Cover des Buches "Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte"
Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte, ISBN 978-3-384-05017-5, 1016 Seiten, 38 Euro

1755 – Johann Melchior Goeze wird zum streitbaren Hauptpastor von St. Katharinen

Nur zögernd und zagend kam er 1755 aus dem überschaubaren Magdeburg, wo ihm die „unverdiente Liebe seiner Gemeinde“ zuteil geworden war, als Hauptpastor an die St. Katharinenkirche in der Großstadt Hamburg. So jedenfalls hat er seinen Wechsel an die Elbe beschrieben. Der am 16. Oktober 1717 geborene Pastorensohn Johann Melchior Goeze hatte Theologie studiert und war in mehreren Gemeinden tätig gewesen, zuletzt von 1750 an in Magdeburg. Hier geriet er mitten hinein in den Kampf von Orthodoxen und Pietisten, von bibeltreuen Gläubigen und radikalen Aufklärern, von Lutheranern und Reformierten - und Johann Melchior Goeze stürzte sich mehr als jeder andere in diese Auseinandersetzungen, die er von der Kanzel herab und in diversen Publikationen als orthodoxer Lutheraner streitlustig führte.

Der berühmt gewordene "Fragmentenstreit" mit Lessing

Diese Bereitschaft zum Streiten für die orthodoxe Sache prägte auch seine Zeit in Hamburg. Berühmt geworden sind seine Konflikte mit Lessing, der die „Fragmente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten“ veröffentlicht hatte. Autor der „Fragmente“ war der Aufklärer Hermann Samuel Reimarus, der die Schrift wegen der zu erwartenden Attacken auf seine bibel- und kirchenkritischen Ausführungen mit einem Plädoyer für eine vernünftige Religion zu Lebzeiten unter Verschluss gehalten hatte.

Der Streit mit Lessing war zwar die berühmteste, aber nicht einmal die heftigste Auseinandersetzung Goezes, denn mit Lessing verband ihn eine gegenseitige Achtung, und von Zeit zu Zeit führten sie freundliche Gespräche mit einem guten Wein aus dem Keller des Hauptpastors. Lessing hat Goeze im Patriarchen seines Schauspiels „Nathan der Weise“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Franklin Kopitzsch schreibt dazu in seinem grundlegenden Werk über die Zeit der Aufklärung in Hamburg: „In der Tat trägt die Figur des Patriarchen Züge Goezes – in der schroffen Unduldsamkeit wie in der Desinteressiertheit an menschlichen Schicksalen und der Unfähigkeit, von einmal gefällten Urteilen abzurücken.“

Ein Hauptpastor, der keinem Streit aus dem Wege ging

Demgegenüber war das Verhältnis Goezes zu seinem Diaconus an St. Katharinen, Julius Gustav Alberti, ausgesprochen gespannt, denn Alberti verkehrte in den Kreisen der Aufklärer. Zum Eklat kam es, als der Diaconus am Bußtag 1769 den in der Liturgie vorgesehenen Psalmvers „Schütte deinen Grimm auf die Heyden, die dich nicht kennen, und auf die Königreiche, die Deinen Namen nicht anrufen“ im Gottesdienst wegließ. Zwar waren die Heiden weit weg, aber viele Lutheraner schlossen die Katholiken, die Reformierten und die Juden in die Verdammnis gleich mit ein, und da es davon viele in der Stadt gab, hatte das Weglassen oder Sprechen des Satzes eine hohe kirchenpolitische Brisanz. Also nahm die Polemik ihren Lauf. Im „Musen-Almanach“ des Aufklärers Johann Heinrich Voß erschien eine „Grabinschrift“ für den noch lebenden Hauptpastor von St. Katharinen:

    Der Papst Hammoniens liegt unter diesem Stein.

Im Himmel wird er Socrates, den Heiden,

So wenig als den Ketzer Alberti leiden.

Giebt Gott ihm aber keinen Himmel allein,

So wissen wir nicht, wo er wird bleiben.

Vorerst blieb Goeze auf der Erde und ließ verlauten, er habe gar nichts dagegen, sich mit allen Heiden und Ketzern in einem Himmel zu finden, nur sollten seine Kritiker sich fragen: „Wo werden wir bleiben?“ Als das umstrittene Gebet 1770 im Einvernehmen der meisten Geistlichen und des Rates aus der Bußtagsliturgie entfernt wurde, gab Goeze sein Amt als Senior der Pastoren auf und zog sich immer weiter aus der Gemeinschaft seiner Amtsbrüder zurück. Dafür wetterte er weiterhin von der Kanzel herab auf seinen Amtsbruder Alberti und viele andere Widersacher. Da Goeze und Alberti abwechselnd auf die Kanzel der Katharinenkirche traten, war für ein lebendiges kirchliches Leben gesorgt. Die Tatsache, dass einer der beiden für eine Sache war, garantierte fast schon, dass der andere sich entschieden dagegen aussprach.

Ein Feldzug gegen das Theater

Eines der Opfer der Angriffe Goezes war der Bergedorfer Pastor Johann Ludwig Schlosser, der in seiner Jugend zwei Theaterstücke geschrieben hatte, die 1766 und 1767 in Hamburg ohne Nennung seines Namens durch die Ackermannsche Schauspielgesellschaft zur Aufführung kamen. Aber in einer Stadt voller Klatsch und Tratsch sprach es sich rasch herum, aus wessen Feder „Der Zweikampf“ und „Maskerade“ stammten. Nun galt das Theater in vielen kirchlichen Kreisen noch immer als eine sehr anrüchige Sache, und Schlosser traute sich nicht einmal, seine eigenen Stücke im Theater anzusehen.

Aber als seine „Jugendsünden“ sich herumsprachen, griff Goeze ihn aufs Heftigste an, wobei der Inhalt der Stücke gar keinen Anstoß bot. Allein die Tatsache, dass ein Pastor Theaterstücke geschrieben hatte, war der Skandal. Goeze warf seinem Amtsbruder vor, er habe sich „vom bösen Feind ... verblenden lassen“. Erst ein Verbot des Rates der Stadt, die Sache weiter öffentlich zu debattieren, setzte dem Theaterstreit nach elf Monaten ein Ende.

1779 löste Goeze eine diplomatische Krise aus, als er Reformierten und Katholiken in einer Predigt absprach, dass sie „erhörlich beten“ könnten, dass ihre Gebete also vor Gott Gehör finden würden. Das löste den Zorn des kaiserlichen Gesandten in Hamburg aus, der sich ganz offiziell beim Rat der Stadt beschwerte. Der Sturm der Entrüstung war vielerorts in der katholischen Welt groß. Es drohte ein Prozess vor dem Reichsgericht. Goeze blieb nichts anderes übrig, als sich zu entschuldigen und den Rat zu bitten, ihn zu schützen. Der Rat setzte sich daraufhin beim Kaiser für Goeze ein, der dem Pastor „in höchster Gnade“ verzieh, aber den Rat beauftragte, sich sofort zu melden, wenn sich ein solches Verhalten wiederholen sollte. Der streitbare Pastor schwieg hinfort zu Themen, mit denen er die Katholiken und den Kaiser gegen sich aufbringen konnte.

Angriffe auf die Juden der Stadt

Hauptpastor Goeze stemmte sich nicht nur mit Macht gegen die Moderne, sondern versuchte auch, Hamburg als feste Burg des Luthertums zu verteidigen, in der die Lutheraner die gesellschaftlichen Normen festlegten. Angesichts eines wachsenden Bevölkerungs­anteils von Juden, Katholiken und Reformierten konnte das nur ein Rückzugsgefecht sein, das im Ruf der Intoleranz stand. Er geriet dabei auch in Konflikt mit dem Rat der Stadt, der zwar auch treu lutherisch war, aber um des wirtschaftlichen Aufstiegs Hamburgs willen Andersgläubige aufnehmen wollte, auch jüdische Kaufleute.

Dem stellte sich Goeze entgegen: „Wie sehr ist Hamburg zu beklagen, wenn es in den Umständen ist, daß es die Juden als Säulen seiner Wohlfahrt ansehen, und seine Erhaltung, Flor und Wachstum, von diesem heillosen Volke erwarten muß.“ In Zusammenhang mit dem jüdischen Reichtum sprach er von „Blutgeld“, und wenn sie denn schon in der Stadt leben würden, so müsste ihnen jedenfalls die Religionsausübung verwehrt bleiben.

Eine tragische Gestalt der Kirchengeschichte

Hauptpastor Goeze war kein tumber Ewiggestriger, sondern ein brillanter Prediger und angesehener Gelehrter, der etwa hundert zum Teil umfangreiche Bücher veröffentlichte. Er wollte die Fremden nicht alle vertreiben, aber den Anspruch der lutherischen Kirche als einziger Kirche der Stadt, als „lutherischer Zion des Nordens“, verteidigen. Was bedeutete für die Stadt schon die Ausweitung des Handels gegenüber dem „unschätzbaren Kleinod der ihr von Gott geschenkten wahren Religion“. Goeze predigte durchaus über die „Liebe gegen fremde Religionsverwandte“, aber er hielt fest an der „gerechten Sache der Lutherischen Kirche“. Gewissensfreiheit und alle bürgerlichen Rechte ja, eigene Kirchen und Synagogen nein, so lässt sich die Haltung Goetzes zusammenfassen.

 

Er kämpfte stets als Hirte, der seine Herde vor bösen Einflüssen schützen wollte, war ganz Patriarch, der den „gemeinen Haufen" väterlich vor den gefährlichen Gedanken der Neuzeit bewahren wollte. Dem Grundprinzip des Zweifels und Zweifelns, wie es die Aufklärer propagierten, stellte Goeze die Überzeugung entgegen, der Mensch könnte nicht ewig in Ungewissheit leben, sollte nicht der Zweifel in Verzweiflung übergehen. In Manchem ähnelte er dem „Großinquisitor“ Dostojewskis. Aufhalten konnte Goetze die Verbreitung des Zweifels nicht, und so ist er als tragische Gestalt in die Kirchengeschichte eingegangen. Er starb am 19. Mai 1786.

 

Aus: Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte

 

© Frank Kürschner-Pelkmann