„Die Hauptfigur selbst, um die herum sich eine kulturell prototypische Gruppierung der Zeit versammelte, war von bescheidenem Charakter, kümmerte sich nicht um ihre ‚publicity‘, sondern lebte für die, die sich ihr anvertrauten, ihre Freunde und ihre Familie. Sie hielt es niemals für wichtig, etwas von ihrer persönlichen Geschichte für die Nachwelt aufzuzeichnen. Lediglich die von ihr geretteten Objekte überlebten in Woll- oder Wachstuchdecken gewickelt auf Dachböden. Der Künstlerkeller, seine Gäste, der Moritatengesang, der Kunsthandel und mit ihnen alles, was in den vorderen und den hinteren Räumen am Brandsende 13 / Ecke Raboisen geschah, wurden nach und nach vergessen.“
Es ist Nele Lipp zu verdanken, dass Clara Benthien und ihre Hamburger Künstlerkneipe inzwischen dem Vergessen entrissen worden ist. Die Künstlerin Nele Lipp ist eine Enkelin der Frau, die als die „Hamburgs Sphinx“ in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Clara Benthien steht zu Recht im Ruf, eine der vielseitigsten Originale im Hamburg der 1920er und 1930er Jahre gewesen zu sein. Nele Lipp hat 2013 eine Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg über ihre Großmutter verantwortet und nur auf der Grundlage des Katalogs der Ausstellung wurde dieses Porträt möglich.
Von der Hutmacherin zur Wirtin
Zur Welt kam Clara Benthien am 27. September 1887 im Düsseldorf. Sie hat keine Lebenserinnerungen hinterlassen und auch aus anderen Quellen ist wenig über ihre Kindheit und Jugend zu erfahren. Ihr Vater war Architekt. Ihre Mutter starb früh und der Vater heiratete erneut. Die künstlerische Begabung der Tochter wurde rasch erkannt und gefördert. Damit sie Kunst und Broterwerb verbinden konnte, erlernte sie den Beruf einer Hutmacherin. Die junge Frau lernte bei einem Ostseeurlaub den Dekorationsmaler und Künstler Hans Benthien kennen. Obwohl er ein großes Talent als Zeichner und Maler besaß, hatte er zunächst das Anstreicherhandwerk erlernt. Das Paar heiratete 1912 in Hamburg. Ein Jahr später kam die Tochter Henni zur Welt.
Hans Benthien machte sich mit einem Malerbetrieb selbstständig und beschäftigter bald mehrere Maler. Er hatte als Dekorateur der Eingangsbereiche und Treppenhäuser von Villen großen Erfolg. Benthien fand daneben Zeit für eigene künstlerische Arbeiten und unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu vielen Hamburger Künstlerinnen und Künstlern. Im Ersten Weltkrieg musste Hans Benthien als Soldat an die Ostfront. Seine Frau sicherte sich und der Tochter mit einem kleinen Modeladen mühsam das Überleben. Als ihr Mann 1918 nach Hamburg zurückkehrte, musste er feststellen, dass mehrere seiner Beschäftigten gefallen waren und dass es in den wirtschaftlich schlechten Zeiten kein Auskommen für einen Dekorationsmaler gab.
Er entschloss sich deshalb, den Beruf zu wechseln und einen Weinhandel aufzubauen. In einem unterirdischen Gewölbe an der Straße Hahntrapp richtete er eine Weinprobierstube ein, die rasch zu einem Treffpunkt der Hamburger Künstlerszene wurde, zu der der Maler Benthien enge Kontakte pflegte. Die Weinprobierstube war so erfolgreich, dass sie 1932 in größere Kellerräume an der Ecke Brandsende/Raboisen umzog.
Benthiens Weinprobierstuben lag günstig gelegen zwischen kulturellen Zentren der Stadt wie der Kunsthalle und dem Thalia-Theater. Sie war so gut besucht, dass Clara Benthien es übernahm, sich um das gastronomische Angebot zu kümmern. Sie begann bescheiden mit belegten Broten und weitete das Angebot rasch aus. Sie servierte neben dem Wein bald auch Getränke wie Bier.
Während Hans Benthien sich auf den Weinhandel konzentrierte, erwies sich seine Frau Clara als begnadete Gastgeberin. In der Künstlerkneipe Tante Clara, wie die Weinstube bald hieß, fühlte sich die Hamburger Bohème ebenso wohl wie Seeleute und Touristen aus aller Welt. Ein Seemann hinterließ im Gästebuch die Eintragung: „So eine gute Frau habe ich noch nicht früher gesehen. Unsere Mutter. Ich fühle mich wohl in Tante Claras Lokal.“
Clara Benthien kümmerte sich besonders fürsorglich um Künstlerinnen und Künstler. Wenn einer von ihnen seine Zeche nicht bezahlen konnte, nahm sie eines seiner Bilder in Zahlung und verkaufte es in ihrem Lokal. Anderen Künstlern ermöglichte sie es, ihre Bilder, Skulpturen und kunstgewerblichen Arbeiten in der Kneipe auszustellen und verkaufte auch diese. Hier ein Beleg dafür, wie beliebt die Wirtin und ihr Lokal in Schauspieler- und Künstlerkreisen war:
Hier trifft man Hamburger Geistes-Crème
Devise ist: Bohème, Bohème!
Hier folgt ein Jeder seinem Spleen –
drum: Jeder einmal bei Benthien!
Die „Hamburger Sphinx“ als Seele des Lokals
Bekannte Persönlichkeiten wie der Dichter Joachim Ringelnatz, der Verleger Ernst Rowohlt und der kommunistische Schriftsteller Johannes R. Becher zählten zu den Gästen des Lokals. Auch der Philosoph Oswald Spengler besuchte öfter Tante Clara, und es hieß über ihn, dass er in dieser Umgebung den von ihm postulierten „Untergang des Abendlandes“ vorübergehend vergessen hätte. Der Erfolg des Lokals war zweifellos in der Ausstrahlung der Wirtin begründet, die nicht nur humorvoll, sondern auch intellektuell auf der Höhe ihrer Zeit war, sich an gebildeten Gesprächen beteiligte und sich mit ihrer magischen Ausstrahlung als „Hamburger Sphinx“ erwarb.
Zu den Attraktionen des Lokals gehörte es zweifellos, dass die Wirtin abends humorvolle Moritaten vortrug. Dazu hat Nele Lipp geschrieben: „In den dreißiger Jahren wurden Moritatentafeln gemalt, zu denen ‚Tante Clara‘ – ebenfalls humorvoll von Künstler-Gästen verfasste – Bänkellieder … in ihrem leicht rheinisch eingefärbten Sprechgesang kommentierte. Die Bilder waren auf Rollos gemalt, die an der Decke befestigt waren und nach Bedarf herunter gelassen wurden. Wenn die Wirtin keine Moritat vortrug, konnte man das an der Wand dahinter angebrachte Porträt der ‚Tante Clara‘ von Otto Wild sehen.“ Die Moritaten-Rollos haben Künstlern des Lokals für diesen Zweck gestaltet. Auch Wandgemälde trugen zur einmaligen Atmosphäre des Künstlerlokals bei.
Mutiges Engagement in der Nazizeit
Nach der Machtübernahme der Nazis gestaltete sich der Betrieb der Künstlerkneipe schwierig. Vielen der Künstler, die hier verkehrten, warfen die neuen Herrn des Landes „entartete Kunst“ vor. Hinzu kam, dass Hans Benthien Freimaurer war und diese Vereinigungen von den Nazis verfolgt wurden. Das Lokal Tante Clara entwickelte sich rasch zu einem Treffpunkt der Verfemten und Verfolgten. Nun erwies es sich als günstig, dass das Kellerlokal einige hintere Räumlichkeiten besaß, in denen man sich unbeobachtet treffen und offen miteinander reden konnte. Hier planten Clara und Hans Benthien auch, wie sie politisch Verfolgten und Juden bei ihrer Flucht helfen konnten. Unter denen, die mit Unterstützung der Benthiens das Land verlassen konnten, war der bekannte jüdische Pädagoge Ernst Loewenberg, der in Hamburg eine Reformschule geleitet hatte.
Nele Lipp hat über die Verdienste ihrer Großmutter in diesen schwierigen Zeiten herausgefunden: „… ‚Tante Clara‘ (konnte) mit ihrem Humor und ihrem nicht alltäglichen Mut, mit dem sie und ihr im Hintergrund mit seinen Freimaurerfreunden … wirkenden Mann Hand Benthien vielen Menschen das Durchhalten und in einigen Fällen auch das Überleben ermöglichen“.
Es blieb nicht aus, dass sich gelegentlich Nazis in braunen Uniformen in das Lokal verirrten. Um alle anderen Gäste vor deren Betreten der Künstlerkneipe zu warnen, hatte Clara Benthien einige Türsteher engagiert, die bei drohender Gefahr eine verabredete Melodie pfiffen. Von da an führten die Stammgäste nur noch unverfängliche Gespräche. Wie gut die Tarnung funktionierte, zeigte sich 1936, als ein sehr positiver Beitrag über das Lokal und seine Wirtin unbeanstandet von der Zensur in einer Tageszeitung erscheinen konnte:
„Eine schmale Treppe geht in den ausgedehnten weiten Keller. Tante Klara wird die liebenswürdige Wirtin genannt, die hier die Maler und Schauspieler bemuttert. Sie sitzen Bank an Bank hinter hölzernen Tischen, trinken wenig oder viel, wie sie es gerade können, und sind unbändig vergnügt dabei. Die Bilder, die sie hier verkaufen, sind gar nicht erst aufgehängt, sie stehen fertig und unfertig, gerahmt und ungerahmt an den Wänden, in den Ecken und legen Zeugnis dafür ab, wie der Geist dieser arbeitsamen und begabten Stadt auch den Malern nicht fremd blieb. Tante Klara ist eine Künstlermutter, wie sie sein muss, sie sorgt für ihre Gäste, hat ein freigiebiges Herz, rheinischen Humor, einen klugen Kopf und ein scharfes Urteil.“
Ergänzend sei hier erwähnt, dass Clara Benthien im Krieg für verarmte und ausgebombte Besucher stets eine kostenlose warme Mahlzeit bereit hielt. Im Gespräch mit „Hinz und Kunzt“ sagte Nele Lipp über diese Zeit: „Außerdem hatte meine Oma ein großes Herz, sie hat viele durchgefüttert. Sie selbst war bescheiden und hatte immer nur zwei Paar Schuhe.“
Der vergebliche Versuch eines Neuanfangs
Im Juni 1944 trafen Bomben das Gebäude, in dem sich das Lokal Tante Clara im Keller befand. Es war noch möglich, Kunstwerke aus den Trümmern zu bergen, aber die Einrichtung, die Deckengemälde und die Moritatenrollos gingen unwiederbringlich verloren. Ein Weiterbetrieb des Lokals war nicht möglich.
Nach dem Krieg eröffnete Clara Benthien ein neues Lokal in der Warburgstraße, aber der Versuch einer Neubelebung ihres traditionsreichen Künstlerlokals scheiterte. Clara Benthien starb am 16. November 1962, ihr Mann war bereit 1947 gestorben. Im Garten der Frauen in Ohlsdorf erinnert eine Stele an Clara Benthien.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro