Hamburg, Stadt der mächt’gen Hanse,
frei und arg beschränkt zugleich,
Hamburg, Stadt der mächt’gen Hänse,
schaue auf Dein reiches Reich!
Schmück‘ die morsche Mauerkrone
einmal noch mit ed‘lem Stoffe,
daß Dein Haupt sich hebe
und Dein Herz Verjüngung hoffe!
So begann ein 1835 erschienenes Spottgedicht mit dem Titel „Der Maskenzug, eine Vision“. Das Gedicht des Poeten Wilhelm Hocker präsentierte die Regierenden Hamburgs als maskierte Mitwirkende an einem Karnevalsumzug – was diese durchaus nicht schätzten.
Wilhelm Hocker wurde am 28. Dezember 1812 als Sohn eines Handwerkers in Boizenburg geboren und kam mit neun Jahren nach Hamburg, wo sein Vater einen Weinhandel und eine Gastwirtschaft betrieb. Schon früh zeigte der Sohn großes Interesse daran, Verse zu schmieden. So hat er bereits im Alter von zwölf Jahren das Vaterunser in Reime gebracht.
Trotz seiner Intelligenz konnte Wilhelm Hocker keine höhere Schule besuchen, sondern musste mit 15 Jahren in den elterlichen Betrieben mithelfen. In der Gastwirtschaft lauschte er aufmerksam den Gesprächen der einfachen Leute und lernte ihre Weltsicht kennen. In seiner knappen Freizeit schrieb Hocker erste Gedichte. Die Hamburger Schriftstellerin Amalie Schoppe half ihm dabei, diese Gedichte in Zeitschriften unterzubringen.
Die Bestrafung des Verfassers von Spottgedichten
Die Obrigkeit wollte Hockers Spottgedichte nicht hinnehmen, angefangen mit dem Gedicht vom „Maskenzug“. Die liberal eingestellte Altonaer Zeitschrift „Der Freihafen“ schrieb über diesen Konflikt: „Zu Anfang des Jahres 1835 entstand sein ‚Maskenzug‘, der ihn zuerst mit der Polizei in Verbindung brachte. Während das Publicum das Gedicht mit Enthusiasmus aufnahm, verurtheilte der damalige Polizeiherr Hudtwalcker den Verfasser zu 14 Tagen Arrest.“ Es war die erste von diversen harten Strafen. „Der Freihafen“ schrieb über den Verfasser: „Hocker ist mehr Gefühls- als Verstandesmensch, lebhaft und feurig, von Witzen sprudelnd, freimüthig, offen und wahr – offener, als es für sein eigenes Heil ersprießlich ist.“
Es blieb nicht bei dem einen obrigkeitskritischen Gedicht:
Die großen Herrn verspeisen unsere Kirschen
und spucken uns die Steine ins Gesicht.
Solche Verhältnisse beklagte der Poet immer wieder in Spottgedichten und verschwieg nicht, dass er vor allem den mächtigen Senator Merck meinte, der durch ein zwielichtiges Grundstücksgeschäft ins Gerede gekommen war. Ein auf Merck gemünztes Gedicht Hockers begann mit diesen Zeilen:
Merk auf, mein Sohn
Ich will dir was erzählen …
Senator Merck wollte nicht zuhören und viele andere gutbetuchte Hanseaten auch nicht. Also zerrten sie den Poeten wiederholt vor Gericht und ließen ihn ob seiner kritischen Verse ins Gefängnis werfen. Der Popularität Hockers tat das lange Zeit keinen Abbruch, im Gegenteil, er brachte in Versform, was die einfachen Leute in Hamburg dachten.
Spott über die Träume von der Südsee
Wie im Kapitel über Matthias Claudius erwähnt, gab es im 18. und 19. Jahrhundert unter den Intellektuellen romantische Vorstellungen vom Leben in der Südsee und den Wunsch, dort eine Dichterkolonie zu gründen. Auch der Syndikus Karl Sieveking, also der höchste Jurist im Dienste der Stadt, war von dieser Südseebegeisterung angesteckt worden und versuchte 1841 vergeblich, auf den Chatman Inseln in der Nähe von Neuseeland eine deutsche Siedlerkolonie zu gründen.
Ein Werbebroschüre für die Südseekolonie trug den Titel „Warrekauri”, also den Namen der Hauptinsel der Chatman Inseln. Das nahm der Spötter Hocker zum Anlass für sein Gedicht „God Save the Sieveking!“. Darin machte er sich lustig über die Vorstellungen von einer „Insel der Glückseligkeit“ und die angebliche Begeisterung der Massen für eine Auswanderung in dieses Paradies:
Schon brüllen Hamburgs Rammer „Gottverdauri!“
Wi got mit Fro un Kind na Warrekauri.
Zu den euphorischen Beiträgen über die angeblich paradiesischen Aussichten für deutschen Siedler dichtete Wilhelm Hocker:
Schön muss sie sein; denn sie ist transatlantisch,
Und in der Ferne blüht allein das Glück;
Die Fahrt dahin, wie reizend, wie romantisch,
Legt kaum in sieben Monden man zurück.
Ein Gedicht über die verschlafenen Oberalten
Der Spott von Wilhelm Hocker in dem nun zitierten Gedicht zielte auf die Oberalten der Stadt, und es traf sie hart. Um das zu verstehen, muss man die Rolle dieses Gremiums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kurz darstellen. Die Oberalten waren Vertreter der Hamburger Kirchspiele und sollten die Interessen der Bürger gegenüber dem Senat vertreten. Aber die Oberalten waren meist betagte wohlhabende Herren, die den Senat nicht kontrollierten, sondern schon um des Friedens willen dessen Vorlagen zustimmten. Zum Ärger der Bürger, die Reformen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit forderten, nickten die Oberalten alles ab, was ihnen ihr Präsis auf Geheiß des Senats vorlegte. Im Senat saßen nur reiche Kaufleute und einige Juristen, die auf Lebenszeit gewählt worden waren und die die Interessen der Reichen der Stadt rücksichtslos vertraten.
Bis zu seinem Tod im Januar 1841 nahm Georg Nikolaus Mohr das Amt des Präsis der Oberalten wahr. Aber noch ein Jahr später verkündete ein aus dem Schlaf gerüttelter Oberalter das, was er schon so oft gesagt hatte: „Ich bin derselben Meinung, wie mein Kollege Mohr!“ Dieses Vorkommnis sprach sich in der Stadt herum und bestätigte den unzufriedenen Bürgern, dass ihre Anliegen bei den Oberalten nicht gut aufgehoben waren. In Anspielung auf den Oberalten Mohr dichtete Hocker eine Fabel vom Mohrenland, das so beginnt:
O Stadt des Mohrenlandes, gerühmt in Bild und Wort,
O Stadt des Mohrenlandes am lichtbeglänztem Port.
Was hast Du noch verschuldet, wodurch jemals gefehlt,
Daß so viel dunkle Häupter man Dir zu Häupten zählt?
Es sitzen Deine Aelt’sten, wie Mumien zu Gericht,
Beharren wie im Traume, ob Dir das Herz auch bricht
Und einer raunt dem Andern schlaftrunken in das Ohr:
„Ich bin derselben Meinung, wie mein Kollege Mohr!“
Die Vertreibung des Spötters aus Hamburg
Hocker attackierte mit diesem und anderen Gedichten den politischen Status quo der Stadt, was wie zu erwarten den Mächtigen nicht genehm war. Dem Spötter wurde vorgeworfen, ein „Pasquillant“ zu sein, also der Verfasser von Schmähschriften. Das Wort soll auf einen italienischen Schneider namens Pasquino zurückgehen, der Spottverse an eine antike Statue heftete. Auch nannte man Hocker einen „Libellisten“, die Bezeichnung für Verfasser von Pamphleten vor der Französischen Revolution, in denen das Königshaus angegriffen wurde. Hier die Antwort des Satirikers auf die Vorwürfe:
Ich weiß es längst: man ist ein Pasquillant,
wenn öffentlich den Schuft man Schuft genannt.
Ein Libellist, wenn man von Recht erfüllt,
die Streiche dieser hohen Herrn enthüllt.
Jedoch zum Ruhm des menschlichen Geschlechtes
lebt auch noch heut die Poesie des Rechtes.
Wer gut, wer tugendhaft, wer sittlich rein,
wird stets vor dem Pamphlet gesichert sein.
Hart aber straf‘ es den, der unberechtigt
sich fremden Glückes, fremden Guts bemächtigt.
Vernichtend treff es ihn wie Dolch und Gift,
weil das Gesetz ihn eben niemals trifft.
So etwas schrieb man im Biedermeier-Hamburg nicht ungestraft. Dass Hocker im Volk viel Beifall fand, wenn er sich über Obrigkeit lustig machte oder sie bissig attackierte, kam erschwerend hinzu. Um weiteren Strafen zu entgehen, emigrierte Hocker 1835 nach Berlin und arbeitete dort als Handwerker. Nach drei Jahren kehrte er zurück in die Stadt, die er liebte. Den von Zensoren bedrängten Zeitungsmachern der Stadt rief Hocker zu:
Reiß‘ Dich viel gepreßte Presse los von allen Deinen Bengeln,
die die Urteilskraft der Leser nur nach ihrer Willkür gängeln!
Der Angriff Hocker auf den „Mäßigkeitsverein“
Immer wieder wurde Wilhelm Hocker zu Geld- und Haftstrafen verurteilt. Sogar einen richtigen Volksaufstand sollte er angestiftet haben - behauptete das Establishment. Jedenfalls stürmte eine aufgebrachte Menge am Abend des 18. Januar 1841 die Gelehrtenschule Johanneum und beendete gewaltsam eine Versammlung des sogenannten „Mäßigkeitsvereins“.
Mit der Mäßigung des Volkes war es nämlich vorbei, nachdem bekannt geworden war, dass dieser Verein wohlhabender Bürger den Schnapskonsum der einfachen Leute einschränken wollte, aber den Wein„genuß“ der „besseren Kreise“ guthieß. Einer der Hauptakteure war der Getreidehändler (Kornumstecher) Ehlers, mit dem sich auch das Original Vetter Kirchhoff angelegt hatte. Angeblich hatte Hocker die Unruhen mit solchen Versen angezettelt:
Wo Helden weilen, die als Zecher,
Als Weinvertilger längst bekannt,
Ich mein‘ die Herren Kornumstecher,
Da ist der Fusel schnell verbannt!
Mit der Mäßigkeit im Sinne der Oberen der Stadt wurde es nichts, Grund genug für die einfachen Leute, auf das Wohl Wilhelm Hockers anzustoßen. Der hatte auch gedichtet:
Was soll der Zwang? – Warum den Armen
Entzieh’n die tröstende Tinctur?
Sein Festgericht, sein Hochzeitscarmen
Ist oft die Brandweinflasche nur.
Auf! Sucht Madeira ihm zu schaffen,
Canariensect und Pararet,
Der manchen Ratsherrn, manchen Pfaffen
Tagtäglich zu Gebote steht.
Hocker kam durch diesen Konflikt eine Geschäftsidee: Um die Weinliebhaber zu verspotten, lud er alle Weinfreunde ins Belle Alliance-Lokal in Eimsbüttel ein, angeblich um den Europäischen Verein für Weintrinker zu gründen. Der Andrang derer, die den Aufruf ernst genommen hatten, war so groß, dass sich der Poet 1844 entschloss, in der Poststraße eine Weinhalle zu eröffnen. Es war ein elegantes Lokal mit großen Spiegeln und mit Gasbeleuchtung, damals noch eine Seltenheit. Aber Hocker war Dichter und nicht Kaufmann, und so musste er mit seiner Weinhalle nach eineinhalb Jahren Konkurs anmelden. Es ging von nun an steil bergab mit ihm. Er hatte bald keine Bewunderer mehr und war in einem bemitleidenswerten Zustand. In einem seiner letzten Gedichte schrieb er:
Ich habe die Freuden des Himmels gefühlt
Und getragen die schmerzlichsten Joche;
Ich habe auf seid’nen Matratzen gewühlt
und gelegen im Kellerloche.
Unterschiedliche Auffassungen über einen Dichter
1849 musste er ins Gefängnis, dieses Mal nicht wegen seiner „Schmähgedichten“, sondern wegen hoher Schulden. Er infizierte sich dort mit Tuberkulose, an der er am 7. Juli 1850 im Alter von erst 38 Jahren im Krankenhaus starb. Was die Obrigkeit von dem Poeten dachte, brachte der Stadthistoriker J. G. Gallois zu Papier: „Jener Dichterling, nicht ohne eine gewisse Gewandtheit im Reimen, aber ein ebenso charakterloser wie feiger und wüster Geselle, suchte in seiner maßloser Eitelkeit sich zum Wortführer der … öffentlichen Unzufriedenheit zu machen.“
Ganz anders wurde der Dichter im Juli 1843 in der Zeitschrift „Der Freihafen“ gewürdigt: „Man hat Hocker oft vorgeworfen, daß die Ergüsse seiner Muse nur ein Gifthauch wären, daß er nur niederreiße, heruntermache, mit einem Worte, daß er ein Pasquillant sei, weshalb denn auch alle besseren Literaten sich von ihm abwendeten; aber keine Verurteilung ist wohl ungerechter als diese. Seine Gedichte sind zwar oft beißend, anzüglich und geradezu persönlich, aber was ist die Ursache davon? Der Mangel an Öffentlichkeit und Freiheit in dem freien Staate! Das tiefe Rechtsgefühl, das Hocker’s ganzes Wesen durchdringt, darf sich nicht offen aussprechen über Gebrechen eines Staates, dessen Freiheit lediglich darin besteht, dass seine Bürger auf der Bierbank politisieren dürfen …“
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro