„Wer will es wagen, etwas anderes zu bestimmen, als die Kirche durch ihre Gewohnheit festgesetzt hat.“ Beschwörend versuchte der Hamburger Domdekan, die Autorität und Einheit der Kirche zu wahren. Aber die Welt war aus den Fugen geraten, das wusste kaum jemand besser als der hochgebildete Albert Krantz. Als er 1448 in Hamburg geboren wurde, hatte die mittelalterliche Ordnung bereits erste Risse bekommen, aber wirkte noch recht stabil. Als er 1517 starb, war Amerika entdeckt worden, mehrten sich die auch gewaltsam ausgetragenen sozialen Auseinandersetzungen und sorgten Luthers Schriften für Aufregung.
Albert Krantz entstammte einer Kaufmanns- und Reederfamilie. Er besuchte die Hamburger Domschule und begann schon im Alter von 15 Jahren ein Studium an der Universität Rostock. In Mainz promovierte er als Kirchenrechtler und im italienischen Perugia als Theologe. In Rom traf er mit bedeutenden Vertretern des Humanismus zusammen und übernahm viele ihrer Gedanken. 1480 berief man Krantz zum Professor an der Universität Rostock, und er wirkte dort auch als Dekan der philosophischen Fakultät und Rektor.
Albert Krantz wird leitender Geistlicher am Hamburger Dom
Aber Albert Krantz war nicht nur ein angesehener Wissenschaftler, sondern erwarb sich auch als Diplomat für die Hansestädte Lübeck und Hamburg große Verdienste. Seine Reisediplomatie führte ihn vom Baltikum bis England und Frankreich. Immer wieder konnte er zwischen verfeindeten Städten und Reichen vermitteln. Trotz all seiner Erfolge musste er aber miterleben, dass sich der festgefügte Städtebund der Hanse langsam auflöste. Auch das Deutsche Reich befand sich in einer Krise.
1493 erhielt Albert Krantz eine neue Aufgabe: Das Hamburger Domkapitel berief ihn zum Lektor (Lehrer), der die Aufgabe hatte, junge Pastoren theoretisch und praktisch auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Die, die bei ihm lernten, sagten später über ihn, dass er das Kennenlernen der Wissenschaft zu einem Vergnügen gemacht hatte. 1508 wurde Krantz zum Domdekan ernannt, also zum leitenden Geistlichen am Hamburger Dom.
Die Stadt hatte damals etwa 15.000 Einwohner und war zu einer der führenden Handelszentren Nordeuropas aufgestiegen. Es gab aber heftige soziale Konflikte angesichts einer krassen Kluft zwischen Arm und Reich. Innerhalb eines Jahrhunderts war es zu drei Aufständen des Volkes gegen die herrschende Ordnung gekommen. Vom Aufbegehren gegen die mittelalterliche Ordnung und die Macht der Zünfte profitierten vor allem die Fernkaufleute, die die Ratsposten unter sich aufteilten. Da die Ratsherren auf Lebenszeit gewählt wurden, war ihre Machtbasis schwer anzugreifen.
Die Kaufleute nutzten ihre Position, um mit hohem Gewinn große Mengen Getreide zu exportieren, lösten damit aber in Hamburg selbst eine Verdreifachung des Getreidepreises aus und nahmen eine Hungersnot unter den Armen in Kauf. Ein Aufstand im Jahre 1483 beendete der Rat mit Gewalt. Der Konflikt trug dazu bei, dass Krantz ähnlich wie Luther zu einem scharfen Kritiker des Wuchers skrupelloser Kaufleute wurde.
Der Aufstieg der Kaufleute hatte auch den Einfluss der Kirche eingeschränkt. Immer wieder kam es zu Konflikten zwischen den Domherren als Vertretern des Erzbischofs von Bremen und dem Rat. Es ging vordergründig um einzelne Privilegien der Kirche, im Kern aber um die Frage der Macht. Da Bürgermeister Langenbeck ein Schüler von Albert Krantz gewesen war und beide weiterhin befreundet waren, konnte Krantz manchen Streit entschärfen.
Der Versuch, die Kirche von innen heraus zu erneuern
Gravierender wirkte sich in der Kirche aus, dass Geistliche, Mönche und Nonnen durch einen unmoralischen Lebenswandel den Zorn des Volkes, das noch immer tief fromm war, auf sich zogen. Die kirchlichen Verhältnisse in Hamburg sah auch der Vatikan als so skandalös an, dass der Papst 1503 einen Kardinal zu einer Visitation nach Hamburg entsandte. Er gebot „den Pfaffen bei Strafen des Bannes innerhalb Monatsfrist die Concubinen von sich zu lassen“. Domherr Krantz wurde nicht müde, die Missstände anzuprangern und Reformen zu fordern: „Diese irren gewaltig, welche die Vorschriften der Kirche bloß auf das Hersagen der Gebete beschränken und meinen, die Andacht sei nicht befohlen. Das Öffnen des Mundes ist eitel, wenn dabei der Psalm des Herzens fehlt.“
Albert Krantz scheute sich auch nicht, die Bischöfe zu kritisieren, die „lieber die Jagdhunde im Wald segnen und die weltlichen Fürsten bei Hofe verehren“, als ihren geistlichen Aufgaben nachzukommen. Mit großer Ernsthaftigkeit und Ausdauer bemühte er sich um die Erneuerung der Kirche. Dabei grenzte er sich deutlich von jenen ab, die sich von der katholischen Kirche gelöst hatten oder auf diesem Wege waren. Den böhmischen Reformator Johannes Hus, der 1415 verbrannt worden war, nannte Krantz „einen unredlichen Verleumder, der es gewagt hat, Blasphemien gegen die ganze Römische Kirche in seiner geschwätzigen Beredsamkeit hervorzubringen“.
Krantz wusste andererseits aufgrund seiner humanistischen Bildung, dass die mittelalterliche Glaubenswelt nicht restauriert werden konnte und bemühte sich deshalb um ein neues Verständnis wichtiger Glaubensinhalte und Ausdrucksformen des Glaubens. Zwar hielt er gegen allen Widerstand an der Reliquienverehrung fest, lehrte aber, dass nicht den Knochen Ehre erwiesen werde, sondern dem Geiste, der ihnen einst innewohnte, jetzt aber mit Christus herrsche. Um in einer Zeit des Umbruchs die Tradition zu wahren und neu zu interpretieren, verfasste Krantz eine einheitliche Gottesdienstordnung für die Hamburger Kirchen und schrieb grundlegende Werke zur Geschichte und Kirchengeschichte in Norddeutschland.
Bei aller Reformbereitschaft beharrte er auf der Autorität der Kirche. Hätte es mehr Reformer wie Krantz gegeben, vielleicht wäre die Spaltung der Kirche in der Reformationszeit vermieden worden, aber die Reformen in der Kirche blieben in Anfängen stecken. Auf dem Krankenlager nahm er 1517 noch die 95 Thesen Luthers zur Kenntnis. Er soll dazu geäußert haben: „Bruder, tritt zurück in Deine Zelle und sprich: Erbarme Dich meiner, o Gott!“ Ob authentisch oder später gut erfunden, der Satz macht deutlich, dass Krantz klar erkannte, dass nun jener Bruch kaum noch zu vermeiden war, den er durch eine Erneuerung der Kirche hatte verhindern wollen. Er starb am 7. Dezember 1517. Sein Grabstein befindet sich heute im Museum für Hamburgische Geschichte.
Aus: Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte