Johanna Maria Carolina Ruaux, geboren am 2. Juli 1802, war die Tochter einer französischen Einwandererfamilie in Altona. Ihr Vater Jean Francois Ruaux war 1797 vor der Gewaltherrschaft nach der Französischen Revolution an die Elbe geflüchtet, seine Frau Louise Henriette gehörte ebenfalls zur großen Gruppe der Exilfranzosen im Hamburger Raum.
Die Familie war katholisch und ließ die Tochter Marianne in der St. Josephskirche an der Großen Freiheit taufen. Der Vater betätigte sich als Wäscher und Bleicher, aber trotz harter Arbeit lebte er mit Frau und zwei Kindern in Armut. Die französische Herrschaft in Hamburg löste eine Wirtschaftskrise aus, die auch das dänisch regierte Altona traf. Die Familie Ruaux verlor ihr kleines Haus und den größten Teil ihrer Habe. Sie musste ihr bisheriges Haus anschließend mieten. Zusammen mit seinem Sohn baute Jean Ruaux nach dem Ende der Franzosenzeit ein kleines Fuhrgeschäft auf.
Als die Männer zum Lokal „Mariannenruh“ pilgerten
In den 1820er Jahren erholten sich Hamburg und Altona wirtschaftlich, und wie so häufig nach Krisen wollten sich die Leute wieder vergnügen. Davon profitierte auch das damals noch ländliche Eimsbüttel. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es: „Es herrscht eine große Genuß-, Vergnügungs- und Schaulust. Jede Schenkwirtschaft, wo sich eine gefällige Schenkjungfer zeigt, wird stark besucht.“
Hier eröffnete Marianne Ruaux 1824 das Wirtshaus Mariannenruh. Genau genommen lag das Lokal schon in Langenfelde, wurde aber vor allem von den Besuchern Eimsbüttels frequentiert. Die junge Wirtin zog von Anfang an die Männer der weiten Umgebung in ihren Bann.
In der Ausgabe von 1826 des Fremdenführers „Hamburg und Hamburgs Umgegenden“ wird das Lokal so beschrieben: „Seit einiger Zeit ist Eimsbüttel auch noch durch das am andern Ende des Dorfes liegende Gasthaus der sogenannten schönen Marianne, der Tochter eines Franzosen Ruaux, zu einer der beliebtesten Landpartien des Hamburgischen und Altonaischen Publikums, wie aller nach Hamburg kommenden Fremden, geworden. Das Lokal besteht nur aus einem kleinen Haus und Garten, aber die Besitzerin, die zugleich auch sehr angenehme und gefällige Wirtin ist, zeichnet sich in der Tat durch eine seltene, in keinem der beiden von ihr erschienenen Bildnisse erreichten Schönheit ihrer Gestalt und Gesichtsbildung aus.“
Auch Berühmtheiten wie die Dichter Ludwig Börne pilgerten nach Langenfelde. Heinrich Heine beschrieb Marianne als „ein außergewöhnlich schönes Frauenzimmer“. Auch viele Maler scharten sich um sie, und es sind einige Porträts der schönen Frau erhalten geblieben.
Die Polizei musste für Ordnung sorgen
Groß war die Zahl der Artikel und Gedichte, die der Schönen Marianne gewidmet wurden, aber nicht immer entsprach die Dichtkunst ihrer Schönheit:
O Göttin, bIumenreiche Schöne!
Zauberin am HerzaItar!
Sieh versammelt Teutos Söhne,
Eine ganze Heldenschar!
Bei Dir zu schlürfen den Nektar.
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Welche Wonne, welch Entzücken,
Solch ein Wesen an das Herz zu drücken.
Und auch dieser Vers ist überliefert worden:
Amor kam, riß sie zu sehen
Sich die Binde vom Gesicht,
Plötzlich von dem Glanz entzündet,
der aus ihren Augen bricht,
Ruft er: Grazien verbindet
Hurtig wieder mein Gesicht,
Wahrlich im Olympus findet
Man so eine Schönheit nicht!
So oder so ähnlich schwärmten Hunderte Hamburger Männer von der schönen Wirtin Marianne. Heiraten durfte sie keiner von ihnen, jedenfalls lange Zeit nicht. Und als sie heiratete, war der „Mariannen-Kult“ bereits Geschichte. Aber zunächst kamen so viele „Helden“, dass das Lokal einen stattlichen Eintrittspreis verlangen konnte und trotzdem so viel Publikum herbeiströmte, dass zeitweise die Polizei für Ordnung sorgen musste. „La belle Marianne" war über die Landesgrenzen hinaus eine Berühmtheit.
Die Traurigkeit der schönen Marianne
Das Geheimnis der schönen Marianne war wahrscheinlich ihr melancholisches Lächeln und ihre hinter der Freundlichkeit durchschimmernde tiefe Traurigkeit, die so ganz dem Zeitgeist entsprach. Zu ihrer Traurigkeit gab es auch eine Geschichte, die - wenn auch nicht wahr, so doch schön erfunden ist: Eines Tages brachte man der schönen Marianne ein Ölgemälde von einem Jüngling, der seinen Namen verschwieg, aber ihr mitteilen ließ, er liebe allein sie auf der Welt. Sie verliebte sich in das Bild und hoffte inständig, dass der Jüngling bald zu ihr kommen möge.
Umso größer war ihr Schrecken, als eben dieser junge Mann, ein neapolitanischer Edelmann, auf einer Bahre in ihr Haus getragen wurde. Er war bei einem Pistolenduell schwer verletzt worden, und die Wirtin räumte sofort ihr Schlafzimmer für ihn. Dort starb er. Zurück blieb ihre unendlich große Traurigkeit. Der Lokalhistoriker Armin Clasen, der 1972 die Biografie „Die schöne Marianne“ veröffentlicht hat, fand bei seinen akribischen Archivstudien keinen Hinweis darauf, dass ein solches Duell in Eimsbüttel damals tatsächlich stattgefunden hat.
Sechs Jahre währte die öffentliche Anbetung Mariannes, deren Augen, so ein Bewunderer, „wie der Plöner See schmachtend dalagen“. Sie war mit ihrem Lokal so erfolgreich, dass eine ganze Reihe von konkurrierenden „Mariannen-Wirtschaften“ in Eimsbüttel und Hamburg entstanden, Wirtshäuser, in denen Frauen hinter der Theke standen. Marianne selbst geriet allmählich in Vergessenheit, begleitet vom Spott von Zeitgenossen wie Heinrich Heine, der über sie schrieb, dass „der Zahn der Zeit“ an ihr „kaut“. Das provozierte auch andere zu herabwürdigender Kritik an der Wirtin. Schöne Frauen, die älter wurden, verloren rasch ihren Reiz für die Männerwelt.
Es kam noch schlimmer. Als Marianne ein uneheliches Kind erwartete, schloss sie ihr Lokal 1830, brachte ihre Tochter heimlich zur Welt und musste es in Pflege geben. Der Vater, ein junger Hamburger Kaufmann, entzog sich jeglicher Verantwortung und wanderte in die Vereinigten Staaten aus. In Eimsbüttel eröffnete die immer noch Schöne Marianne ein kleineres neues Lokal, konnte aber nicht an ihre früheren Erfolge anknüpfen.
Das belastete Alter einer berühmten Frau
1836 heiratete Marianne Ruaux den Hamburger Kaufmann Robert Schindler. Gemeinsam eröffneten sie ein Lokal in Hamburg, aber der Ehemann war so ungeeignet für diese Aufgabe, dass auch seine tatkräftige Frau den raschen Niedergang des Lokals nicht verhindern konnte, sodass 1842 Konkurs angemeldet werden musste und die Familie das Haus zu räumen hatte. Freunde von Marianne aus besseren Zeiten halfen der Familie und 1844 konnte ein neues Lokal eröffnet werden. Allerdings war die geistige Umnachtung von Robert Schindler so weit fortgeschritten, dass er arbeitsunfähig war. Freunde versuchten, erneut zu helfen, aber im August 1848 war die Familie zahlungsunfähig. Im folgenden Jahr starb Robert Schindler in einer Klinik.
Er hinterließ die Mutter von inzwischen fünf Kindern in tiefer Armut. Und wieder waren Freunde zur Stelle und ermöglichten es, dass sie ein kleines Hotel an der Großen Theaterstraße eröffnen und später ihren Lebensabend in Eimsbüttel verbringen konnte. Als würdige alte Dame sprach sie mit Freunden gern darüber, wie früher die Leute Schlange gestanden hatten, um ihre schönen Augen zu sehen. Am 4. Juli 1882, zwei Tage nach ihrem 80. Geburtstag, starb Marianne Ruaux. Sie hatte ihren eigenen Mythos um ein halbes Jahrhundert überlebt, aber bewiesen, dass eine Frau mit großem Erfolg ein Lokal führen kann.
Ihr Biograf Armin Clasen schrieb am Ende seines Buches: „Von Schriftstellern gepriesen, von Malern und Lithographen porträtiert, von den Zeitgenossen in den Himmel gehoben, ist uns die ‚Schöne Marianne‘ als ein strahlender Stern am Himmel hamburgischer Gastlichkeit bekannt geworden. Aus höchsten Höhen überirdischer Schönheit stürzte sie, verraten von ihrem Liebhaber … in das schwere Schicksal, das sie an einen lebensuntüchtigen und ihrer nicht würdigen Mann band, dem sie auch dann noch, als er völlig irre und kindisch wurde, eine treusorgende Ehegattin blieb. Mit welch beispielloser Energie war sie nach seinem Tod ihren Kindern die fürsorglichste Mutter.“
Die Patriotische Gesellschaft hat am Eimsbütteler Marktplatz einen Gedenkstein für die Schöne Marianne aufstellen lassen, dort, wo ihr Ausflugslokal zum Anziehungspunkt für viele Hamburger Männer wurde. Die Inschrift des Gedenksteins lautet:
„Sie bediente schon in jungen Jahren die Gäste in der väterlichen Wirtschaft ‚Mariannenruh‘, die sie später übernahm. Das hier in der ehemaligen Emahusbleiche gelegene Lokal wurde wegen der Schönheit der Wirtin berühmt. Sie wurde weit über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannt. Auch Heinrich Heine zählte zu ihren zahlreichen Bewunderern. ‚Mariannenwirtschaft‘ wurde in der Folgezeit ein Begriff für ein Lokal mit weiblicher Bedienung.“
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro