Wasser für Babylon
Als die ersten kleinen Nomadengemeinschaften östlich des Mittelmeers vor etwa 18.000 Jahren dauerhaft sesshaft wurden, war damit ein bedeutender Schritt in der Geschichte der Menschheit getan. Die ersten kleinen Siedlungen wurden im Verlauf von etwa 10.000 Jahren zu Dörfern und kleinen Städten. Hier entwickelten sich erste Formen des Ackerbaus sowie der Arbeitsteilung innerhalb von Gemeinschaften. Es ist kein Zufall, dass erste Städte in Mesopotamien entstanden, denn hier waren die Bedingungen für den Ackerbau besonders günstig. An den Ufern von Euphrat und Tigris war im Verlauf von Jahrtausenden ein fruchtbares Schwemmland entstanden, und das Flusswasser ließ sich für die Bewässerung der Felder nutzen. Im Norden Mesopotamien ermöglichten die Niederschläge einen Regenfeldbau, während im Süden eine Bewässerung mit dem Wasser der Flüsse unverzichtbar war.
Vor allem der Euphrat hatte ein flaches Flussbett. Dass das Land kaum höher als der Wasserspiegel war, erleichterte es den Ackerbauern, das Flusswasser für Bewässerungszwecke zu nutzen. Aber in dem flachen Schwemmland drohten stets Überschwemmungen oder eine Verlagerung des Flusslaufes. Erschwerend kam hinzu, dass die größte Menge Flusswasser im März und April durch Mesopotamien strömte, zu einer Zeit, wo das Getreide bald geerntet werden sollte und Überschwemmungen sich verheerend auswirken konnten. Deshalb waren neben dem Deichbau auch Maßnahmen zur Speicherung des Flusswassers für die Zeiten von Aussaat und Pflanzenwachstum unverzichtbar für einen ertragreichen Ackerbau.
Diese Wasserbaumaßnahmen erforderten und ermöglichten die Entstehung politischer Strukturen, die über ein Dorf oder eine Kleinstadt hinausreichten. Eine weitere Voraussetzung für die Gründung größerer Städte und Reiche war allerdings, dass die Landwirtschaft so hohe Überschüsse erzielte, dass eine wachsende städtische Bevölkerung zusätzlich ernährt werden konnte. Dazu trugen Neuzüchtungen von Getreidesorten wesentlich bei.
An den Ufern des Euphrat
Babylon war nicht die erste größere Stadt, die in Mesopotamien entstand, und blieb zunächst eine von vielen befestigten Städten, die miteinander in Konkurrenz standen und auch Kriege gegeneinander führten. Babylon profitierte von etwa 2000 v. Chr. an von erfolgreichen Feldherren und umsichtigen Herrschern, die die ökonomische Entwicklung der Stadt und ihres Umlandes systematisch förderten. Babylon wäre aber ohne die Lage am Euphrat nie zur Großstadt geworden. Der Fluss strömte mitten durch das Stadtgebiet und sein Wasser konnte für vielfältige Zwecke genutzt werden, so auch dafür, die Wassergräben der Verteidigungsanlagen der Stadt zu füllen.
Gleichzeitig war das Wasser nicht nur Segen, sondern immer auch eine Bedrohung. Angesichts der Überflutungsgefahr wurden viele Gebäude in Babylon etwas erhöht auf kleinen Erhebungen errichtet. Um Katastrophen zu verhindern, wurden Dämme aufgeschichtet und oberhalb der Stadt ein großer Euphrat-Stausee angelegt, in den überschüssiges Wasser, das die Stadt bedrohte, abgeleitet werden konnte. Um eine intensive Bewässerungslandwirtschaft zu betreiben, entstand ein Netz von Kanälen, die Felder, Dattelpalmhaine und Gemüsegärten mit Wasser versorgten. Es wurde vor allem Gerste angebaut, daneben andere Getreidearten sowie eine größere Auswahl an Gemüse und Obst. Zur Vielfalt der Ernährung der Bevölkerung trug auch der Fischfang bei. Der Euphrat, der durch Babylon floss, diente auch für den Transport von Lehmziegeln, Lebensmitteln und vielen anderen Gütern auf großen Lastkähnen.
Im Stadtgebiet von Babylon und in der Umgebung gab es eine größere Zahl von Gärten, nach antiker Überlieferung auch die Hängenden Gärten der Semiramis, die zu den sieben Weltwundern gezählt wurden. Der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus führte die Hängenden Gärten auf den König Nebukadnezar II. zurück. Er habe sie für seine aus Medien stammende Frau anlegen lassen, weil sie Heimweh nach den grünen Hügeln ihrer Heimat hatte. Es ist von begrünten Terrassen, überwucherten Säulengängen und vielen exotischen Blumen und Bäumen die Rede.
Die deutschen Archäologen um Robert Koldeway, die Ende des 19. Jahrhunderts begannen, nach Spuren der antiken Stadt zu graben, fanden beim Südpalast von Nebukadnezar II. die Überreste eines Gewölbebaus mit 14 überwölbten Räumen. Die Konstruktion aus gebrannten Ziegeln könnte stabil genug gewesen sein, um die Erdmassen und Bäume des Gartens zu tragen. Auch wiesen die archäologischen Funde gewisse Ähnlichkeiten mit den antiken Beschreibungen der Gartenanlage auf. Aber die ausgegrabene Anlage war bedeutend kleiner, als man das nach den antiken Darstellungen erwarten konnte, und lag zudem abseits vom Euphrat und seinem Wasser. Inzwischen hat die britische Archäologin Stephanie Dalley von der Universität Oxford viele Belege dafür gesammelt, dass sich die Gärten der Semiramis tatsächlich in der assyrischen Königsstadt Ninive befanden.
Unstrittig ist, dass es in Babylon beeindruckende Gärten gab, für die man Pflanzen aus der damals bekannten Welt holte. Die Gärten des Königs sollten ein Abbild der bewohnten Welt sein, um deren Schutz und Pflege sich der Herrscher von Babylon kümmerte. Die Gärten waren ein Symbol der Fruchtbarkeit, die das Land den Göttern und ihrem irdischen Vertreter, dem König, verdankte. Auch wird von großen Gärten der Tempel berichtet, die angelegt wurden, um die Götter jederzeit mit Obst und Gemüse versorgen zu können.
Die aus dem babylonischen Exil zurückgekehrten Juden haben in ihrer Heimat unbekannte Pflanzen wie die Rose aus Babylon mitgenommen, ebenso Kenntnisse über die Anlage und Pflege von Gärten. Der biblische Verfasser Kohelet hat die Anlage von Gärten im Jerusalem der Nachexilzeit so beschrieben: „Ich tat große Dinge: Ich baute mir Häuser, ich pflanzte mir Weinberge, ich machte mir Gärten und Lustgärten und pflanzte allerlei fruchtbare Bäume hinein; ich machte mir Teiche, daraus zu bewässern den Wald der grünenden Bäume.“ (Kohelet 2,4-6)
Eine Welt aus Lehm und Wasser
Auch wenn manche Babylonier „steinreich“ gewesen sind, reich an Steinen waren sie nicht. Im Schwemmland an Euphrat und Tigris waren Steine rar und wegen der langen Transportwege teuer. Deshalb wurden selbst Tempel und Paläste aus Lehm erbaut. Lehm als Baustoff hat einige Vorzüge, aber die Bauten waren meist nicht sehr langlebig. Ohne ständige Pflege drohten Lehmgebäude rasch zu verfallen. Und genau das war dann auch das Schicksal Tausender Gebäude des antiken Babylon.
Die Haltbarkeit wurde deutlich erhöht, wenn man gebrannte Lehmziegel verbaute. Aber hier kam ein weiterer Engpass im mesopotamischen Schwemmland ins Spiel, der Mangel an Holz. Es gab keine Wälder und nur wenige Bäume, sodass Holz zu den wichtigen und teuren Importwaren gehörte. Nur für besondere Bauten konnte man sich deshalb den Luxus leisten, Ziegel zu brennen.
Lehmziegel hatten den großen Vorteil, dass sie sich in der Umgebung Babylons problemlos und rasch herstellen ließen. Lehm gab es überall ausreichend, Wasser lieferte der Euphrat und Strohhäcksel war dank des Getreideanbaus ebenfalls verfügbar. Holzrahmen ermöglichten genormten Ziegel, die unter der Sonne über Babylon rasch trockneten.
Die Stadtmauern von Babylon bestanden aus mehreren Mauerringen und waren ein besonders eindrucksvolles Zeugnis der Lehmbaukunst. Sie wurden sogar zu den sieben Weltwundern gezählt. Die wichtigste Stadtmauer hatten in der Zeit des berühmten Königs Nebukadnezar II. eine Länge von 18 Kilometern und eine Höhe und Breite von jeweils 30 Metern. Wenn Babylon trotz seiner mächtigen Mauern erobert und zerstört worden war, konnten die Einwohner die stehen gebliebenen Reste der Lehmbauten einebnen und darüber neue Gebäude errichten.
Vor zweieinhalb Jahrtausenden entstand der imposante Stufenturm, über 90 Meter hoch und ebenso lang und breit. Die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel hat dafür gesorgt, dass das weithin sichtbare Gebäude bis heute in Erinnerung geblieben ist. Der Kern bestand aus Millionen getrockneter Lehmziegeln, umgeben von einer Schicht aus gebrannten Ziegeln, die verhindern sollten, dass sich das Bauwerk infolge von heftigen Regenschauern auflöste. Zusätzlich wurden die äußeren Ziegel mit Bitumen bestrichen, ein wirksamer Schutz gegen Niederschläge, solange die Konstruktion intakt blieb. Aber nachdem Babylon jede politische und wirtschaftliche Bedeutung verloren hatte, verfiel der Turm und die noch brauchbaren Lehmziegel wurden für neue Wohnhäuser genutzt. Kaum etwas ist vom Turm übrig geblieben, nur ein Wassergraben, der die ursprüngliche quadratische Form erkennen lässt, und eine Erhebung aus Lehm.
Mittlerweile droht das, was von Babylon noch vorhanden ist, im Grundwasser zu versinken und für immer vernichtet zu werden. Der Grundwasserspiegel hat sich u. a. durch die Bewässerungslandwirtschaft in der Umgebung in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht. Eine Priorität der archäologischen Arbeiten besteht inzwischen darin, die bisherigen Ausgrabungen vor der völligen Zerstörung zu bewahren. Dazu zählt die Stabilisierung einsturzbedrohte Mauern. Mit steigendem Grundwasserspiegel dringt stark salzhaltiges Wasser in die Fundamente der Mauern ein. Das Salz lässt die Ziegel zerfallen und verwandelt sie in Puder.
Was geblieben ist, sind neben archäologischen Funden vor allem biblische Texte
„Die du an großen Wassern wohnst und große Schätze hast, dein Ende ist gekommen, dein Lebensfaden wird abgeschnitten!“ (Jeremia 51,13) Keine andere Stadt wird in der Bibel so negativ dargestellt wie Babylon und keiner wird so häufig der Untergang prophezeit. Die Bibelstellen, wo neutral oder sogar positiv über die Stadt am Euphrat berichtet wird, sind rar.
Im Buch Sirach wird deutlich, wie stark der Wasserreichtum an Euphrat und Tigris die jüdische Exilbevölkerung beeindruckt haben muss. Es wird von Gott gesagt, dass er die Weisheit fließen lässt wie den Tigris im Frühling, und der Verstand „überströmt“ wie der Euphrat (vgl. Sirach 18,34-36). Auch kann daran erinnert werden, dass durch den Paradiesgarten, in dem Adam und Eva in einer biblischen Schöpfungsgeschichte lebten, der Euphrat und der Tigris flossen (vgl. 1. Mose 2). Auffällig ist zudem, welch große Rolle Wasser in jenen Büchern der Bibel einnimmt, die in Babylon entstanden oder dort stark bearbeitet wurden, also vor allem die fünf Büchern Mose und verschiedene Prophetenbücher.
Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Juden im Exil die Leben spendende Bedeutung des Wassers in den ausgedehnten Bewässerungssystemen der Landwirtschaft an Euphrat und Tigris kennengelernt haben. Aber sie erlebten vermutlich auch verheerende Flutwellen und Überschwemmungen oder hörten zumindest von ihnen. Die jüdischen wie die babylonischen Menschen fragten sich, wie der Schöpfer oder die Götter solche Katastrophen zulassen konnten. Sie haben darauf Antworten gefunden, die in ihrer jeweiligen Religion verankert waren. Die biblische Geschichte von Noah und seinem rettenden Kasten geht wahrscheinlich auf eine in verschiedenen Passagen ähnliche religiöse Geschichte der Babylonier zurück. Bemerkenswerterweise folgte in beiden Fällen auf die Flut nicht die Rückkehr zu paradiesischen Zuständen, sondern der alltägliche Kampf der Menschen in einer Welt, aus der das Böse nicht verbannt werden kann – und aus der die Menschen zusammen mit Gott/den Göttern einen besseren Raum zum Leben machen können. Und so werden am Ende aus den Katastrophenmythen doch Geschichten der Hoffnung.
Mehr Informationen über Babylon finden Sie hier.