Gern wäre Leberecht Pankoken ein Musiker im Orchester des Hamburger Stadttheaters geworden, einer angesehenen Bühne, in der sowohl Schauspiele als auch Opern aufgeführt wurden. Pankoken war der Sohn eines Klarinettenspielers in Krempe und kam in den 1820er Jahren im Alter von zwanzig Jahren nach Hamburg.
Seine Bewerbung beim Stadttheater wurde abgelehnt. Daraufhin beschloss Pankoken, eine eigene kleine Musikgruppe aufzubauen und sich den Lebensunterhalt durch Straßenmusik zu verdienen. Damals konnte er noch nicht ahnen, dass er zum Urvater der Pankokenkapellen werden sollte.
Er suchte sich drei Mitspieler, die Geige, Posaune und Klarinette spielten, er selbst trat mit einer Schalmei auf, manchmal wechselten die Instrumente. Zwar hatte es auch schon vorher Straßenmusiker gegeben, aber die Pankokenkapelle erfreute sich bald einer beträchtlichen Beliebtheit, auch wenn die Herren Musikkritiker sie ignorierten. Sie berichteten über die Opernaufführungen und Konzerte für die reichen und wohlhabenden Kreise der Stadt.
Aber zu dieser Musik hatte die arme Bevölkerung keinen Zugang. Wenn Pankoken und seine Mitspieler mit ihren charakteristischen schwarzen Filzhüten auf einem Platz oder an einer Straßenecke aufspielten, sammelte sich rasch eine Menschenmenge und viele tanzten auch zu den munteren Melodien des Orchesters.
Beliebt auf Straßen und Plätzen
Die Pankokenkapelle besaß – als vermutlich erste Musikgruppe - eine städtische Genehmigung zum Spielen auf Straßen und Plätzen und war vor allem in der Neustadt rund um den Michel unterwegs. 1818 schrieb eine Zeitung über die Auftritte von Pankoken & Co.: „Lassen sie ihre Weisen vor eines Handwerkers Haus ertönen, so ergreift Meister, Geselle und Lehrling das Werkzeug noch einmal so schnell. Sollte zwischen Mann, Weib und Kindern ein Donnerwetter im höchsten Grade entstanden sein, so vertreibt die ins Haus hineinströmende fröhliche Musik sogleich alle Gewitterwolken, und man fühlt sich augenblicklich von einem paradiesischen Geiste beseelt.“ Da machte es dann auch nichts, wenn einer der Musiker einmal nicht den richtigen Ton fand.
Wenn die Pankokenkapelle von manchen etwas spöttisch belächelt wurde, hatte das vor allem einen anderen Grund. Die Straßenmusiker waren auf Spenden der Zuhörerinnen und Zuhörer angewiesen. Hätten die Musiker mit den Sammeln erst nach dem letzten Stück begonnen, hätte sich die Zuhörerschaft rasch verstreut und Pankoken und seine Musikerkollegen wären leer ausgegangen. Deshalb hörte schon vorher einer der Spieler auf zu spielen und sammelte Geld bei den Umstehenden und in den benachbarten Häusern ein.
Um höhere Einnahmen zu erzielen, unterbrachen auch schon einmal ein oder zwei weitere Musiker des kleinen Orchesters ihr Spiel und sammelten Geld ein. Meist unterhielt „Direktor Pankoken“ dann unverdrossen die Zuhörerschaft allein auf seiner Schalmei. Das soll nach recht gut geklungen haben, aber wenn Pankoken sich am Spendensammeln beteiligte und nur einer seiner Mitspieler allein für die Musik verantwortlich war, soll der Hörgenuss doch erheblich eingeschränkt gewesen sein.
Schräge Töne – und trotzdem erfolgreich
Aber auch, wenn alle vier Musiker spielten, müssen beachtlich viele schräge Töne zu hören gewesen sein, sodass später Musikgruppen mit eingeschränktem musikalischem Talent abschätzig als „Pankokenkapelle“ bezeichnet wurden. Albert Borcherdt hat in seinem 1912 erschienenen Buch „Das lustige alte Hamburg“ sehr negativ über die „Musikbande“ Pankokens geäußert. Nachdem er die schlechten Leistungen der anderen die Musiker bewertet hatte, schrieb er: „… so ruhte die ganze Last des Konzerts auf Pankoken, der aber seiner schwindsüchtigen Schalmei nur so schwache Töne abzuringen vermochte, dass bei diese Kapelle die Hunde eine größere Freude als die Jungen empfanden, die für den Dreiling, den sie nicht bezahlt hatten, eine volle Musik verlangten und sich für ihre getäuschten Erwartungen durch Verspottung der biederen Musikanten rächten. Von dieser Kapelle her wird noch jetzt jede schlechte hamburgische Musikbande ‚Pankoken‘ gescholten.“
Beliebt war das kleine Orchester von Pankoken trotzdem, besonders in der Neustadt. Pankoken und seine Mitspieler wurden immer wieder zu Hochzeiten und anderen Familienfeiern engagiert. Das Orchester für einen ganzen Nachmitttag oder Abend zu beschäftigen, war für die meisten armen Familien viel zu teuer, aber wenn sie mit einigen Stücken zum Tanz aufspielten, war auch das schon eine große Bereicherung des Festes.
Der Schabernack der jungen Zuhörer
Die Musiker hatten nicht nur damit zu kämpfen, immer oder doch meistens den richtigen Ton zu treffen. Sie mussten auch vor Jungenstreichen auf der Hut sein. In dem Augenblick, wenn die Musiker ihre Instrumente an die Lippen setzten, holten die Jungen bis dahin verborgen gehaltene Zitronen hervor und bissen gut sichtbar für das Orchester hinein. Daraufhin lief den Musikern das Wasser im Mund zusammen und an ein Spielen der Blasinstrumente war erst einmal nicht zu denken. Auch nutzten die Jungen unbeobachtete Augenblicke, um den Fiedelbogen mit Seife einzuschmieren und die Klarinette mit einem Korken zu verstopfen.
Aber die Straßenjungen liebten auch die Kapelle. Wenn Pankoken mit seinen Musikern auftauchte, wurde er lautstark mit „Hurrah, Pankoken!“ begrüßt. Auch sollen die Jungen ihren Schabernack besonders gern mit neu entstandenen Konkurrenzkapellen getrieben haben, um sie aus dem Wirkungsbereich der Pankokenkapelle zu vertreiben.
Der unvergessene Pankoken
Als Leberecht Pankoken in den 1870er Jahren starb, hatte er mehr als vier Jahrzehnte lang auf Hamburger Straßen und bei Familienfeiern gespielt und besaß einen hohen Bekanntheitsgrad als origineller Begründer der nach ihm benannten Pankokenmusik.
Die große Zeit der Pankokenkapellen ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. Danach boten Radio und Film neue Unterhaltungsmöglichkeiten. Immerhin blieben diese Orchester bei vielen in guter Erinnerung. 1921 entstand die Komödie „Stratenmusik“ des Schriftstellers Paul Schurek. Das Stück von den Hoffnungen der „kleinen Leute“ auf Liebe und Wohlstand war so erfolgreich, dass es 1936 verfilmt wurde. Im gleichen Jahr eröffnete Richard Ohnsorg mit „Stratenmusiker“ das neue Haus seiner Niederdeutschen Bühne an der Straße Große Bleichen. Wer wollte dem Spruch des Tubabläsers in diesem Stück widersprechen: „Allens in düsse Welt is ünnerschiedlich.“
2010 hat das Ohnsorg-Theater mit diesem Stück die Theatersaison eröffnet und konnte sich über eine umjubelte Premiere freuen. Zu erwähnen ist auch, dass es in der Stadt weiterhin einzelne „Pankokenkapellen“ gibt, die in der musikalischen Tradition von Leberecht Pankoken stehen und die Menschen mit fröhlicher Musik unterhalten wollen – und das mit möglichst wenigen Misstönen.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro