Der reiche Jüngling und seine Nachfahren

 

„Wir können den jungen Mann nicht kritisieren, denn wir sind nicht besser als er ... Alles dreht sich ums Geld. Das Ziel des Machtstrebens ist das Geld ... Die Geldgier macht uns blind und gleichgültig gegenüber all dem Elend, das die Armen und Schwachen betrifft. Wir bereichern uns auf Kosten der Schwachen und meinen dabei noch, Christen zu sein. Der Durst nach Geld stiehlt uns die Zeit, die wir für Gott haben sollten ...“[1] Dies ist nicht die Klage eines Christen im insgesamt reichen Deutschland, sondern ist der Predigt eines Theologen aus dem Kongo (früher Zaire), einem Land, in dem fast alle Menschen in tiefer Armut leben.

 

Der reiche Jüngling (Matthäus 19,16-26; Markus 10, 17-27; Lukas 18, 18-27), der traurig von dannen geht, weil er an seinem Reichtum hängt, er gehört zu den bemitleidenswertesten Gestalten in der ganzen Bibel. Jesus eröffnet ihm die Chance, sich gemeinsam mit ihm auf den Weg zum Reich Gottes zu machen, und der junge Mann, der gewissenhaft alle religiösen Gesetze eingehalten hat, schreckt davor zurück, sich von seinem Reichtum zu trennen. Jesus debattiert nicht mit ihm darüber, wie der junge Mann zu seinem Reichtum gekommen ist, ob er oder seine Eltern andere betrogen haben, ob sie sich zu willfährigen Helfern der römischen Besatzer gemacht haben ... Jesus fordert den reichen jungen Mann schlicht auf, alles, was er hat, zu verkaufen und ihm nachzufolgen.

 

Die Entscheidung für Gott oder Mammon

 

Immer wieder wird herausgestellt, dass es sich bei dem Nadelöhr, durch das ein Kamel gehen sollte, nicht um eine Nähnadel handelt, sondern um ein schmales Tor in der Stadtmauer von Jerusalem, so als würde dadurch die Radikalität der Botschaft Jesu relativiert. Aber dieses schmale Tor, durch das sich Menschen nach der Schließung des großen Tors zwängen konnten, reichte bei Weitem nicht aus, um ein Kamel durchzulassen. Das Kamel blieb vor dem Tor der Stadt, das wussten die Zuhörerinnen und Zuhörer Jesu. Und die Reichen blieben vor den Toren des Reiches Gottes, wenn sie versuchten, mit der ganzen Last ihres Reichtums den Weg in dieses Reich zu schaffen, soviel war der Zuhörerschaft klar. Entsprechend entsetzt waren die Menschen. Dabei waren die allermeisten von ihnen ganz arme Leute. Aber der ganze Ernst der Nachfolge Jesu wurde ihnen in dieser Situation bewusst.[2]

 

Gott oder Mammon, diese Frage stellt sich auch uns heute. Jesus beließ es nicht bei der drastischen Schilderung des verhängnisvollen Weges der Reichen. Er machte doch Hoffnung auf die Gnade Gottes. Alle Menschen sind auf diese Zusage der Gnade Gottes angewiesen, um mit Schuld und Verfehlungen zu leben. Diese Einsicht bewahrt davor, rechthaberisch und selbstgerecht auf andere Menschen mit der Messlatte des Evangeliums einzuschlagen. Aber gleichzeitig ist die Gnade Gottes kein Anlass, den Skandal der Kluft zwischen Arm und Reich nicht in seiner ganzen Schärfe beim Namen zu nennen. Es gilt, die Missstände dieser Welt mit den Maßstäben des Evangeliums zu betrachten und daraus Konsequenzen für das Leben, auch für das ökonomische Leben zu ziehen.

 

Jesus und der reiche Jüngling

 

Die Begegnung Jesu mit dem reichen jungen Mann hat eine soziale Dimension, aber sie ist auch eine Anfrage an jeden und jede von uns. Luise Schottroff hat dies beim Kirchentag 1995 so in Worte gefasst: „Mit der Radikalität der Forderungen Jesu den reichen Menschen gegenüber hat sich seit damals die Christenheit herumgeschlagen. Alle nur denkbaren Umdeutungen sind mit exegetischer Raffinesse erfunden worden, um den Anstoß zu beseitigen ... Die Aufregung von christlichen Menschen in Deutschland heute über Jesu Radikalität ist auch meine Aufregung. Die Geschichte vom reichen Jüngling regt mich auf, weil sie mich nicht in Ruhe lässt – schon lange nicht.

 

Ich will auch nicht alles verkaufen, was ich habe. Jesu Analyse des Reichtums trifft auch meine Existenz ... Aber Jesus hat den reichen Jüngling nicht aufgegeben und ist seiner Vision eines geheilten Lebens für alle Menschen treu geblieben.“[3] Es gibt im Neuen Testament eine ganze Reihe von Texten, die die Reichen davor warnen, ihr Vertrauen in ihr Vermögen statt in Gott zu setzen und die sie zur Umkehr auffordern. Deshalb kann kein Zweifel bestehen, dass die Verheißungen für die Armen und die Warnungen an die Reichen zum Kern dessen gehören, was Jesus gepredigt hat.

 

Die biblische Geschichte vom armen Lazarus

 

Zu den besonders drastischen Warnungen gehört das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lukas 16, 19-31). Lazarus lag vor dem Haus des Reichen und wäre mit den Brosamen zufrieden gewesen, die von dessen Tisch fielen, aber auch die wurden ihm verwehrt. Als Lazarus starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen, der Reiche hingegen kam nach seinem Tod in die Hölle. Angesichts seiner Qualen bat der Reiche Abraham, seine fünf Brüder zu warnen, damit sie nicht auch in die Hölle kämen, aber Abraham verweist darauf, dass Moses und die Propheten bereits die Warnungen ausgesprochen haben, ohne dass die Reichen darauf gehört hatten.

 

Bastiaan Wielenga, Professor am Tamilnadu Theological Seminary in Indien, schrieb zu diesem Gleichnis: „Für den reichen Mann, der starb, ohne vorher zu bereuen, ist es zu spät. Solche praktischen Veränderungen müssen vor dem Tod stattfinden. Das ist die Botschaft des Gleichnisses, die das Gegenteil von Opium ist. Für die Brüder des reichen Mannes, die noch leben, gibt es immer noch eine Möglichkeit. Alles hängt davon ab, ob sie bereit sind, auf ‚Moses und die Propheten’ zu hören. Lukas wiederholt diesen Hinweis, damit wir seine zentrale Bedeutung nicht überhören ... ‚Moses und die Propheten’ bezieht sich auf das soziale, wirtschaftliche und politische Leben der Menschen. Die Propheten haben Unrecht entlarvt und verurteilt ... Sie haben die natürlichen ‚Gesetze’ der wirtschaftlichen Entwicklung nicht akzeptiert. Sie akzeptieren Armut und wachsende Ungleichheit nicht als Teil des Lebens, sondern sie verurteilen sie als soziale Sünde.“[4]

 

Im Blick auf die Globalisierung und ihre Folgen sind drei Botschaften Jesu für die Reichen von zentraler Bedeutung. Eine große Kluft zwischen Arm und Reich ist ein Skandal, und dies zunächst einmal unabhängig davon, wie sie zustande gekommen ist. Ganz in der Tradition der Propheten des Alten Testaments fordert Jesus für die Armen Unterstützung ein und fordert die Reichen auf, sich nicht an ihren Reichtum zu klammern.

 

Lazarus und die heutige Globalisierung

 

Von daher ist die große Kluft zwischen Arm und Reich heute für Christinnen und Christen nicht hinzunehmen, und dies gilt unabhängig davon, ob man den Theorien vertraut, die den Reichtum als quasi naturgesetzliches Ergebnis des Agierens am Markt ansehen, also von der Frage der Gerechtigkeit lösen. Die Reichen stehen wie der reiche Jüngling vor der Frage, ob sie ihr Herz an ihr Geld hängen oder Jesus nachfolgen wollen, und sie stehen wie der reiche Mann vor der Frage, ob sie Lazarus „übersehen“ wollen oder den Armen und Hungernden dieser Welt helfen, und zwar gleich, nicht durch die Vertröstung darauf, dass die Segnungen eines freien Welthandels irgendwann allen zugute kommen würden.

 

Zweitens stellt Jesus die Frage nach der Gerechtigkeit, indem er an die Botschaft von Moses und den Propheten erinnert. Die Gerechtigkeit wird nicht auf eine abstrakte Weise dadurch hergestellt, dass alle am Markt im Prinzip die gleichen Möglichkeiten haben, sondern dadurch, dass denen zu ihrem Recht verholfen wird, die bei der Anwendung der „Gesetze“ des Marktes immer den kürzeren ziehen, die also keine Arbeit finden, unter Anwendung der Marktmacht der Arbeitgeber nur einen Hungerlohn erhalten oder die aus diesem Markt schlicht herausfallen, weil sie keine Kaufkraft besitzen, so zahllose Arme im Süden der Welt. Gerechtigkeit nach den Maßstäben Jesu (und der Tora) hat ein Ziel, nämlich allen ein Leben und zwar ein Leben in Fülle zu ermöglichen. Nach diesen Maßstäben ist die freie Marktwirtschaft im Weltmaßstab in den letzten Jahrzehnten auf klägliche Weise gescheitert.

 

Mögen die Verfechter neoliberaler Wirtschaftstheorien auch die Auffassung verbreiten, es sei gerecht, wenn das Marktprinzip sich ungehindert durchsetzen könne, nach den Maßstäben Jesu wird so der Ungerechtigkeit Tür und Tor geöffnet. Gerechtigkeit wird von ihm nicht abstrakt definiert, sondern aus der Perspektive der Armen betrachtet und erfahren.

 

Drittens, und das ist die hoffnungsvolle Botschaft, gibt es auch für die Reichen einen Weg zur Umkehr. Darin liegt aber auch eine Verantwortung der Christinnen und Christen. Die Bitte des reichen Mannes in der Hölle, seine Brüder zu warnen, ist auch eine Bitte an die, die Jesus nachfolgen. Sind wir bereit, die Reichen davor zu warnen, dass sie ihr Leben verfehlen, wenn sie sich für den Mammon entscheiden und den Armen vor ihrer Hausschwelle (oder in der Ferne) ignorieren? Es geht dabei selbstverständlich nicht um das Ausmalen von Höllenqualen, die Jesus in sein Gleichnis aufgenommen hat, um sichtbar zu machen, wie ernst die Lage ist, sondern um die Einladung zu einem Leben, das auf das Reich Gottes hin geführt wird, welches schon mitten in dieser Welt beginnt. Der Zollpächter Zachäus ist ein Beispiel dafür, dass es auch für die Reichen Hoffnung geben kann.

 

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Makanzu Mavumilusa: Die Mission und der Blumentopf, Wuppertal 1988, S. 71f.

[2] Luise Schottroff schrieb in einem Buchaufsatz hierzu: „Das Geld herrscht über uns, über unsere Herzen, über unsere Intelligenz, über unsere Körper, über unsere Beziehungen zu Menschen. Wenn uns das Evangelium erst aufmerksam gemacht hat, sehen wir auf einmal die Spuren dieser Herrschaft. Schon morgens wachen wir mit dieser Macht, die auf Tod aus ist, auf. Wir orientierten unser ganzes Leben am Erfolg, der in ökonomischen und gesellschaftlichen Kategorien gemessen wird.“ Luise Schottroff: Wider die Herrschaft des Mammon – Der lange Marsch durchs Nadelöhr, in: Hartwig Liebich (Hrsg.): Die Mülltonnen der Reichen und der arme Lazarus, Stuttgart 1982, S. 48

[3] Luise Schottroff: Der reiche Jüngling, Junge Kirche, 9/95, S. 484

[4] Bastiaan Wielenga: The rich man and Lazarus, in: Reformed World, September 1996, S. 111f.