„Wat bin ick eemooI for ne arme unglückliche Persoon, und ick heff in mien ganzes Leben noch ken Mensch wat doon!“ Diesen Satz hat Henriette (verkürzt: Jette) Müller des Öfteren vor sich hingesagt, wenn sie mit einem Korb Zitronen durch die Stadt ging und die Früchte mit dem Ruf ,,Zitroon! Zitroon!" anpries.
Die am 18. Juli 1841 geborene Johanne Henriette Marie Müller erlebte als uneheliches Kind eine freudlose Kindheit. Ihre Mutter wohnte zunächst mit ihr in Dessau, bevor sie nach Hamburg zog. Dort heiratete sie und bekam mehrere weitere Kinder. Jette war in der Familie wegen ihrer geistigen und körperlichen Behinderungen isoliert. Über ihren Stiefvater behielt in Erinnerung: „Mein Vater hat mich nicht ausstehen können und deshalb die Straßenjungen auf mich gehetzt.“
Jette konnte nur ihren Namen schreiben und etwas lesen und rechnen. Nur ihre Halbschwester Anna hielt zu ihr, und nach dem Tod des Vaters nahm sie sie in ihre Wohnung im Gängeviertel auf. Es kam zwischen den Schwestern offenbar häufiger zum Streit. Paul Möhring hat in seinem niederdeutschen Theaterstück „Zitronenjette“, von dem noch die Rede sein wird, einen Dialog über den Alkoholkonsum der Zitronenjette aufgenommen. Anna sagte ihrer Schwester: „Jette, wenn du dat Drinken nich inschränken deist, nimmt dat mit di mool keen godes Enn! Denn bist du ganz bestimmt de längste Tied bi mi west.“ Anna wollte ihre Schwester nicht vertreiben, aber sah voraus, dass sie bald entweder auf dem Ohlsdorfer Friedhof oder in der „Irrenanstalt“ Friedrichsberg enden würde. Jette antwortet verzweifelt: „Ick will ober immer bi di blieben, Anna!“ Die beiden Schwestern versöhnen sich am Ende der Theaterszene, aber es wird deutlich, dass beide es im Leben nicht leicht hatten.
Der mühsame Verkauf von Zitronen
Als Erwachsene galt die geistig zurückgebliebene, aber keineswegs schwachsinnige Henriette Müller als Original eine Frau, über die Kinder und Erwachsene spotteten und die sie mit allerlei derben „Späßen“ ärgerten. Die nur 1.32 Meter große Frau mit der eingedrückten Nase, dem kurzen Rock und der blauen Schürze galt als sehr gutmütig und betrieb ihren Handel mit Stolz und Ehrlichkeit, wenn auch ohne großen Erfolg. Aber das ging damals auch anderen Straßenverkäuferinnen so. Vom 13. Lebensjahr an kaufte sie von den Frachtschiffen im Hafen Zitronen minderer Qualität und versuchte, sie im Laufe des Tages auf den Straßen der Stadt zu verkaufen, wobei manche Kunden sie betrogen. Andere Hamburgerinnen und Hamburger kauften ihr aus Mitleid einige Zitronen ab oder schenkten ihr etwas Geld. Sie war stolz auf ihren Handel und hat nie gebettelt.
Arthur Schmidt, der in der Gegend des Hopfenmarktes aufwuchs, hat Zitronenjette in seiner Kindheit erlebt. Er erzählte Paul Möhring später: „Rückblickend fällt mir ihre Ehrlichkeit auf. Ich erinnere mich, dass ich einmal das eingewickelte Geld, das ich zum Einholen in Papier mit dem aufgeschriebenen Kaufauftrag mitbekommen hatte, auf den Steinklotz gelegt hatte und mich dann durch andere Buttjes davon wegspielen ließ. Die Zitronenjette fand das Geld und brachte es meinen Eltern.“ Der Junge nahm das ihr zunächst übel, weil er wegen seiner Vergesslichkeit zu Hause eine Tracht Prügel bekam. „Aber dieser Hass ist inzwischen verblasst und der Hochachtung vor der Ehrlichkeit der Jette gewichen.“
Oft konnte Zitronenjette tagsüber nicht alle Zitronen verkaufen und zog abends durch Lokale und Spelunken, um ihre Ware anzubieten. Hier war sie noch mehr das Objekt von Spott und „Scherzen“. Vor allem drängte man ihr immer wieder Schnaps und Bier auf, sodass sie schließlich alkoholkrank wurde.
Lebensabend in einer „Irrenanstalt“
Zitronenjette verdiente so wenig, dass sie sich keine eigene Wohnung leisten konnte, sondern weiterhin bei ihrer Schwester wohnen musste, zuletzt im Gängeviertel in der Nähe ihres heutigen Denkmals. Als sie immer häufiger so betrunken war, dass sie nicht nach Hause fand und auf der Polizeiwache landete, wies man sie 1894 in die „Irrenanstalt Friedrichsberg“ ein.
So ähnlich erging es einer ganzen Reihe von Frauen, die als Originale galten, während Männer mehr „Narrenfreiheit“ zugestanden wurde. Jette hatte nun endlich einmal Glück, denn die Irren-, Heil- und Pflegeanstalt Friedrichsberg war eine Reformeinrichtung, wo man auf Zwangsjacken und andere Zwangsmittel verzichtete. Auch gab es keine vergitterten Fenster. Die betreuten Menschen konnten sich frei auf dem weitläufigen Gelände bewegen. Henriette Müller lebte dort zwei Jahrzehnte lang recht zufrieden, schälte Kartoffeln und putzte Gemüse.
Paul Möhring schrieb über ihr Alter: „Zu ihrem siebzigsten Geburtstag im Jahre 1911 veröffentlichten einige Hamburger Zeitungen kurze Artikel über sie, welche man ihr zu lesen gab. Mit sichtbarer Freude las sie die Zeilen über sich und war erstaunt, dass sie in Hamburg so populär gewesen war. Eine Zeitung hatte geschrieben, sie sei schwachsinnig. Da protestierte sie energisch und sagte, sie sei nicht schwachsinnig und sei es auch nie gewesen.“
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschlechterte sich die Lage der Patienten in Friedrichsberg drastisch. Auf dem Gelände der Anstalt wurde ein Reservelazarett für verwundete Soldaten eingerichtet. Zugunsten dieser Soldaten erhielten die psychisch Kranken nur noch Hungerrationen. 40 Prozent der Patientinnen und Patienten sollen in dieser Zeit verhungert sein. Ob Jette Müller zu ihnen gehörte, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, ist aber zu befürchten.
Ein Theaterstück bewahrt Zitronenjette vor dem Vergessen
Als Jette Müller am 8. Juli 1916 starb, war sie immer noch eine Berühmtheit, deren Lebensgeschichte in einer Volksposse Anlass zum Lachen bot. Den Hamburger Theaterkenner und Autor Paul Möhring ärgerte es, dass Jette nur als komische Person erschien, und so verfasste er ein eigenes Stück. Darin hat er die Zitronenjette möglichst lebensecht auf die Bühne gebracht, nicht als komische Figur. „Der Zuschauer sollte den Eindruck haben: So war diese Volksfigur wirklich, so sah sie aus, so lebte sie und so war der Menschenkreis, in welchem sie sich täglich bewegte. Bei der dramatischen Gestaltung wurde vermieden, diese Frau als Karikatur darzustellen oder sie nur als ‚komische Person‘, die sie in Wirklichkeit gar nicht war, zu schildern.“
1940 hatte das Theaterstück „Zitronenjette“ Uraufführung. Dieses, sein erfolgreichstes Stück, hatte Möhring gründlich vorbereitet. So konnte er die Akte von Jette Müller in der Irrenanstalt Friedrichsberg einsehen. Diese Vorarbeiten und der Verzicht auf Klamauk zahlten sich aus.
Die erste Besetzung der Rolle der Zitronenjette mit dem Schauspieler Ernst Budzinski war ein Glücksfall. In einer Hamburger Zeitung war zu lesen: „Er hält dies merkwürdige Menschenkind abseits aller Übertreibungen und gibt ihm eine kindliche Einfalt und ehrliches Streben und Redlichkeit.“ Budzinski war so überzeugend, dass er 526 Mal hintereinander diese Rolle übernahm.
„Zitronenjette“ wurde auch danach jeden Abend vor vollem Haus gespielt. Noch bis in die 70er Jahre ging das Stück 1.067 Mal über die Bühne eines einzigen Theaters, des Ernst-Drucker-Theaters (später St. Pauli Theater) am Spielbudenplatz. Das war ein Rekord in der Hamburger Theatergeschichte. Anlässlich der 1000. Aufführung ehrte der Intendant des St. Pauli Theaters Paul Möhring mit einem Lorbeerkranz. Das Stück zeigt sehr feinfühlig das Leben des Originals Zitronenjette, vor allem die ganze Tragik der Frau, die wegen ihrer geistigen Einschränkungen verspottet wurde.
Eine tragische, aber keine komische Person
„Zitronenjette“ hatte diese Ehrenrettung wahrlich verdient. Allerdings wurde die Theater-„Zitronenjette“ noch mehrmals von Männern gespielt, zuletzt von Henry Vahl, die aus der tragischen Gestalt eine komische Figur werden ließen. Das geschah mit Erfolg beim Publikum, war aber weit entfernt von der realen Henriette Müller. Die Schwierigkeiten begannen schon damit, dass Henry Vahl das Publikum als komisch wahrnahm und man alle Rollen, die er spielte, so einordnete. Paul Möhring soll die Inszenierung mit Henry Vahl mehr oder minder entsetzt zur Kenntnis genommen haben – und Jette Müller hätte es sicher auch getan.
Vorher hatte die Schauspielerin Christa Siems diese Rolle so überzeugend gespielt, dass das „Hamburger Abendblatt“ damals schrieb: „Die sonst im derbkomischen Fach brillierende Schauspielerin Christa Siems hat es verstanden, aus dieser Rolle ein jedenfalls für St. Pauli theatergeschichtliches Ereignis zu machen. Ihre ganze aus dem mitleidenden Herzen hervorgeholte, von glücklicher Rollenversenkung und naiver Selbstverleugnung zeugende kleine Hökerin ist ein ans Herz greifendes darstellerisches Meisterwerk: eine hamburgische Sehenswürdigkeit.“ Jette Müller hätte diese Darstellung ihres Lebens gefreut.
Im Februar 2024 hat Marut Yeginer zu seiner Verabschiedung als künstlerischer Leiter des Ohnsorg-Theaters das Stück „Bittersüße Zitronen“ inszeniert. Es verbindet Gerhard Hauptmanns Sozialdrama „Die Ratten“ mit einer realistischen Darstellung der Zitronenjette. In einer Kritik des Portals „Die deutsche Bühne“ hieß es: „Es bleibt ein Verdienst, dass Yeginer die Figur der kleinen Zitronenhändlerin mit dem großen Alkoholdurst der allfälligen lokalpatriotischen Verharmlosung entreißt und sie in ein Milieu transferiert, das ihrem traurigen Schicksal Gerechtigkeit widerfahren lässt.“ Allerdings wäre ein Manko vorhanden: „Im dramaturgischen Gehege von Hauptmanns ‚Ratten‘ ist schlicht kein Platz für die biographische Wahrheit der Figur.“
2007, mehr als 90 Jahre nach dem Tod der Zitronenjette, erhielt eine Straße in Ohlsdorf den Namen Jette-Müller-Weg. Im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof steht ein Erinnerungsstein für sie und Vogeljette. Zu erwähnen ist auch, dass eine zitronengelbe Rose den Namen „Rose Zitronenjette“ trägt und dass an der Ludwig-Erhard-Straße/Ecke Krayenkamp eine Bronzeskulptur von Hansjörg Wagner an Zitronenjette erinnert. Die Inschrift im Sockel der Skulptur lautet: „Dien Leben wer suur as de Zitroonen, sall sick dat Erinnern an di lohnen? Dien Schicksol wiest op all de Lüüd, for de dat Glück het gor keen Tiet.“
Es ist dem Alphabet geschuldet, dass dieses Buch mit einem Kapitel über Zitronenjette abschließt. Und es ist ein guter Anlass, erneut dem Irrtum entgegenzutreten, die Hamburger Originale wären komisch gewesen. Das trifft auf die wenigsten von ihnen zu. Viele Originale hatten Humor, andere waren tragische Gestalten, die von ihren Zeitgenossen verspottet und herablassend behandelt wurden. Zitronenjette selbst hatten nicht viel zu lachen. Andere Originale kehrten den Spieß um und verspotteten ihre Zeitgenossen, was manchen von ihnen mit der Verfolgung durch die Obrigkeit bezahlten.
Was alle Hamburger Originale verbindet, ist, dass sie ungewöhnliche Menschen waren. Wir sollten sie in ihrer Individualität und ihrem Mut, ihren „abweichenden“ Lebensweg zu gehen, wahrnehmen und anerkennen. Wir sollten uns davor hüten, sie zu komischen Figuren der Lokalgeschichte umzudeuten und herabzuwürdigen. Wenn sie uns etwas lehren können, so ist es, Menschen, die anders sind als die Mehrheit, mit Achtung zu begegnen und sie nicht auszugrenzen oder zu verspotten.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro