Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Ohne sein Gedicht vom Mond wäre Matthias Claudius wohl längst in Vergessenheit geraten. Dieses Gedicht bringt anrührend die Liebe des Dichters zur Natur und seinen tiefen Glauben zum Ausdruck. Es enthält auch eine Gegenposition zu den Gedanken der Aufklärung, denen Claudius ratlos und ablehnend gegenüberstand. Er misstraute allen Versuchen, die Welt wissenschaftlich zu durchdringen und Abschied von einem naiven christlichen Glauben zu nehmen. Das hat er in diesen Versen seines Gedichtes vom Mond zum Ausdruck gebracht:
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.
Wir stolze Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel;
wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.
Claudius galt vielen Zeitgenossen als kauziges Original. Überliefet ist, wie der Gelehrte Wilhelm von Humboldt den Dichter 1796 beschrieb: „Brav gutmütig, herzlich, gesellig, und in der Gesellschaft witzig und launig in sehr hohem Grade. Doch soll er von dieser seiner Originalität viel verloren haben. In religiösen Ideen soll er schwärmerisch und mystisch seyn. Ausser einiger Lektüre und seinen wenigen Geschäften, lebt er ganz in und für seine Familie. Sein Aeussres ist nicht eben angenehm, obgleich offen und natürlich.“
Matthias Claudius soll, so ein anderer Beobachter, auf abendlichen Spaziergängen unfrisiert und ungepudert durch Wandsbek gegangen sein. Aber die Vernachlässigung des Äußeren hatte gelegentlich auch Vorteile. Immer mehr Menschen pilgerten in das dörfliche Wandsbek, um den Verfasser der schönen Gedichte zu sehen und vielleicht auch zu sprechen. Claudius, der häufig bis spät in den Tag hinein eine Nachtmütze trug, spielte dann den Hausdiener, trat aus der Tür und verkündete den Besuchern, der Herr Dichter sei leider gerade nicht zu Hause.
Wer war dieses Wandsbeker Original? Matthias Claudius wurde am 15. August 1740 im holsteinischen Reinfeld geboren. Sein Vater war Pastor des Ortes. Matthias wuchs in einer großen Geschwisterschar auf. Er und sein älterer Bruder Josias sollten Theologen werden, entschieden die Eltern. Dafür besuchten beide vier Jahre lang die Lateinschule in Plön und begannen 1759 gemeinsam mit dem Studium in Jena. Während der Bruder zielstrebig Theologie studierte, besuchte Matthias Claudius zahlreiche Vorlesungen unterschiedlicher Fakultäten. Das eröffnete ihm einen Zugang zu viel Wissen und zu vielen Einsichten – nur nicht zu einem Studienabschluss. Nach drei Jahren gab er das Studium auf und kehrte in das Pfarrhaus nach Reinfeld zurück.
Der Traum von dem ganz anderen Leben auf Tahiti
Der besorgte Vater musste alle Hoffnung aufgeben, dass sein Sohn Pastor werden könnte, aber wenigstens eine bezahlte Anstellung sollte er annehmen. Verschiedene phantastisch klingende Pläne des gescheiterten Studenten werden die Eltern beunruhigt haben, so einige Jahre später die Idee, mit anderen Schriftstellern eine Dichterkolonie auf Tahiti in der Südsee zu gründen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brach in intellektuellen Kreisen und besonders in Schriftstellerkreisen in Europa eine Tahiti-Begeisterung aus. 1767 und 1768 hatten mit Wallis, Bougainville und Cook gleich drei Kapitäne das pazifische Tahiti besucht. Ihre Beschreibungen glichen einander stark und weckten die Hoffnung, hier am anderen Ende der Welt ein Paradies entdeckt zu haben. Die Reisebericht von Georg Forster aus dem Jahr 1773 festigten in Deutschland das Bild von einem paradiesischen Leben von kindlich-unschuldigen Menschen inmitten einer üppigen Natur. Das anscheinend freie sexuelle Leben erhöhte noch das Interesse an diesen Naturkindern und ihrem so ganz anderen Leben ohne die Zwänge der Zivilisation.
Die Vorstellungen Rousseaus von einem Leben in der Natur verschmolzen hier mit den Paradiesvorstellungen früherer Zeiten. Dichter wie Johann Heinrich Voß und eben auch der mit ihm befreundete Matthias Claudius träumten von einer Dichterkolonie auf Tahiti. Der Schriftsteller Christian Adolf Overbeck schrieb 1777 an Voß: „Horchen Sie, Voss! - Gerstenberg und ich, wir sind uns einig geworden, unsere besten Freunde allesamt aufzubieten, mit uns die falsche Europäische Welt zu verlassen, und den glücklichen Gefilden eines Zweyten Paradieses entgegenzueilen.“
Matthias Claudius und die befreundeten Dichter sind nie in Tahiti angekommen. Aber der fröhlich ungezwungene Umgang mit den Kindern, das in den Tag Hineinleben und die später oft beschriebene Idylle des Familienlebens im Hause Claudius inmitten einer sich rasch verändernden Welt können auch als Nachklang der Sehnsucht nach paradiesischen Verhältnissen verstanden werden. Und mochte die Welt auch nicht paradiesisch sein, so blieb Claudius doch immerhin der feste Glaube an ein himmlisches Paradies.
Das Leben in den Großstädten Kopenhagen und Hamburg
Erst einmal rückte das Paradies in weite Ferne, denn Claudius nahm 1764 die Stelle eines Sekretärs des Grafen Ulrich Adolph von Holstein in Kopenhagen an. Die laute Großstadt und die Arroganz seines Arbeitgebers veranlassten ihn rasch, nach Reinfeld zurückzukehren. Drei Jahre blieb er bei seinen Eltern, und wir wissen aus dieser Zeit vor allem, dass er Orgel spielte und in der Welt der Musik ein Zuhause fand.
1768 bekam Matthias Claudius in Hamburg eine Stelle als Redakteur der Wirtschaftszeitung Adreß-Comptoir-Nachrichten. Die Bezahlung war bescheiden und die Arbeit öde, denn der neue Redakteur musste vor allem die Schiffsankünfte im Hamburger Hafen und Wechselkurse vermelden. Viel wichtiger wurde ihm der geistige Austausch mit Klopstock, Lessing und Herder. Deshalb war es für Matthias Claudius wohl eher eine Erleichterung, als ihm der Verleger 1771 kündigte. Anlass war ein „Wiegenlied, bei Mondschein zu singen“, das der dichtende Redakteur zwischen die Angaben über Wechselkurse eingefügt hatte.
Redakteur des „Wandsbecker Bothen“
Claudius zog danach in das noch ländliche Wandsbek. Auf der Suche nach einer Bleibe kam er in Kontakt mit dem Zimmermeister Behn, genauer gesagt zuerst mit dessen 16-jähriger Tochter Rebecca, denn die öffnete dem Fremden die Tür. Sie wusste, dass ihr abwesender Vater den Schlüssel für das kleine Haus, für das der Redakteur und Schriftsteller sich interessierte, in ein Kästchen gelegt hatte. Das war allerdings verschlossen, aber Rebecca holte beherzt passendes Werkzeug und öffnete es. Aus diesem „Schlüsselerlebnis“ entwickelte sich eine lebenslange Verbindung. Claudius bekannte später in einem Brief an Gottfried Herder, „mir glühen oft die Fußsohlen für Liebe“. Wer Rebecca Claudius kennenlernte, war tief beeindruckt von ihrer Herzlichkeit und Gewandtheit. Wilhelm von Humboldt äußerte nach einem Besuch: „Sie hat etwas überaus Edles, Sanftes und Feines in ihrer Bildung, ist sicherlich eine höhere Natur, als der Mann.“
Matthias Claudius nannte seine Ehefrau zeitlebens liebevoll „mein Bauernmädchen“. Er meinte damit, dass sie eine Frau aus dem Volke war. Claudius fand eine Anstellung als Redakteur der neu gegründeten kleinformatigen Zeitung Wandsbecker Bothe von vier Seiten Umfang, die vier Mal in der Woche erschien. Die Initiative für dieses Zeitungsprojekt ging von Heinrich Carl Schimmelmann aus, dem dänischen Schatzmeister und Schlossherrn des Ortes. Eine gute Zeitung würde dem aufstrebenden Wandsbek mit damals 500 bis 600 Einwohnern gut anstehen, war er überzeugt.
Der Redakteur Claudius gewann viele berühmte Schriftsteller als Autoren für sein kleines Blatt, für das er einen Bildungsanspruch hatte: „Man muss den Menschen nur vernünftig ansprechen, und man wird sich wundern, wie er‘s begreift.“ Aber mochte die literarische Qualität der Zeitung in gebildeten Kreisen auch anerkannt werden, im kleinen Ort Wandsbek fand sie kaum Leser und entwickelte sich wirtschaftlich zu einem Desaster. Die Bewohner Wandsbeks schätzten die Skandalblätter aus Hamburg und nicht die geistigen Höhenflüge der Dichter der Klassik. Nach nicht einmal fünf Jahren musste die Zeitung, von der nie mehr als 400 Exemplare verkauft wurden, eingestellt werden.
Claudius war inzwischen selbst zum Wandsbecker Bothen geworden, zum Dichter und Übersetzer, der von seinem bescheidenen Häuschen am Rande von Hamburg aus die Welt betrachtete und Gedichte, kurze Geschichten und Artikel zu Fragen der Zeit verfasste. Dabei bewies er immer wieder, dass er bedingungslos am traditionellen Wahrheitsanspruch der Bibel festhielt, aber gleichzeitig überzeugt war, dass zum Beispiel in den asiatischen Religionen die göttliche Botschaft zu erkennen wäre: „Alle sind übermenschlichen Ursprungs und durch ein himmlisches Wesen geoffenbaret und mitgeteilt worden.“
Dass Claudius auch dem katholischen Glauben gegenüber Toleranz zeigte, war im damaligen Hamburg keine Selbstverständlichkeit, in der evangelische Prediger in der Stadt ein „lutherisches Zion“ sahen und den Bau katholischer Gotteshäuser entschlossen verhinderten. Matthias Claudius schrieb einem zum Katholizismus konvertierten Freund, „wir haben einen Herrn Christus und wollen gegenseitig uns auffordern, wer ihn von uns beiden am meisten lieben wird“.
Ein einfaches, aber zufriedenes Leben
Nach der Einstellung der Zeitung fand Claudius mehr Muße zum Dichten und für das Familienleben. Zu diesem einfachen, gottesfürchtigen Leben gehörte es für den Dichter, seine Kinder zu unterrichten und mit ihnen zu musizieren und zu spielen. Wenn er mit seinen Kindern im Garten herumtollte, löste das bei nicht wenigen Wandsbekern ein Stirnrunzeln aus. Konnte ein gesetzter Mann, dazu noch eine Berühmtheit, so mit seinen Kindern im Garten Bockspringen? Dass Claudius ein häufiger Gast beim Kegeln auf der Anlage seiner Schwiegereltern war, bot hingegen keinen Anlass zur Kritik, frönten doch viele Wandsbeker diesem Sport, auch der Pastor.
Rebecca und Matthias Claudius lebten in dem kleinen Häuschen und bald krabbelte eine Kinderschar durch die winzigen Zimmer. Die Möbel hatte der Vater Rebeccas gezimmert, und die Briefe des Ehemanns an Freunde, sie möchten ihn unterstützen, brachten etwas Geld in die Kasse. In der Familie mit schließlich zehn Kindern ging es meistens fröhlich zu, auch wenn es immer wieder Sorgen um das tägliche Auskommen gab. Claudius schrieb in einem Brief: „Ich lebe sehr vergnügt und glücklich, und wenn ich jährlich hundert Taler mehr hätte, würde ich mich um nichts umsehen.“
Claudius nahm gern Ereignisse in seiner Familie zum Anlass, Gedichte zu verfassen, zum Beispiel den ersten Zahn eines der Kinder:
Victoria! Victoria!
Der kleine weiße Zahn ist da.
Du Mutter! komm, und Groß und Klein
Im Hause! kommt und kuckt hinein,
Und seht den hellen weißen Schein.
Die Enkelin Agnes Perthes erinnerte sich gern an die Besuche im Hause Claudius: „Mein Großpapa stand sehr früh auf und frühstückte allein; war das Wetter schlecht, in seiner gelben Stube. Wir Enkel schliefen in der Nebenstube bei seinen Töchtern und dann brachte er uns teelöffelweise seinen süßen Kaffee ins Bett und war unbeschreiblich freundlich. Bei gutem Wetter trank er vor dem Hause, ging in der langen Lindenallee mit der weißen Tonpfeife und der weißen Nachtmütze auf und ab … Nach dem Frühstück ging Großpapa in seine Stube, in früherer Zeit gab er seinen Kindern Unterricht … Um 1 Uhr wurde gegessen, vor Tische machte Großpapa einen Spaziergang in den sogenannten englischen Garten, wozu er den Schlüssel vom Grafen Schimmelmann bekommen hatte. Er nahm uns Kinder und seinen treuen Hund Phylax meist mit. Wenn wir nach Hause kamen, wurde gegessen. Vor und nach Tische wurde gebetet. Ich sehe den lieben ehrfürchtigen Mann noch lebendig vor mir stehen, die Nachtmütze in den gefalteten Händen. Bei Tische legte der Hund seine beiden Pfoten auf beide Achseln seines Herrn und bekam mit der Gabel manchen guten Brocken … Gegen Abend spielte Großpapa gerne eine Partie Schach mit seiner Tochter Rebecca oder mit Pastor Schröder. Nach 9 Uhr ging er ins Bett und trank noch ein Glas Grog gegen seinen langjährigen Husten. Die Schlafkammertüren waren weit geöffnet und seine Söhne und Töchter musizierten.“
Die große Gastfreundschaft der Familie Claudius
Der Dichter Johann Heinrich Voß, der mit seiner Frau einige Jahre in Wandsbek lebte, hat seine erste Begegnung mit Matthias Claudius im Jahr 1775 so beschrieben: „Auf dem Rückweg nach dem Wirtshaus gingen wir bei Claudius, der den Wandbecker Bothen schreibt, vorbei. Er war hinten in seinem kleinen Gärtchen. Ich hatte den Mann schon vorher, aus dem wenigen, was ich in seiner Zeitung von ihm gelesen … liebgewonnen; aber die halbe Stunde, die ich jetzt bei ihm zubrachte, machte mir sein Andenken ewig unvergesslich und heilig. Man glaubt, wenn er spricht, die Wahrheit und Liebe selbst zu hören. Herzlichkeit, Zutraulichkeit und Güte begleiten alle seine Reden. Man muss ihn lieben … alle Zurückhaltung fällt weg, wie er selbst keine zeigt; es ist einem so wohl um ihn, wie in den goldenen Zeiten der Unschuld.“
Nicht alle Zeitgenossen haben den Dichter so positiv beschrieben. Der Hamburger Schriftsteller Johann Hermann Stoever schrieb 1789 über Besuche in Wandsbek: „Die reisenden schönen Geister und Belletristen sprechen hier auch unausbleiblich vor, um nachher sagen zu können, den sonderbaren Claudius … von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Dieser Dichter gehört ohnstreitig unter die bizarresten und launischtesten gelehrten Menschenköpfe, und es scheint, als wenn Hans Jakob Rousseau ihm zu seinem ganzen Wesen und Betragen das Original lieferte. Wovon er gern eine Copie machen möchte ... Ihm behagte es lieber, seine Kartoffeln zu pflanzen, und wieder auszuwühlen, seine Kuh zu hüten, und sich und seine Familie von ihrer Milch und dem Korn seines Bodens und der Frucht seines Gartens zu ernähren, statt sich eine Wampe von Gnadengeldern anzufressen.“
Tatsächlich hat Claudius mehrfach „Gnadengelder“ erbeten und erhalten, aber daneben waren seine Frau und er darauf angewiesen, von den Früchten ihrer kleinen Landwirtschaft zu leben. Claudius war nicht so abgehoben, dass er keine Freude daran empfand, selbst zu pflanzen und zu ernten, statt ausschließlich in einem Studierzimmer zu sitzen – das er in seinem kleinen Haus nicht einmal besaß.
Matthias und Rebecca Claudius waren trotz ihrer Armut für ihre Freunde sehr herzliche Gastgeber und holten alles hervor, was ihre Küche und Speisekammer boten. Viel war es nicht. Ein Besucher schrieb über die Gastfreundschaft der Familie Claudius: „Die Wohnstube des Claudius wimmelte gewöhnlich von Köpfen, und gab es keine Stühle und Schemel zum Niederlassen für die Anwesenden mehr, so rückte das heitere Wirthspaar unbefangen eine Commode fort oder man nahm in dem Hause der Patriarchen da Platz, wo man ihn gerade finden konnte. Was Küche und Keller boten, Milch, Obst, Brot u.s.w. wurden vorgesetzt und nur Eins, Heiterkeit und Frohsinn, dafür verlangt.“
Zu der Gastlichkeit im Hause Claudius trug Rebecca entscheidend bei. Einer der Besucher der Dichterfamilie, der Regierungsrat Anton Matthias Sprickmann, schrieb 1776: „Seine Frau – oder Engel! – empfing uns mit der offenherzigen Freundschaft, die sogleich ankettet. Ich hätte sie meine Schwester nennen mögen … Dazu ihr offenes, heiteres Wesen!“
Das Weihnachtsfest mit einer großen Überraschung
Die Berichte vom Weihnachtsfeier 1796 geben einen Einblick In das Leben der Familie Claudius. Angesichts der ärmlichen Verhältnisse zu Hause genossen die Kinder den Heiligabend im Schloss besonders, das die Grafenfamilie Schimmelmann der Dichterfamilie ermöglicht hatte.
Es waren auch gute Freunde gekommen, allen voran der greise Dichter Friedrich Klopstock, der an diesem Abend aus seinem „Messias“ vorlas, seinem berühmten Gedicht vom Leben und Sterben des Heilands. Dass an diesem Abend der Geburt und des Todes Jesu gedacht wurde, mag für manche heutige Christinnen und Christen seltsam klingen, aber für Matthias Claudius gehörten der Anfang und das Ende des Lebens aufs Engste zusammen.
Leben und Sterben, Leid und Glück waren bei dem Weihnachtsfest im Wandsbeker Schloss präsent. Man gedachte der toten Tochter Christiane – und es bahnte sich ein neuer Lebensabschnitt für eine ihrer Schwestern an. Einer der Gäste war der junge Buchhändler und Verleger Friedrich Perthes, der später zu den führenden Köpfen des Hamburger Kulturlebens zählen sollte. Aber noch war er unbekannt und finanziell klamm. Friedrich Perthes hatte sich in die Tochter Caroline verliebt, und vermutlich schweiften seine Gedanken ab, während die Weihnachtsgesellschaft „Es ist ein Ros’ entsprungen“ sang und Matthias Claudius wie jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte vorlas.
Danach war die Zeit gekommen, die Geschenke auszutauschen, aber der arme Buchhändler konnte „seiner“ Caroline kein großes Geschenk machen. Allerdings, ist uns überliefert worden, wusste er sich zu helfen. Umständlich rückte er einen Sessel an den Weihnachtsbaum, stieg hinauf und holte den schönsten vergoldeten Apfel von der Spitze des Baums herunter. Damit ging er auf die überraschte Caroline zu und überreichte ihn ihr feierlich.
Sie war so sprachlos, dass sie sich nicht bedanken konnte. Auch die übrige Runde war vollkommen verwirrt. Vater Claudius räusperte sich, wusste aber nichts zu sagen. Eine der kleinen Claudius-Töchter rettete die Situation, indem sie vorschlug, ihr Bruder möchte doch das schöne Gedicht des Vaters „Der Winter ist ein rechter Mann“ aufsagen. Es hat acht Verse, genug Zeit für die Erwachsenen, die Verlegenheit zu überwinden und anschließend umso fröhlicher zu feiern. Beim nächsten Weihnachtsfest standen Caroline und Friedrich schon als Buchhändlerehepaar Perthes unter dem Weihnachtsbaum.
Weder Macht noch Reichtum angestrebt
Dank der Übersetzungshonorare, der Autorentantiemen, der Unterstützung durch Freunde und Gönner und nicht zuletzt der sparsamen Haushaltsführung Rebeccas konnte die Familie 1781 ein bescheidenes Haus erwerben. Ein kleiner Gemüse- und Obstgarten sowie eine Kuh auf der Wiese bereicherten die Mahlzeiten. Von einem Leben im Wohlstand waren Rebecca und Matthias Claudius weit entfernt, hatten aber endlich doch ihr Auskommen:
Gott gebe mir nur jeden Tag,
Soviel ich darf zum Leben.
Er gibt's dem Sperling auf dem Dach;
Wie sollt er's mir nicht geben!
Auch andere Schriftsteller, selbst die berühmten unter ihnen, konnten damals von ihren Autorenhonoraren nicht leben. Sie mussten zusätzlich Einnahmen erzielen, zum Beispiel Lessing als Bibliothekar, oder brauchten großzügige Gönner wie Klopstock. Claudius war viel weniger ehrgeizig und viel weniger fleißig als viele andere Dichter seiner Zeit. Binnen mehrerer Jahrzehnte schrieb er eine durchaus überschaubare Zahl von Gedichten und Prosatexten.
Das Leben war ihm wichtiger als das Schreiben. In dem Gedicht „Täglich zu singen“ brachte er seine Einstellung zu Macht und Reichtum zum Ausdruck, hier vier Verse des Gedichts:
Ich danke Gott mit Saitenspiel,
Daß ich kein König worden;
Ich wär geschmeichelt worden viel,
Und wär vielleicht verdorben.
Auch bet' ich ihn von Herzen an,
Daß ich auf dieser Erde
Nicht bin ein großer reicher Mann,
Und auch wohl keiner werde.
Denn Ehr' und Reichtum treibt und bläht,
Hat mancherlei Gefahren,
Und vielen hat's das Herz verdreht,
Die weiland wacker waren.
Und all das Geld und all das Gut
Gewährt zwar viele Sachen;
Gesundheit, Schlaf und guten Mut
Kann's aber doch nicht machen.
Freud und Leid der Familie Claudius
Wie ruhig und angenehm das Leben mit der Familie Claudius trotz fehlenden Wohlstands sein konnte, hat der Dichter Johann Heinrich Voß beschrieben: „Wir sind den ganzen Tag bei Bruder Claudius und liegen gewöhnlich bei seiner Gartenlaube auf einem Rasenstück im Garten und hören den Kuckuck und die Nachtigall. Seine Frau liegt mit ihrer kleinen Tochter im Arm neben uns … So trinken wir Kaffee oder Thee, rauchen ein Pfeifchen dabei, und schwatzen oder dichten …“
Allerdings, dass Matthias Claudius so sorglos in den Tag hinein leben konnte, verdankte er ganz wesentlich der harten Arbeit seiner Frau. Sie kümmerte sich nicht nur um den Haushalt und die wachsende Kinderschar, sondern sorgte auch für die Beköstigung und Betreuung der Jungen aus wohlhabenden Familien.
Matthias Claudius nahm sie gegen Bezahlung in sein Haus auf und unterrichtete sie in einigen Fächern, während sie daneben am Unterricht der Dorfschule teilnahmen. Dass der Hausherr die Jungen auch in den Fächern Latein, Englisch und Italienisch unterrichten konnte, zeugte von seiner vielfältigen Bildung. Unter den Hamburger Originalen, die in diesem Buch vorgestellt werden, war Claudius einer derjenigen mit einer beeindruckenden Bildung.
Ungetrübt war das Leben der Familie Claudius nicht. Als 1796 die zwanzigjährige Tochter Christiane an Typhus starb, brachte der Vater seine Verzweiflung in dem Gedicht „Christiane“ zum Ausdruck, das mit diesen Zeilen begann:
Es stand ein Sternlein am Himmel,
Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
So lieblich und so zart!
Das Gedicht schloss mit diesem Vers:
Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her,
Wo ich es sonst gefunden,
Und find es nun nicht mehr.
Die Not der Mitmenschen zur Sprache bringen
Der Dichter blieb wach für die Not anderer Menschen, selbst für die Not der Sklaven in der Karibik, von deren Situation er vermutlich von einem „Kammermohren“ des Wandsbeker Gutsherrn Schimmelmann erfahren hatte. Der Reichtum der Familie Schimmelmann beruhte ganz wesentlich auf den Profiten aus dem Sklavenhandel und der Ausbeutung der Sklaven auf ihren karibischen Plantagen. Matthias Claudius schrieb 1773 das wahrscheinlich erste deutsche Gedichte gegen die Sklaverei:
Weit von meinem Vaterlande
Muß ich hier verschmachten und vergehn,
Ohne Trost, in Müh’ und Schande;
Ohhh die weißen Männer!! klug und schön!
Und ich hab’ den Männern ohn’ Erbarmen
Nichts getan.
Du im Himmel! hilf mir armen
Schwarzen Mann!
Claudius war zugleich sensibel für die Not in seiner Umgebung. In einem Gedicht brachte er das Elend und die Mühen der Bauern zur Sprache. Hier einige Verse dieses Gedichtes zum Neujahr:
Zuerst dem lieben Bauernstande;
Ich bin von Bauern her,
Und weiß, wie nötig auf dem Lande
Ein fröhlich Neujahr wär.
Gehn viele da gebückt, und welken
In Elend und in Müh,
Und andre zerren dran und melken;
Wie an dem lieben Vieh.
Und ist doch nicht zu defendieren,
Und gar ein böser Brauch;
Die Bauern gehn ja nicht auf vieren,
Es sind doch Menschen auch.
Claudius war von einer tiefen Friedensliebe beseelt. Das zeigte sich auch 1778, als er angesichts eines Krieges zwischen Preußen und Österreich sein berühmtes Friedensgedicht verfasste, das mit diesem Vers beginnt:
‚s Krieg!, ‚s Krieg!
o Gottes Engel wehre,
und rede Du darein!
‚s leider Krieg – und ich begehre,
nicht schuld daran zu sein!
Aber so sehr er politische und wirtschaftliche Missstände beklagte, so setzte er sich doch keineswegs für grundlegende politische Veränderungen ein, sondern appellierte an die Herrschenden, nach Gottes Geboten zu handeln. Er forderte dazu auf, angesichts des nahe herbeigekommenen Reiches Gottes am Bau dieses Reiches mitzuwirken:
„Zuerst und vor allem können die Fürsten und Vorgesetzten der Völker dazu beitragen. Ihren Händen ist die Sorge für andre Menschen von Gott anvertraut … Der geringste ihrer Untertanen und Untergebenen ist ein Mensch wie sie und wird geachtet vor Gott.“
Den Gedanken der Aufklärung stand Claudius wie erwähnt ablehnend gegenüber. Besonders stark war seine Ablehnung der Französischen Revolution. Der Dichter verteidigte die feudale Ständeordnung, obwohl viele seiner Zeitgenossen erkannt hatten, dass es eben diese verkrusteten Strukturen waren, die so viel Unrecht und Gewalt verursachten. Claudius zog sich in den unruhigen politischen Verhältnissen noch weiter auf das Leben mit seiner geliebten Rebecca und seinen Kindern zurück. Und je älter er wurde, desto mehr richtete er seine ganze Hoffnung auf das himmlische Paradies. Das wird besonders deutlich in seinem Gedicht „An Frau Rebecca“ zur Silbernen Hochzeit im Jahre 1797, das mit diesen Zeilen beginnt:
Ich habe Dich geliebet und ich will Dich lieben,
Solang’ Du goldner Engel bist;
In diesem wüsten Lande hier, und drüben
Im Lande wo es besser ist.
Matthias und Rebecca Claudius auf der Flucht
1814 musste der über Siebzigjährige Claudius mit seiner Frau vor dem Krieg zwischen den französischen Besatzungstruppen und den heranrückenden europäischen Armeen fliehen. Sie fanden Zuflucht bei befreundeten Familien in Holstein und kehrten nach der Niederlage der Franzosen nach Wandsbek zurück. Aber wegen ihrer sich verschlechternden Gesundheit zogen sie zu ihrer Tochter Caroline und deren Mann Friedrich Perthes nach Hamburg.
Die Enkeltochter Agnes Perthes hat das letzte Weihnachtsfest des Dichters im Jahr 1814 so überliefert:
„… Weihnachten kam, und Groß und Klein berieten, welche Freude wir unserm kranken Großpapa machen könnten. Mama kaufte einen kleinen Weihnachtsbaum, welcher in einem großen, hübschen Blumentopf gesetzt ward, in unserer runden Stube wurden unter vielen Tränen Äpfel und Nüsse vergoldet. Mama sagte uns, es sei der letzte Weihnachtsbaum, welchen Großpapa auf der Erde sehen werde, ein ander Jahr wäre er beim Jesuskind selbst … Am Heiligen Abend zogen wir alle in das Krankenzimmer, Großpapa lag im Bette, unser Papa voran mit dem Baume. Großpapa wurde sehr bewegt und ergoß sich in Dank gegen Gott und Menschen.“
Der Dichter starb am 21. Januar 1815. Er hatte in seinem berühmten Gedicht vom Mond auch den Tod zum Thema gemacht, der für ihn untrennbar zu einem gottesfürchtigen Leben gehörte:
Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod,
Und wenn du uns genommen,
Laß uns in Himmel kommen,
Du lieber treuer frommer Gott!
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro