himmel und auf Erden. Der hat Daniel von den Löwen errettet“ (Daniel 6,27-28). Daniel aber erhielt eine große Macht im Reich des Darius und danach auch im Reich von Kyros von Persien, denn in der Daniel-Geschichte folgte – wie erwähnt – auf das Reich der Meder das Reich der Perser.

 

Der Versuch, die historische Authentizität dieser Geschichte zu beweisen, muss schon daran scheitern, dass – wie erwähnt – Darius kein König der Meder, sondern der Perser war. Der persische König Darius hat nicht verlangt, von allen angebetet zu werden, während der Glaube an andere Götter hart bestraft werden würde. Ein solches Gesetz hätte sich auch gegen alle Anhänger der persischen Religion gerichtet – und selbst wenn man das für möglich halten sollte, wäre undenkbar, dass von einem solchen Gesetz der Meder und Perser nichts, absolut gar nichts in den zeitgenössischen Quellen aus der Zeit von Darius I. zu finden ist.

 

Auch ist auszuschließen, dass der persische König (oder ein König der Meder) verkündet hat, dass man im ganzen Königreich „den Gott Daniels fürchten“ sollte. Sei noch erwähnt, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass der historische Darius I. sich von seinen Untergebenen so in die Enge treiben ließ, dass er seinen fähigsten Mitarbeiter den Löwen vorwarf. Ein mächtiger König hätte sich problemlos über selbst erlassene Gesetze hinweggesetzt. Die Gesetze der Meder und Perser banden ganz gewiss nicht einen Darius I. Wir beschäftigen uns hier, um noch einmal Matthias Albani zu zitieren, mit einer Legende, „die zur Treue gegenüber Gott mahnt und zeigen soll, dass Gott der wahre Herrscher über die Weltmächte ist, dass er seine Gläubigen aus aussichtslosen Situationen zu retten vermag“.[5]

 

Problematisch bleibt in dieser Geschichte das Bild eines orientalischen Herrschers, so Matthias Albani: „Es ist eine gutmütige, etwas dümmliche Sultansfigur, die zwar Macht hat, aber zu keinen eigenen Entschlüssen fähig ist und somit ganz von den intriganten Ratgebern gelenkt werden kann.“[6] Liest man die Geschichte heute ohne Vorkenntnisse, kann sie also durchaus Vorurteile gegen die Welt des Orients und seine Herrscher auslösen oder bekräftigen.

 

Eine dramatische Geschichte für den Kindergottesdienst

 

Die Geschichte von Daniel und der Löwengrube scheint wie geschaffen für den Kindergottesdienst zu sein, voller Dramatik, voller Gottvertrauen und mit einem Happy End (jedenfalls für Daniel, und dass seine Widersacher und deren Familien den Löwen vorgeworfen werden, verschweigt man in Nacherzählungen für Kinder häufig lieber).

 

Zu diesen lebendigen Geschichten passt das Gemälde „Daniel in der Löwengrube“ von Peter Paul Rubens, das etwa in der Zeit von 1614 bis 1616 entstand und den Augenblick zeigt, als die Höhle wieder geöffnet wird und das Tageslicht die Szene beleuchtet. Der dankbar betende Daniel ist umgeben von naturalistisch darge-stellten lebensgroßen Löwen, die friedlich dastehen und daliegen, denen man ihre potenzielle Gefährlichkeit aber ansieht. Das Wunderbare an dieser Geschichte – war der Maler offenkundig überzeugt – wird erst deutlich, wenn die Gefährlichkeit der Löwen real erscheint, ebenso aber ihr friedliches Verhalten in dieser einen Situation. Mehrere Löwen blicken die Betrachter an und nehmen sie mit hinein in das Bildgeschehen. Dass Peter Paul Rubens in der Lage war, die Löwen Anfang des 17. Jahrhunderts so realistisch darzustellen, lag daran, dass er sie in der königlichen Menagerie in Brüssel genau hat beobachten können.

 

Liest man pädagogische Anleitungen für Kindergottesdienst und Religionsunterricht, so wird deutlich, dass den Kindern selten vermittelt wird, dass es sich bei dem biblischen Text von Daniel in der Löwengrube um eine Glaubensgeschichte handelt. Sie sollte Menschen in bedrohlichen Situationen den Mut machen, für ihren Glauben einzustehen und an ihm festzuhalten. Demgegenüber ging es dem Verfasser nicht darum, ein tatsächliches historisches Geschehen in Babylon möglichst genau wiederzugeben. Eine pädagogische Herausforderung besteht darin, nicht den Eindruck zu erwecken, dass Daniel tatsächlich in eine Löwengrube geworfen wurde, und gleichzeitig deutlich zu machen, dass diese Geschichte kein Märchen ist, sondern uns vermittelt, wie Menschen ihren vertrauensvollen Weg mit Gott in eine dramatische Geschichte gefasst haben.

 

Aber ist das nötig? Warum sollten Kinder nicht glauben, dass das, was diese mehr als 2.000 Jahre alte Geschichte erzählt, sich damals wirklich so zugetragen hat? Die Gegenfrage muss lauten: Was geschieht, wenn diese Kinder älter werden? Werden sie sich an die Geschichte von Daniel so erinnern wie an die Geschichte von Hänsel und Gretel? Sie werden vermutlich Zweifel bekommen, ob dieser Daniel wirklich gelebt und die Begegnung mit den Löwen überlebt hat – und sie werden mit solchen Zweifeln häufig allein dastehen. Gerade die Geschichte von Daniel und den Löwen bietet sich dafür an, Kindern behutsam nahezubringen, dass es tiefere Wahrheiten gibt, als jene, die in Geschichtsbüchern stehen – dass Menschen von alters her ihren Glauben in Geschichten zum Ausdruck gebracht haben, die uns bis heute berühren und uns das göttliche Geheimnis nahebringen. Erfreulich deshalb, dass in einem Erzählvorschlag der Reformierten Kirchen in Bern-Jura-Solothurn zu „Daniel in der Löwengrube“ ausdrücklich von einer „Legende“ gesprochen wird, die in schwierigen Zeiten Mut machen kann.[7]

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann



[1] Thomas Hieke: Esra-Nehemia-Buch, www.bibelwissenschaft.de (November 2005).

[2] Werner Keller: Und die Bibel hat doch recht, a. a. O., S. 335.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda, S. 333.

[5] Matthias Albani: Daniel, a. a. O., S. 140.

[6] Ebenda, S. 143.

[7] Reformierte Kirchen in Bern-Jura-Solothurn: Daniel in der Löwengrube, S. 1.