Die babylonische Zeitrechnung wirkt bis heute nach

 

Wenn morgens mein Wecker klingelt oder ich mittags in letzter Minute die U-Bahn erreiche, dann orientiere ich mich noch immer an der Einteilung der Zeit durch die Babylonier. Sie knüpften dabei an die Himmelsbeobachtungen und astronomischen Berechnungen in Uruk an, einer bedeutenden historischen Stadt in Mesopotamien, die noch älter als Babylon war. Aber es waren die Babylonier, die die Zeitmessung so regelten, wie sie bis heute den Takt des Lebens bestimmt.

 

Die Messung und Einteilung von Zeit wurde zunächst vor allem für astronomische Zwecke eingeführt. Die Babylonier glaubten an einen direkten Zusammenhang von Sternkonstellationen und dem Geschehen auf der Erde. Sie waren überzeugt, dass die Götter durch die Konstellation der Sterne wichtige Nachrichten an die Menschen sandten. Das würden wir heute vielleicht Astrologie nennen, aber in Babylon war die Unterscheidung von Astronomie und Astrologie unbekannt.

 

Der Blick in den nächtlichen Himmel sollte helfen, Katastrophen zu verhindern

 

Wurden die Botschaften der Sterne richtig gedeutet, war es möglich, zukünftige Ereignisse vorherzusehen. Besonders wichtig war es, bevorstehende Sonnen- und Mondfinsternisse rechtzeitig zu erkennen, weil dann Zeiten großer Bedrohungen bevorstanden. Die Ordnung der Welt war gestört, und es musste zum Beispiel mit dem Tod eines Königs gerechnet werden.

 

Die babylonischen Astronomen und ihre Könige blickten aber nicht fatalistisch zum Himmel und sahen dann tatenlos zu, was auf sie zukam. Sie glaubten vielmehr fest daran, dass es möglich war, die Götter durch Opfergaben und Riten umzustimmen und drohende Katastrophen doch noch abzuwenden. Die Gruppen der Sternkundigen lieferten daher dem König mit ihren Beobachtungen und Berechnungen zum Lauf der Sterne auch gleich Empfehlungen, was zu tun war, um die Götter zu besänftigen.

 

Auch der Preis von Lebensmitteln, das Wetter und der Wasserstand des Euphrats standen nach babylonischer Überzeugung in Relation zum Lauf der Sterne. Rechtzeitige Vorhersagen waren also auch für das Alltagsleben von großer Bedeutung und entsprechend intensiv waren die babylonischen Astronomen damit beschäftigt, zuverlässige Vorhersagen für die Konstellation der Sterne und damit die Zukunft der Menschen zu machen.

 

Warum uns die Stunde schlägt

 

Dafür notierten sie Jahrhunderte lang akribisch alle Sternbewegungen und -konstellationen auf zahllosen Keilschrifttafeln und dies sogar noch im 1. Jahrh. n, Chr., als das babylonische Reich längst untergegangen war. Dafür war es unverzichtbar, den Tag und das Jahr in Zeiteinheiten zu unterteilen. Die babylonische Aufteilung des Tages in Stunden und Minuten hat sich heute weltweit durchgesetzt.

 

Die babylonische Stunde war zunächst doppelt so lang wie die heutige, war nach heutiger Messung also eine Doppelstunde. Deshalb hatten Nacht und Tag jeweils 6 Stunden. Jede Doppelstunde hatte 30 Minuten. Die babylonische Minute war damit ursprünglich vier Mal so lang wie unsere heutige. Erst in spätbabylonischer Zeit wurde der 24-Stunden-Tag eingeführt. Jede Stunde hat seither 60 Minuten und seit der Entwicklung genauerer Zeiterfassungsmöglichkeiten jede Minute 60 Sekunden. Der Tag der Babylonier begann übrigens bei Sonnenuntergang. Gemessen wurde die Zeit mit Sonnen- und Wasseruhren.

 

Die ursprüngliche Aufteilung des Tages in 6 Stunden war kein Zufall, sondern die Zahlen 6 und 60 hatten eine große Bedeutung in der babylonischen Mathematik und Religion. Diese Mathematik ist lange unterschätzt worden, weil wir an das Dezimalsystem gewöhnt sind. Aber die Babylonier rechneten virtuos auf der Basis ihres Sexagesimalsystems, und es sind auf Tontafeln mathematische Rechnungen mit bis zu 30-stelligen Zahlen überliefert. Die noch heute übliche Berechnung von Winkeln auf der Grundlage von 360 Grad ist eine Erinnerung an die weit entwickelten babylonischen Rechenkünste und ihre Vorliebe für die Zahlen 6 und 60 sowie alle Zahlen, die sich durch 6 teilen ließen.

 

Der Monat hatte bei den Babyloniern 29 oder 30 Tage, abhängig vom ersten Erscheinen der Mondsichel nach dem Neumond. Der Wechsel von Vollmond, Mondsichel und Neumond spielte eine wichtige Rolle im Glauben der Menschen. 12 „Ideal“-Monate mit jeweils 30 Tagen ergaben ein Mondjahr von 360 Tagen, also eine Zahl, die durch 6 teilbar war.

 

Tatsächlich waren, so beobachteten die babylonischen Astronomen selbstverständlich, nach 12 Mondmonaten zu 30 und 29 Tagen erst 354 Tage vergangen. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, die Mondmonate und das Sonnenjahr in eine gemeinsame Zeitberechnung einzubeziehen. Das Sonnenjahr hat bekanntlich 365 Tage plus sechs Stunden, ist also 11 Tage länger als 12 Mondmonate. Kalenderpassungen waren deshalb unverzichtbar, denn sonst wären die einzelnen Mondmonate im Laufe der Zeit durch das Sonnenjahr „gewandert“. Ein bestimmter Monat hätte also zum Beispiel einmal zur Aussaatzeit begonnen und einige Jahre später zur Erntezeit.

 

Damit die Monate zu einer vorhersehbaren Jahreszeit „angesiedelt“ blieben, schufen die Babylonier zusätzlich Schaltmonate, also Ausgleichsmonate. Die babylonischen Könige entschieden darüber, wann Schaltmonate eingefügt wurden, wobei sich 7 Schaltmonate innerhalb eines Zeitraums von 19 Jahren als optimal erwiesen.

 

Diese Kalenderregelung wurde von den Juden in der Zeit ihres Exils in Babylon adaptiert. Sie übernahmen die babylonischen Monatsbezeichnungen gleich mit, obwohl diese für die Babylonier untrennbar mit der Welt ihrer Götter und Sternbilder verknüpft waren.

 

Die Römer haben später die Kalendermonate von den Mondphasen gelöst und die 365 Tage des Sonnenjahres auf 12 Kalendermonate verteilt. Seit diesem „Julianischen Kalender“ ist nur noch alle 4 Jahre ein Schalttag erforderlich, um die 6 Stunden auszugleichen, die das Sonnenjahr länger als 365 Tage ist.

 

Tag und Stunde – nützlich auch für Wirtschaft und Verwaltung

 

Die babylonische Festlegung von Zeit- und Kalenderregelungen erwies sich auch für die Wirtschaft und Verwaltung des Landes als unverzichtbar. Ein solch großes Reich wäre kaum zu verwalten gewesen, ohne planen zu können, zu welcher Stunde eine Versammlung stattfinden sollte oder an welchem Tag bestimmte Güter beim Tempel abzuliefern waren. Auch für die Festlegung des richtigen Zeitpunktes für Aussaat und Ernte erwies sich der Kalender als sehr nützlich.

 

Die Fähigkeit, Zeit zu messen und Termine zu planen, hatte auch für das religiöse Leben eine große Bedeutung. Es war nun möglich, exakt festzulegen, wann welche Kulthandlung ausgeführt werden sollte. Die Tempel waren deshalb nicht zufällig die Zentren der Sternenbeobachtung und Zeiterfassung, und wahrscheinlich hat sich einer der astronomischen Beobachtungspunkte auf dem berühmten Turm von Babylon befunden.

 

Das historische Babylon ist längst im Wüstensand versunken, aber die auf den Zahlen 6 und 60 beruhende Einteilung der Zeit gehört zu den vielen „Erbstücken“ einer oft verkannten führenden antiken Wissenschaftsmetropole. Mehr über die Stadt am Euphrat und ihre spannende Geschichte erfahren Sie in meinem Buch „Babylon – Mythos und Wirklichkeit“.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann