Kairos-Dokument Indien – die Zeichen der Zeit erkennen und entschlossen handeln
Die Zuspitzung der politischen, sozialen und religiösen Konflikte in Indien hat eine Gruppe von Christinnen und Christen vor der Jahrhundertwende dazu veranlasst, ein indisches Kairos-Dokument zu erarbeiten. Das im Jahr 2000 veröffentlichte Dokument knüpft an das südafrikanische Kairos-Dokument an, das Mitte der 80er Jahre entstand und zu einem zentralen Kristallisationspunkt des kirchlichen Widerstandes gegen die Apartheid wurde. [1]
Im August 1999 fand ein Seminar mit etwa 40 Vertreterinnen und Vertretern sozialer Bewegungen, Wissenschaftlern und kirchlichen Persönlichkeiten in Ahmednagar im Bundesstaat Maharashtra statt, um über das geplante indisches Kairos-Dokument zu diskutieren. Zwei prominente Sprecher der Kairos-Indien-Bewegung, Bischof George Ninan und Dr. James Massey nahm in Referaten auf die religiöse, gesellschaftliche und politische Situation in Indien Stellung, unter anderem zum Hindufundamentalismus.
Die politische Führung des Bundesstaates ließ daraufhin Anklage gegen die beiden kirchlichen Persönlichkeiten erheben und gab der Polizei die Order, beide zu verhaften. Zwar wurden George Ninan und James Massey nicht festgenommen, aber der Vorfall macht deutlich, dass die politisch Mächtigen in Indien offenbar erkannt haben, welche gesellschaftliche Brisanz mit der Analyse von sozialen und politischen Missständen und der Formulierung von Widerstandstexten wie dem Kairos-Dokument verbunden ist. [2]
Inspiration durch das südafrikanische Kairos-Dokument
Das indische Kairos-Dokument wurde im Februar 2000 auf einer Konferenz in Delhi verabschiedet. Im Vorwort wird betont: „Wenn es in Südafrika die Apartheid war, die eine christliche Antwort herausgefordert hatte, so war auch in Indien eine vergleichbare Apartheid der Anstoß … Die schreckliche Institution und Praktizierung des Kastenwesens, sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft Indiens, ist genauso abstoßend wie es die Apartheid Südafrikas war.“
In der Einführung des indischen Kairos-Dokuments wird zum kirchlichen Auftrag in dieser Situation festgestellt: „Am Beginn des dritten Jahrtausends, dem großen Jubeljahr der Inkarnation, ist für die Kirche in Indien und für die weltweite Kirche die Zeit – der Kairos – angebrochen … Die Kirche in Indien wird vom Herrn zu einer dreifachen Aufgabe angehalten: erstens sollen wir in göttlicher Weise die ‚Zeichen der Zeit‘ lesen lernen, um Gottes Wort in heutiger Zeit zu hören; zweitens sollen wir überprüfen, ob wir in unserem Leben dem Bundesschluss verpflichtet sind (dem Ruf zur Umkehr); und drittens sollen wir uns der Förderung der Gottesherrschaft verpflichten, damit die ‚Fülle des Lebens‘ innerhalb der Reichweite alles Lebendigen, vor allem der Menschen, bleibt.“[3]
Als Schwierigkeit erwies sich für die Initiatoren des indischen Kairos-Prozesses, dass die Kirchen in der Vergangenheit die politischen und sozialen Veränderungsprozesse zu wenig analysiert hatten und schon von daher vor Probleme haben, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich wirkungsvoll für Gerechtigkeit in der Gesellschaft einzusetzen.
Die Facetten des Unrechts und die Kämpfe der Unterdrückten
Gemessen an der relativ klaren Konfliktlage in Südafrika zur Zeit der Apartheid erweisen sich die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Konflikte in Indien als deutlich komplexer. Die Ausbeutung und Ausgrenzung großer Bevölkerungsgruppen hat viele Facetten, die sich zudem im Zeitalter der Globalisierung rasch verändern. Daraus erklärt sich das große Gewicht, dass im indischen Kairos-Prozess auf die Analyse sozialer und politischer Strukturen und Entwicklungen gelegt wird.
Das umfangreiche erste Kapitel trägt den Titel „Gottes Sache in den Kämpfen der Unterdrückten“. Im Detail werden die sozialen Umwälzungen im heutigen Indien und der Widerstand gegen die fortbestehende Ausgrenzung und Ausbeutung analysiert. Dabei wird besonders ausführlich auf die soziale Situation der Dalits und der Adivasi eingegangen. Zur aktuellen Situation wird festgestellt: „Der Prozess der Globalisierung und Liberalisierung hat die Dalits und Adivasi in vielereil Elend gestürzt und die Kluft zwischen arm und reich noch vergrößert.“
Kritisch wird zur heutigen kirchlichen Situation festgestellt: „In der christlichen Gemeinschaft gibt es viele diskriminierende Praktiken, die nicht einmal vor dem Friedhof halt machen: Christen der verschiedenen Kasten werden in unterschiedlichen Bereichen beerdigt! Die Kastendiskriminierung dauert bis heute in der Kirche fort.“ Dem stellt sich eine erstarkende Dalit-Bewegung in der Kirche entgegen.
In einem weiteren Abschnitt des indischen Kairos-Dokuments geht es um die Diskriminierung von Frauen. Es wird diagnostiziert, dass Frauen nicht nur familiär und sozial krass benachteiligt werden, sondern auch im Wirtschaftsleben, etwa beim Landbesitz und Erbrecht. Dagegen hat sich ein wachsender Widerstand formiert: „In allen gesellschaftlichen Bereichen und auch in den Kirchen ist inzwischen ein neues Bewusstsein zu spüren, das die hoffnungsvollen Aufbrüche der Frauen trägt.“
In den folgenden Abschnitten werden die Diskriminierungen von Minderheiten und von prekär Beschäftigten (einschließlich Kindern) dargestellt, ebenso von all den Menschen, denen ihre Rechte vorenthalten werden. Dagegen haben sich Volksbewegungen gebildet, die vor allem von selbstbewussten Armen getragen werden. Solche Bewegungen sind heute besonders wichtig, weil die Armen sowohl unter dem Einfluss der Finanzmärkte als auch innergesellschaftliche Wirtschaftsprozesse leiden. So werden die staatliche Sozialprogramme noch weiter reduzieren.
Ein Augenblick der Krise und des Kampfes
Auf der Grundlage der ausführlichen Analysen wird im indischen Kairos-Dokument eine tiefgreifende Erneuerung von Gesellschaft und Kirche gefordert. Angesichts vielfältiger Krisen ist die Kairos-Zeit gekommen, der „Augenblick der Krise und Gnade, des Kampfes und der Chance – ja, einer günstigen Zeit, in der Gott eine Herausforderung an uns richtet“. Es ist eine günstige Zeit, um sozialen Wandel und soziale Gerechtigkeit herzustellen sowie Sozialstrukturen und Institutionen aufzubauen, die Leben für alle garantieren. Als Minderheit wird es für die Christinnen und Christen darauf ankommen, Brücken zu anderen Religionsgemeinschaften zu bauen.
Für den indischen Kontext werden als wichtigste Kairos-Forderungen genannt:
1. Beseitigung aller Kastendiskriminierungen,
2. Anerkennung der Kulturen der Adivasi,
3. Wiederherstellung von Gerechtigkeit in allen Bereichen menschlicher Beziehungen und Aktivitäten,
4. Wiederherstellung der unveräußerlichen Rechte aller Menschen,
5. Abschaffung der Geschlechterdiskriminierung,
6. Überwindung der Konflikte zwischen den Religionen,
7. Beschäftigung mit den Problemen des Fundamentalismus in den Religionen,
8. Abschaffung der Kinderarbeit,
9. Aufhebung der wirtschaftlichen Ungleichheit,
10. Unterstützung und Stärkung des säkularen und demokratischen Gesellschaftsgefüge,
11. Bemühen um die Heilung der Verletzungen und Wunden der Vergangenheit.
Die Zeit für ein gemeinsames kirchliches Handeln
Die Kirchen und Christen müssen, so das indische Kairos-Dokument, ihre Meinungsverschiedenheiten beilegen, gemeinsam handeln und die Zeichen der Zeit analysieren. In diese Rahmen müssten auch die verschiedenen Theologien einer kritischen Prüfung unterzogen werden: „Wir brauchen eine unseren Anliegen entsprechende Theologie, um einen festen Grund für unser entschlossenes Handeln zu haben.“
Da mit Kairos auch ein Aufruf zur Buße verbunden ist, sind die Kirchen gefordert, ihr eigenes Haus in Ordnung zu bringen: „Wir als Kirche sind aufgefordert, einen radikalen Geisteswandel zu vollziehen, damit die Frauen, die Dalits, die Adivasi, die Minderheiten, die Kinder und Jugendlichen sowie die Arbeiterinnen und Arbeiter mit Würde behandelt und ihre Rechte erhalten werden, um an der Fülle des Lebens teilhaben zu können, denn dieses wird verheißen, wenn der Kairos – der indische Kairos – sich erfüllt.“
Die Rezeption eines prophetischen Textes
Die Verfasserinnen und Verfasser des indischen Kairos-Dokuments hatten zur Jahrtausendwende die Hoffnung, dass das Dokument einen Prozess der Reflexion und der Selbstprüfung in den indischen Kirchen fördern würde. Die Kirchen haben bereits vor der Veröffentlichung des Kairos-Dokuments Schritte unternommen, um aus dem Ghetto von religiösen Gemeinschaften herauszukommen, die zwar viele Schulen, Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen betreiben, aber einen geringen Einfluss auf die Gesellschaft und ihre Veränderungsprozesse haben.
Die Kirchen haben sich für die Fragen von Gerechtigkeit und umfassender Entwicklung geöffnet, dabei aber oft die Konfrontation mit den politisch und wirtschaftlich Mächtigen vermieden. Auch haben sie nur zögernd damit begonnen, das kirchliche Leben und die kirchlichen Strukturen den Einsichten anzupassen, die sich theologisch mit Stichworten wie der Option für die Armen gut formulieren lassen. Die Adivasi, Dalits, Frauen und andere benachteiligte Gruppen in den Kirchen fordern inzwischen rasche und tiefgreifende Veränderungen auch in den Kirchen selbst ein. Dabei haben sie erste Erfolge erzielt, aber der Aufbruch zu einer Kirche, die die Einsichten einer prophetischen Theologie ernst nimmt, steht in den meisten Kirchen und Gemeinden noch aus.
Das Kairos-Dokument fordert hierzu heraus. Leider hat sie in großen Teilen der indischen Kirche nicht die erhoffte Resonanz gefunden. Ein Grund dafür ist, dass die sozial engagierten Christinnen und Christen zur Zeit der Abfassung und Veröffentlichung des indischen Kairos-Dokuments keineswegs mit einer Stimme sprachen und gemeinsam agierten.
Dafür ein Beispiel. In der Ausgabe Februar-März 2000 erschien im „National Council of Churches Review“ ein Beitrag zum Thema „The Kairos India – The New Millennium NCCI“[4] von K. Rajaratnam, einem auch in der weltweiten Ökumene angesehenen sozial engagierten Christen und zu dieser Zeit Präsidenten des Indischen Kirchenrates NCCI. Obwohl der Artikel etwa zur Zeit des Abschlusses des „Kairos India“-Prozesses erschien und es in seinem Beitrag um sehr ähnliche Inhalte wie in diesem Dokument ging, erwähnte Rajaratnam das Dokument in seinem Beitrag mit keinem Wort. Der Unterschied zum gemeinsamen Vorgehen der apartheid-kritischen Christinnen und Christen in Südafrika ist offenkundig und dürfte einer der wesentlichen Gründe dafür sein, dass das Dokument „Kairos India“ nur eine begrenzte Resonanz hatte.
Auch heute ist ein gemeinsames Engagement der einzelnen benachteiligten Gruppen in den Kirchen als auch der sozial engagierten kirchlichen Bewegungen erforderlich, um eine grundlegende kirchliche Erneuerung zu erreichen. Zwar stellen die Dalits, Adivasi, Frauen und anderen benachteiligten Gruppen die überwältigende Mehrheit der Kirchenmitglieder, aber der Status quo wird mit großer Hartnäckigkeit von denen verteidigt, die von ihm profitieren. Deshalb heißt es im letzten Kapitel des indischen Kairos-Dokuments: „Der Kairos beinhaltet auch den Aufruf zur Buße. Die Kirche kann die Menschen aber erst dann zur Buße auffordern, wenn sie ihr eigenes Haus in Ordnung gebracht hat … Wir als Kirche sind aufgefordert, einen radikalen Geisteswandel zu vollziehen“.
[1] Vgl. Rudolf Hinz/Frank Kürschner-Pelkmann (Hrsg.): Christen im Widerstand, Hamburg 1987
[2] Vgl. Frank Kürschner-Pelkmann: Kairos in Indien, EMW Informationen Nr. 122, September 1999
[3] Alle Zitate aus dem indischen Kairos-Dokument sind entnommen aus: Kairos Indien – Auf dem Weg zu einer egalitären, multireligiösen, gerechten und menschlichen Gemeinschaft, Delhi 2000, Kairos_Dokumente_Indien.pdf (ecunet.de)
[4] K. Rajaratnam: The Kairos India – The New Millennium NCCI, National Council of Churches Review, February-March 2000, S. 101ff.