Cover des Buches "Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte"
Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte, ISBN 978-3-384-05017-5, 1016 Seiten, 38 Euro

1764 – Elise Reimarus, eine angesehene Gelehrte veröffent-licht auch Kinderliteratur

Sie gilt zu Recht als eine der wichtigsten Vertreterinnen der Aufklärung in Deutschland - und ist doch weniger bekannt als viele Männer der Aufklärung. Margaretha Elisabeth (genannt Elise) Reimarus wurde am 22. Januar 1735 in Hamburg geboren. Ihr Vater Hermann Samuel Reimarus gehörte zu den bedeutendsten Gelehrten und Aufklärern seiner Zeit. Er unterrichtete Elise, ihre Geschwister, Nichten und Neffen im eigenen Haus. Damit war er keine Ausnahme unter den Denkern der Aufklärung, die großen Wert darauf legten, ihren Kindern - auch den Töchtern – eine gute Bildung zukommen zu lassen.

Eine umfassende Bildung als Tochter eines bekannten Vertreters der Aufklärung

Es war natürlich ein großes Privileg, einen so umfassend gebildeten Vater als Lehrer zu haben. Und selbstverständlich blieb Vater Reimarus nicht verborgen, mit welch großer Wissbegierde und Ernsthaftigkeit seine Elise am Unterricht teilnahm. Und deshalb sorgte er intensiv für ihre Bildung, überzeugt, dass man die Anlagen eines Menschen in der Kindheit und Jugend fördern musste. Dazu gehörte auch, ihnen mit Liebe zu begegnen und das Gute in ihnen zu wecken. So würden  sie zu glücklichen Menschen heranwachsen, waren Aufklärer wie Reimarus überzeugt.

Elise wurde nicht allein vom Vater unterrichtet, sondern dieser beschäftigte auch mehrere Lehrer, sodass sie zum Beispiel bald Latein und Italienisch beherrschte. Auch ein Zeichenlehrer kam ins Haus. Ergänzend zum häuslichen Unterricht besuchte sie die Französische Schule, wo sie nicht nur die Sprache, sondern auch feine Manieren lernte. Und über all dem vergaß Elise Reimarus nicht, dass zu einer umfassenden Bildung auch Freude und Entspannung gehörten.

Elise, so ist überliefert, war nicht schön – auch sie selbst empfand das so, gerade im Vergleich zu ihrer schönen Schwester. Christine von Müller stellte in ihrem Vortrag „Elise Reimarus“ (im Internet verfügbar) zu diesem Thema fest: „Die seelische Unruhe, die Elise verspürte, wenn ihre fünf Jahre jüngere Schwester Hanna Maria in Gesellschaften mehr verehrt, geachtet und bewundert wurde und leichter alle Herzen gewann als die geduldete weniger schöne Schwester, wird von ihr einfach und klar benannt, ebenso wie sie Missgunst und Neid an sich entdeckte; sie drohte, wie sie selbst sagt, ‚mürrisch‘ zu werden.“

Umso mehr war Elise bemüht, sich zu bilden und in Konversationen als gelehrte junge Frau Anerkennung zu finden. Da war es von unschätzbarem Vorteil, dass sie viele geistige Anregungen durch ihren Vater und durch Besucher wie Friedrich Klopstock erhielt. Elise Reimarus ging ihren Weg zur Gelehrten mit beeindruckender Konsequenz. Für einen Mann war in dieser Lebensplanung offenbar kein Platz. Sie äußerte sich über Ehe und Ehelosigkeit so: „Es ist, allgemein betrachtet, vielleicht kein Stand glücklicher als der Stand eines unverheyrateten Frauenzimmers, und ganz gewiss keiner so unglücklich als derjenige einer Frauensperson, die eine schlechte Heyrat trifft …“

Eine bedeutende Denkerin und Schriftstellerin

Ganz im Sinne Kants bediente sie sich ihres Verstandes. Der zeitgenössische Philologe und Schriftsteller Karl August Böttiger bezeichnete Elise Reimarus als „die hellste Forscherin und Denkerin“ Deutschlands, und er blieb mit dieser Auffassung nicht allein. Daher war sie ein geschätztes Mitglied literarischer Gesellschaften. Gemeinsam mit ihrem Bruder Johann Adolph Heinrich und dessen Frau Sophie lud sie im Haus ihres Vaters zum „Theetisch“ ein, einem Salon, der zu keinen festen Zeiten stattfand. Besucherinnen und Besucher waren den ganzen Tag über willkommen und konnten sich zu dem gerade diskutierten Thema äußern. Abends las und diskutierte man häufig gemeinsam neu erschienene Bücher. Es kamen zum „Theetisch“ gleichermaßen Frauen wie Männer aus den gebildeten, von der Aufklärung geprägten Schichten der Stadt sowie viele auswärtige Besucherinnen und Besucher.

Sophie Reimarus, die ebenfalls sehr gebildet war, beschrieb diesen Treffpunkt so: „Hier kommt und geht, wer will, und denkt auch, was er will, und sagt es ziemlich dreist, und niemand kümmert sich darum.“ Auch der bereits zitierte Karl August Bötticher kam gern in diesen Salon: „Nichts ist in der That fröhlicher und genußreicher als eine Theetischconversation im Kreise dieser Familie, zu der ich während meiner Aufenthalte in Hamburg so oft eilte, als ich mich anderswo wegschleichen konnte.“

Zu den regelmäßigen Besuchern gehörten die prominenten Aufklärer der Stadt wie Johann Georg Büsch, Friedrich Gottlieb Klopstock und Caspar Voght. Auch Lessing war bei seinen Hamburg-Besuchen ein gern gesehener Gast. Der Salon entwickelte sich rasch zu einem beliebten Treffpunkt der Mitglieder der gerade gegründeten Patriotischen Gesellschaft.

Elise Reimarus unterrichtete zeitweise an der von ihrer Freundin Caroline Rudolphi < S. 291 > gegründeten Erziehungsanstalt für junge Demoiselles, einer von den Idealen der Aufklärung geprägten Bildungseinrichtung in Hamm. Bekanntheit erlangte Elise Reimarus durch ihre zahlreichen Bücher für Kinder, die von 1764 an erschienen und einen pädagogischen Anspruch hatten. Wie andere Verfechterinnen und Verfechter der Gedanken der Aufklärung war sie überzeugt, dass der Bildung von Kindern und Jugendlichen eine große Bedeutung für deren geistige Entfaltung und für eine humane Gesellschaft zukommt. Die Veröffentlichung von Kinderbüchern war für Elise Reimarus ein wichtiger Teil dieses Programms.

Die Verbindung von Aufklärung und Empfindsamkeit

Außerdem übersetzte sie Dramen aus dem Englischen und Französischen, von denen einige das Repertoire des Hamburger Stadttheaters bereicherten. Besonders ihre Gedichte machen deutlich, dass Elise Reimarus die rationalen Gedanken der Aufklärung mit einer tiefen Empfindsamkeit zu verbinden wusste. Sie leistete damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts.

Franklin Kopitzsch hat dazu in seinem umfangreichen Werk „Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona“ festgestellt: „Von immensem Einfluss auf die Bezie­hungen der Geschlechter der ‚gebildeten Stände‘ wurde die Verbindung von Aufklärung und Empfindsamkeit seit den sechziger und siebziger Jahren. Die Entdeckung von Freundschaft, Liebe und Leidenschaft – allesamt waren bis dahin hinter Konventionen, Familiengeist und Firmeninteressen zurückgetreten - wurde ebenso wie die Hinwendung zum Kind in Familienleben und Erziehung dauerhaftes Ergebnis dieser noch viel zu wenig gewürdigten Verbindung.“ Kopitzsch weist ausdrücklich darauf hin, welche Bedeutung Salons wie der von Elise und Sophie Reimarus für diese Verbindung von Aufklärung und Empfindsamkeit hatten.

Die Herausgabe einer heftig diskutierten Schrift ihres Vaters

Elise Reimarus stellte Lessing lange Passagen aus den Ausarbeitungen ihres verstorbenen Vaters zu Religionsfragen zur Verfügung, die dieser zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hatte, weil er zu Recht befürchtete, dann seine Stelle und seine gesellschaftliche Stellung zu verlieren und von den orthodoxen Lutheranern attackiert zu werden. Lessing veröffentlichte Teile des Werkes unter dem Titel „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“.

Nach Erscheinen kam es zu den von Reimarus erwarteten heftigen Reaktionen der orthodoxen Lutheraner und besonders von Hauptpastor Johann Melchior Goeze. Der „Fragmentenstreit“ schlug hohe Wellen, und bald meinten die Gegner der Aufklärung auch den Verfasser dieser „Fragmente“ zu kennen, den Gelehrten Hermann Samuel Reimarus. Lessing und Elise Reimarus erwogen, das gesamte Werk zu veröffentlichen, aber verzichteten vermutlich aus Rücksicht auf die Familie Reimarus darauf, zumal zu erwarten war, dass diese Schrift sofort verboten werden würde.

Einen wichtigen Beitrag zur Theatergeschichte leistete Elise Rei­marus dadurch, dass sie den zögernden Lessing mehrmals ermutigte, seinen als Antwort auf die heftige Kritik an den „Fragmenten“ verfassten „Nathan den Weisen“ abzuschließen. Da das Stück zunächst nicht in Hamburg aufgeführt werden durfte, sorgte Elise Reimarus dafür, dass es zumindest in Aufklärerkreisen gelesen wurde. Ihrem Bruder schrieb Elise, wie negativ demgegenüber die herrschenden Kreise der Stadt den „Nathan“ aufnahmen: „Ueber seinen Nathan sind hier die Unverständigen ziemlich laut und die Verständigen ziemlich stille.“ Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass Elise Reimarus eine umfangreiche Korrespondenz mit den geistigen Größen ihrer Zeit wie Moses Mendelsohn und Friedrich Heinrich Jacobi führte.

Elise Reimarus starb am 2. September 1805. Die Reimarusstraße erinnert an Hermann Samuel und Johann Albert Reimarus sowie seit einigen Jahren auch an Elise Reimarus. Seit 2021 vergibt die Akademie der Wissenschaften in Hamburg jährlich einen Elise-Reimarus-Preis für exzellente Arbeiten aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. 

 

Aus: Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte

 

© Frank Kürschner-Pelkmann