Marien-Fenster in der Notre Dame-Kirche in Royan/Frankreich
Marien-Fenster in der Notre Dame-Kirche in Royan/Frankreich Foto: iStock.com/Smithore

Maria – von heutigen Frauen neu entdeckt

 

In den letzten Jahren haben evangelische und katholische feministische Theologinnen Ma­ria als Frau und als Verkünderin des Magnifikats neu wahrgenommen und eine neue Wertschätzung für sie entwickelt. Das war nicht immer der Fall. „So gut wie alle feministischen Theologinnen der ersten Generation standen dem Thema Maria überaus kritisch, ja ablehnend gegenüber“, schrieb die katholische The­o­login Sabine Pemsel-Maier 2007 in einem Zeitschriftenbeitrag.[1] Es gibt aber inzwischen verschiedene Ansätze, Maria neu zu verstehen, darunter das Bemühen, „Maria als Inbegriff und Symbol der Befreiung zu erschließen“.[2] Dies sei ein Anliegen, das feministische Theologinnen bei uns mit denen im Süden der Welt teilen. Zu den Vertreterinnen dieser feministischen Richtung zählt die Autorin unter ande­rem Do­ro­thee Sölle und die brasilianische Theologin Ivone Gebara. Es kann nicht überraschen, dass diese feministischen Theologinnen vor allem das Magnifikat als Lied der Befreiung verstehen. Dazu noch einmal Sabine Pemsel-Maier: „Das einfache Mädchen Maria wird durch ihr Protestlied zur prophetischen Frau aus dem Volk, Patronin der Unterdrückten und Bedrängten und Repräsentantin der Option Gottes für die Armen und Entrechteten.“[3]

 

Die 2011 verstorbene niederländische feministische Theologin Catharina J.M. Halkes hat bereits 1980 für ein positives Bild von Maria plädiert. Das hat für die Katholikin auch biografische Hintergründe und ist vor allem aufgrund ihrer positiven Marienerfah­rungen in der Kindheit in den 1930er Jahren zu verstehen. „Zwischen Kindergarten und Studentenzeit war mein Leben voll von Mariennamen und Marienbildern. Uns drei Schwes­tern wurde allen ‚Maria’ als dritter Name gegeben, und in vielen Zim­mern meines Elternhauses stand ein Marienbild, oft mit einer Kerze oder eine Blume davor.“[4] Ihre Mutter verehrte Maria, und das übertrug sich auf die Töchter. An Marienandachten in der Kindheit behielt Catharina Halkes auch als femi­nis­tische Theologin noch „ganz zarte und liebe Erinnerungen“.[5]

 

Als sie dann nach dem Zwei­ten Weltkrieg Theologie studierte, verblasste ihr Marienbild, denn in der da­maligen Theologie kamen die Jesusmutter und ihre Verehrung kaum vor. Erst als sie in den Werken ökumenischer Theologen wie Karl Rahner las, gewann sie ein neues Bild von Maria: „Meine Augen gingen endlich auf, und ich entdeckte die Maria der Evangelien als die erste Gläubige des Neuen Bun­des. Ich erinnere mich noch immer an meine Freude und Überraschung, aber auch meine Entrüstung, dass uns diese Maria nicht überliefert worden war.“[6]

 

Umso deutlicher fiel Catharina Halkes auf, dass an der Katholischen Fakultät Nimwegen die Jesusmutter weder in den Lehrveranstaltungen noch in Gesprächen der Studierenden irgendeine Rolle spielte. Das änderte sich, als sie selbst als Dozentin in Seminaren über Maria ein neues, feministisches Verständnis der verges­senen Jesusmutter vermittelte. In ihrem Buch „Gott hat nicht nur starke Söhne“, das zu einem richtungweisenden Werk europäischer feministischer Theologie ge­wor­den ist, schrieb Catharina Halkes 1980: „Ich hoffe darauf, dass wir aufgrund der Bibel und der Theologie, aber noch viel kosmischer und allum­fassender – auch mit Hilfe der Religionswissenschaft – eine Maria entdecken, die eine kraftvolle, pro­phe­tische und kritische Gestalt ist, die zur Befreiung aufruft, aber zugleich menschlich nahe sein kann, entspannt und voll Hingabe, weil sie nicht habsüchtig danach strebt, Macht zu erwerben, sondern einen Aspekt eschatologischen Seins darstellt, indem sie ihren Protest nicht fordert, sondern hinweist, nicht tadelt, sondern offenbart, nicht verabsolutiert, sondern offen bleibt, teilhabend an jener Fülle des Seins, dem sie so einzigartig verbunden ist.“[7]

 

Verschiedene Theologinnen erinnern inzwischen daran, dass das christliche Ma­ri­en­bild stark von nicht-christlichen Vorstellungen von einer Muttergöttin beeinflusst worden ist. Aber gibt es einen Weg zurück zum Mythos der Muttergöttin? Renate Wind, Professorin für Biblische Theologie an der Evangelischen Fachschule für Religionspädagogik in Nürnberg und u. a. Verfasserin einer Biografie von Doro­thee Sölle, warnt: „Kein einziger biblischer Text kann als Grundlage für den alten und neuen Marienkult herhalten. Die ‚andere Maria’, auf die wir uns heute neu besinnen, ist nicht die Neuauflage der Muttergöttin. Sie ist die Menschenfrau von Nazareth, die Mutter des Menschensohns.“[8] Und zum Lobgesang der Maria betont Renate Wind: „Das Magnifikat machte Maria zur Mutter der Armen und zum Zei­chen dafür, dass Gott seit den Zeiten des Mose und des Jesus auf der Seite der Unterdrückten sei. Das aber ist nur möglich, wenn Maria wirklich nichts anderes ist als das Mädchen aus dem Volk, die Frau aus Nazareth, deren ‚Niedrigkeit’ garan­tiert, dass der Messias von unten und nicht von oben kommt, dass die Herrschaft Gottes die alten Machtverhältnisse nicht fortschreibt, sondern umwirft.“[9]

 

Maria und das kirchliche und gesellschaftliche Engagement heutiger Frauen

 

Maria bleibt bis in die heutige Zeit eine Hoffnungsträgerin für sehr viele Christinnen und Christen in aller Welt, die versuchen, die Frau aus Nazareth neu zu verstehen. Viele Christinnen aller Konfessionen, die nach Emanzipation und Befreiung streben, haben Maria neu „entdeckt“, erkennen sie als Opfer der antiken Unterdrückung und Globalisierung und als inspirierendes Vorbild für das heutige Enga­ge­ment für eine andere Welt.

 

Die katholische Theologin Katja Heidemanns hat in einem Aufsatz über Maria im Spiegel der Glaubens- und Lebenserfahrung von Frauen im Süden der Welt betont, dass „die Maria des Magnifikats zur Schlüsselfigur der Spiritualität von Frauen in den kirchlichen Basisgemeinden Lateinamerikas geworden“ ist. Dabei geht es nicht um eine platte Instrumentalisierung der Jesusmutter in den Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Veränderungen, sondern Maria ist auch Vorkämpferin und Modell für eine neue Spiritualität.[10]

 

Besonders große Bedeutung hat Maria auch als Mutma­cherin im Kampf der lateinamerikanischen Basisgemeinden um eine umfas­sen­de Befreiung.[11] Im „Dictionary of Third World Theologies“ heißt es über Maria: „… Wenn die Armen und gläubigen Menschen Maria anrufen, ist dies ein Ruf der Suche nach Hoffnung. Maria ist Hoffnung, ist Mutter und Beschützerin, die ihre Kin­der nicht in Stich lassen wird. Das macht die Spiritualität der Menschen in Lateiname­rika und besonders der Marienspiritualität aus.“[12]

 

Die feministischen brasilianischen Theologinnen Ivone Gebara und Maria Bingemer betrachten Maria in der Perspektive des Reiches Gottes. Sie betonen, dass Jesus Nachdruck auf die Zeichen für die Nähe dieses Reiches gelegt hat und nicht auf seine Person. Der Reich-Gottes-Begriff zielt, so Gebara und Bingemer, auf seine gesamte Bewegung, an der Männer und Frauen aktiv mitwirken. Deshalb sei der Reich-Gottes-Begriff von erheblicher Bedeutung für die Mariologie: „Von ihm her lässt sich das Han­deln Marias in den verschiedenen Formen, unter denen es in der Schrift dargestellt wird, als ein Tun verstehen, das die Zeichen für die Gottesherrschaft aufscheinen lässt, als ein konkretes Tun, das die Gegenwart der Erlösung in der menschlichen Geschichte aufzeigt.“[13]

 

Das konkretisieren die beiden katholischen Theologinnen mit diesen Sätzen: „Ma­ria ist Verkünderin des Reiches, genauso wie Jesus und so viele andere Männer und Frauen. Jedes Handeln Marias, Jesu, der Propheten, der Apostel, Jünger und Jün­gerinnen läuft aufs Reich Gottes zu, auf dieses Neugeborenwerden inmitten der alten Menschheit.“[14] Aus einem solchen Verständnis heraus ist Maria nicht mehr nur die verehrungswürdige Mutter Jesu, sie ist „Arbeiterin in der Ernte des Reiches, aktives Mitglied in der Bewegung der Armen – genau wie Jesus von Nazareth“.[15]

 

Viele Frauen im Süden der Welt sehen in Maria eine Schwester, eine Frau, die Solidarität mit anderen Frauen, mit den Schwachen und Schutzlosen gezeigt hat, heißt es in einem Beitrag im „Dictionary of Third World Theologies“. Maria wird als Modell für eine wahre Jüngerschaft verstanden, die das Wort Gottes gehört und es dann angenommen und ins praktische Leben umgesetzt hat.[16] In Asien wird der Versuch unternommen, auf der Grundlage des alltäglichen Lebens die biblischen Texte über Maria neu zu lesen, schreibt Katja Heidemanns: „Die Maria, die im Magnifikat zur Prophetin ihrer eigenen Befreiung durch Gott wird, ermutigt Frauen in Südostasien, die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise ihrer Region in ihrem globalen Kontext zu analysieren und sich für die Umkehrung einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung einzusetzen, die auf fortgesetzter Unfreiheit und Un­­gleichheit beruht.“[17]

 

Die koreanische Theologin Sung-Hee Lee-Linke liest die Weihnachtsgeschichte bei Lukas so: „Durch diese Maria habe ich noch andere Bedeutungen von Weihnachten entdeckt. Weihnachten ist nicht nur ein Fest der Menschwerdung Gottes und ein Familienfest der Christen. Sondern es ist vor allem ein Dankesfest für die besondere Liebe Gottes zu den unterdrückten Frauen in die­ser Welt. Diese Liebe finde ich in der Tatsache, dass Gott für die Inkar­nation nicht eine Fürstentochter, nicht eine Ausgebildete, nicht eine Außergewöhnliche, nicht eine Schönheit auserwählt hat, sondern eine einfache Frau.“[18]

 

Auch in den europäischen Kirchen trägt die feministische Suche nach einem neuen Marienverständnis dazu bei, Gläubige zu grundlegenden Veränderungen in Kirche und Gesellschaft zu ermutigen. Elisabeth Tröndle, damals Leiterin des katholischen Hauses der Versöhnung in Teufen/Schweiz, hat dies 2000 in einem Zeitschriftenbeitrag mit diesen Worten zum Ausdruck gebracht: „In der feministischen Theologie wird aufge­zeigt, wie das tradierte Marienbild der katholischen Kirche integrierter Bestandteil des patriarchalen Systems ist. Gegen eine Marienverehrung, die Frauen auf Em­pfäng­nis, Mütterlichkeit, Biologie und Ge­horsam festlegen will, und in der nur ein weiblicher Stützpfeiler in der Männerkirche zementiert wird, sollten wir mit dem alten Protestruf der Maria protestieren, dass Gott die Niedrigen erhöht und alle Werte umkehrt.“[19]

 

Die frühere Hamburger Bischöfin Maria Jepsen hat beschrieben, wie sie einen neuen Zugang zur Jesus­mutter fand: „Durch die Befreiungstheologie Lateinamerikas wurde Maria mir in­ner­lich ver­trauter und lieber. Ich lernte sie zu verste­hen als kraftvolle Frau, die für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einsteht, die Ge­bor­genheit vermittelt, die andere ermutigt, sich gesellschaftlich zu engagieren. Die für die Schwa­chen und Unterdrückten steht, dafür, dass Ungerechtes so nicht bleiben darf. Maria war nicht mehr nur madonnenhaft und himmelsnah, sondern erd­verbunden und mit beiden Beinen auf dem Boden.“[20]

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

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