Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Die Wiederentdeckung Babylons

 

In der Neuzeit wuchs das Interesse an Babylon wieder, aber die Berichte der antiken griechischen Schriftsteller wie Herodot und die wenigen Reiseberichte über die Reste von Babylon warfen mehr Fragen auf, als sie beantworteten. Es erschien schwierig bis unmöglich, sie in Beziehung zu den biblischen Texten über Babylon zu setzen. Der kluge Voltaire schrieb angesichts wilder Spekulationen über das antike Mesopotamien: „Ich gestehe, dass ich von den beiden Reichen Babylonien und Assyrien nichts begreife.“[1] Andere ersetzten wissenschaftliche Erkenntnisse durch viel Fantasie und wählten dafür gern das Bild vom „Sündenbabel“ als Ausgangspunkt.

 

Anfang des 19. Jahrhunderts unternahmen europäische Archäologen erste größere Grabungen im Mittleren Osten, vor allem in Palästina und in Mesopotamien. Im Auftrag der Britischen Ostindien-Kompanie, die in London ein archäologisches Museum eröffnen wollte, führte Claudius James Rich erste Grabungen in Babylon durch. Er beschrieb und zeichnete vor allem detailliert, was er noch von der einstigen Großstadt vorfand. Seine Buchveröffentlichung über die Ruinen von Babylon veranlasste weitere britische Altertumsforscher, sich auf den Weg nach Babylon zu machen. Die Funde von Rich, darunter die berühmte Nabonid-Stele und zahlreiche Tontafeln, sind heute im Britischen Museum ausgestellt, ebenso die Funde weiterer britischer Forscher.

 

Von 1852 an gruben auch französische Archäologen in den Lehm- und Schutthügeln von Babylon. Aber ihre Expedition wurde von Rückschlägen überschattet, bis hin zu einer Schiffskatastrophe, bei dem viele Funde für immer im Meer versanken. So wurden vor allem die britischen Grabungen fortgesetzt. Bald erkannten die Einheimischen der Umgebung von Babylon, dass sich mit den Keilschrifttafeln und Kunstgegenständen aus der Antike gutes Geld machen ließ. Bisher hatten sie nur nach gebrannten Ziegeln gegraben, die sich gut beim Hausbau wiederverwenden ließen, nun boten sie den Händlern eine größere Zahl von Tontafeln und andere Funde an.

 

Die englischen und französischen Forscher ihrerseits packten alles, was wertvoll zu sein schien, in Kisten und verschifften es nach Europa, wo es bis heute in Museen ausgestellt wird. Das Britische Museum verlor allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Interesse an Babylon und stellte dort alle archäologischen Grabungen ein. Dafür machten sich neue Archäologen mit großen Ambitionen auf den Weg nach Babylon.

 

Graben für die Weltgeltung

 

Ende des 19. Jahrhunderts strebte das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. auf allen Gebieten nach Weltgeltung. Dazu gehörte nicht nur eine große Kriegsflotte. Auch auf wissenschaftlichem Gebiet wollte man mit Großbritannien und Frankreich auf Augenhöhe konkurrieren. Es kam hinzu, dass Kaiser Wilhelm II. ein großes Interesse an archäologischen Themen und am Orient hatte. Deshalb war er sofort begeistert, als kurz vor der Jahrhundertwende deutsche Archäologen den Plan entwickelten, Babylon auszugraben.

 

Ausgangspunkt für das Projekt war ein Bericht des Architekten und Archäologen Robert Koldewey, der 1887/88 und ein Jahrzehnt später noch einmal Mesopotamien bereist hatte und anschließend dafür warb, Babylon und besonders den Palast von König Nebukadnezar auszugraben. Er gehörte 1898 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Orient-Gesellschaft, die dank vieler Einzelspenden, einer bedeutenden Spende des Kaisers und staatlicher Zuschüsse den Plan fassen konnte, eine Ausgrabungsexpedition nach Mesopotamien zu senden.

 

Robert Koldewey überzeugte die Kommission, die über das Ziel der Ausgrabungen entscheiden sollte, dass Babylon der viel versprechendste Ort für deutsche Grabungen war. Eine wichtige Rolle spielten dabei blau glasierte Ziegel, die er aus der Stadt am Euphrat mitgebracht hatte. Der Mythos Babylon und seine Bedeutung in der Bibel ließen ebenfalls diese Stadt als geeigneten Ort erscheinen, die deutsche Position in der internationalen Archäologie zu festigen. Mit der Leitung des Vorhabens wurde Robert Koldewey beauftragt, der bereits über Erfahrungen bei anderen Ausgrabungen verfügte. Ihm wurde vor der Ausreise sogar eine Audienz beim Kaiser gewährt.

 

Die Karawane des kleinen deutschen Archäologenteams erreichte am 22. März 1899 Babylon, und man begann sofort mit den Grabungen, die bis in den Ersten Weltkriegs ununterbrochen fortgeführt wurden. Grundlage für die Arbeit war eine Vereinbarung mit dem Osmanischen Reich über die Teilung der Funde der deutschen Archäologen. Um sich auf längere Grabungen in der abgelegenen Wüstenregion einzurichten, wurde zunächst ein geräumiges Expeditionshaus mit Wohn- und Lagerräumen errichtet. Auf dem ausgedehnten Grabungsgelände waren neben einigen wenigen deutschen Archäologen ständig etwa 200 bis 250 einheimische Arbeiter tätig. Robert Koldeway ließ sich, um die Arbeiten auf der bis dahin größte archäologische Grabung im Mittleren Osten überwachen zu können, ein Motorrad aus Deutschland kommen, damals noch eine große Seltenheit in dieser Region der Welt.

 

Die Erwartung an die Archäologen bestand in erster Linie darin, Skulpturen und andere antike Objekte für die im Aufbau befindliche Vorderasiatische Sammlung der Königlichen Museen in Berlin zu beschaffen. Es herrschte aber in Deutschland auch ein großes Interesse daran, mehr über jene Stadt zu erfahren, von der in der Bibel so häufig die Rede war und deren Bedeutung für die Entstehung der Zivilisation man zumindest ahnte.

 

Die Ausdehnung des antiken Babylons mit seiner Innenstadt von mehr als 2,5 Quadratkilometern Größe machte es, so wusste der realistische Robert Koldewey, völlig unmöglich, selbst in Jahrzehnten die ganze Stadt auszugraben. Deshalb konzentrierten sich die deutschen Archäologen zunächst darauf, die Topografie der Stadt zu erfassen, um sich anschließend auf einige besonders Erfolg versprechende Grabungsflächen zu konzentrieren. Um das zu finden, was vom antiken Babylon noch übrig geblieben war, musste eine Schicht von bis zu 24 Metern Sand und Schutt abgetragen werden, wozu sogar eine Feldbahn gebaut wurde.

 

Bald konnte von bedeutenden Grabungsergebnissen nach Berlin berichtet werden. Die Archäologen stießen auf die Reste der Prozessionsstraße, des gewaltigen Ischtar-Tores und des Palastes von König Nebukadnezar II. Allerdings stellte sich heraus, dass die antiken Lehmziegel stark von eindringendem Grundwasser geschädigt worden waren, wohingegen die sehr viel weniger zahlreichen glasierten Ziegel die Jahrtausende gut überstanden hatten. Von ihnen waren Tausende Exemplare und vor allem Bruchstücke erhalten geblieben, die in Holzkisten nach Berlin geschickt wurden.

 

Die Grabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Babylon waren aus deutscher Perspektive ein großer Erfolg. Neben spektakulären Einzelfunden gelang es den Archäologen vor allem, vieles über die Geschichte, die Architektur und das Alltagsleben in Babylon zu erfahren, eine Mammutaufgabe in einer antiken Stadt mit einer über 2.000-jährigen Geschichte, die immer wieder zerstört und neu aufgebaut worden war.

 

In Berlin machte sich allerdings eine gewisse Enttäuschung darüber breit, dass nicht mehr Skulpturen, Schmuckstücke etc. in den Kisten aus Babylon ankamen, die sich in Museen ausstellen ließen. Koldewey hingegen vertrat die Auffassung, kein Fund sei unbedeutend, und schon gar nicht so unbedeutend, dass man nicht akribisch notierte, wo man ihn gefunden hatte, und ohne dass er auf einer Zeichnung festgehalten wurde. Das setzte Maßstäbe für weitere archäologische Grabungen.

 

Ein Grundproblem archäologischer Forschung in mesopotamischen Städten besteht darin, dass diese vorwiegend mit ungebrannten Lehmziegeln errichtet wurden, sodass wenig von der einstigen Pracht übrig geblieben ist. Und das Wenige muss man abtragen, um zu älteren Schichten vordringen zu können. Babylon ist im Laufe der Jahrtausende etwa ein Dutzend Mal neu erbaut worden. Die deutschen Grabungen konzentrierten sich auf die Zeit von Nebukadnezar II., man entdeckte aber auch einige Spuren des Babylons zur Zeit von König Hammurabi aus dem 18. vorchristlichen Jahrhundert.

 

Was man auf dieser Grundlage über die Frühgeschichte der antiken Stadt erfahren könnte, ist bis heute unerforscht geblieben. Angesichts der Tatsache, dass in Babylon und anderen irakischen archäologischen Grabungsstätten kaum mehr als Erdhaufen zu finden sind, zitierte die „New York Times“ 2009 die US-amerika-nische Archäologin Elizabeth C. Stone mit dem Satz: „Man braucht eine besondere Art von Romantik, um die mesopotamischen Grabungsstätten zu lieben.“[2]

 

„Daniels Löwengrube“ – mit der Bibel unter dem Arm in Babylon

 

Viele Christen verfolgten die deutschen Ausgrabungen in Babylon mit der Hoffnung, dass die biblischen Geschichten über diese Stadt durch die Archäologen bestätigt würden. Robert Koldewey hat solchen Hoffnungen keine neue Nahrung gegeben – außer beim Besuch einer frommen britischen Reisegruppe, die von dem Archäologen über das Grabungsgelände geführt wurde. Um die Erwartungen der Besucher nicht ganz zu enttäuschen, bezeichnete er ein Grabungsloch, an dem man zufällig vorbeikam, als „Daniels Löwengrube“ und einen Ziegelschlackenberg als den Feuerofen aus der Danielgeschichte. Der Archäologe ging noch einen Schritt weiter, hat später sein Kollege Walter Andrae berichtet. Er ergriff einen zufällig daliegenden Ziegelstein mit einem Stempel von Nebukadnezar und erklärte den frommen Reisenden, die Textzeile sei ein Teil des berühmten Menetekels.

 

Als die Reisegruppe dankbar und beglückt abgereist war, kritisierten seine Mitarbeiter den Archäologen, aber Robert Koldeway antwortete: „Wieso? Wer glaubt, wird selig! Sollte ich ihnen die Freude nehmen und sie enttäuschen? Das wird bis an ihr Lebensende das Erlebnis für sie bleiben!“ Die Erwartung, irgendwo unter den Lehmbergen, tatsächlich Daniels Löwengrube zu finden, hatte Robert Koldewey nicht, dafür unterschied er zu deutlich Mythen und historische Wirklichkeit. Dennoch und gerade deshalb haben seine archäologischen Funde und ihre wissenschaftliche Auswertung uns sehr dabei geholfen, die biblischen Geschichten über Babylon besser zu verstehen und historisch einzuordnen.

 

Ein weiteres Mal ist Robert Koldewey auf die berühmte Geschichte von Daniel zurückgekommen, dieses Mal in einem Zeitungsbeitrag, in dem er 1910 über die Grabungen in Babylon schrieb: „Es ist merkwürdig und sehr eindrucksvoll, wenn Stätten, die Jahrhunderte lang der staunenden Diskussion der Welt aussichtslos unterlagen, jetzt in selbstverständlicher Wirklichkeit hervortreten. Dies ist wirklich der Saal, in dem der uns von Kindheit an bekannte, aber damals für uns nur in sagenhaftem Dämmer lebende Nebukadnezar thronte, Belsazar schlemmte. Auf den Dächern dieses Palastes standen der König und Daniel, als sie sich über die Vorzüge Marduks und Jahwes unterhielten. In diese Höfe bestellte Alexander seine Generäle und gab ihnen die letzten Befehle zur Eroberung der Welt. Hier krankte und litt er, und von hier aus ließ er sich täglich in den Tempel der Ninmach zum Opfer tragen!“[3]

 

Warum der Kaiser zur „Biesterkonferenz“ einlud

 

Zwei Schiffsladungen mit der „Ausbeute“ der Grabungen trafen 1903 in Berlin ein. Die 399 Kisten voller glasierter Steine und anderer Funde bildeten die schwergewichtige Grundlage für die heutigen Babylon-Schätze des Vorderasiatischen Museums. Wer heute das Museum besucht, steht vor allem staunend ehrfurchtsvoll vor dem Ischtar-Tor und der Prozessionsstraße, den beeindruckenden Zeugnissen babylonischer Baukunst und Berliner Rekonstruktionsfähigkeiten.

 

Es gab allerdings Streit über den Umgang mit den vielen Tausend glasierten Ziegeln und Ziegelbruchstücken. Die Archäologen in Babylon hatten noch intakte Reste des Tors und der Prozessionsstraße ausgraben können und machten sich die Mühe, jedes einzelne Fundstück zu nummerieren, in eine Papiertüte zu legen und zu verschnüren. Exakt wurde die jeweilige Fundstelle vermerkt. Das sollte es ermöglichen, die Stücke bei der Rekonstruktion des Tors, soweit es überhaupt noch möglich war, an der originalen Stelle zu platzieren.

 

Der Aufwand war umsonst, denn in Berlin wurden die Bruchstücke ausgepackt, entsalzt und dann in beliebiger Reihenfolge auf großen Tischen platziert, um für die Rekonstruktion einer Figur oder eines Wandstücks passend erscheinende Stücke auszuwählen und ggf. zurechtzusägen oder zurechtzuschleifen. Wo die Glasur fehlte, wurde die Stelle übermalt. So entstanden schön aussehende Wände und Tierreliefs, die aber aus zufällig ausgewählten Bruchstücken zusammengefügt wurden.

 

Als der Archäologe Walter Andrae, der engste Mitarbeiter Koldeweys, bei einem Deutschlandbesuch 1908 die Arbeiten begutachtete, war er entsetzt: „… Ich persönlich halte nämlich das Aneinanderschleifen der Stücke nicht für schön, weil es ein grausamer Eingriff ist, der nicht einmal eine gute Wirkung hervorzubringen scheint“.[4] Er forderte, die fehlenden Teile für den Betrachter erkennbar zu machen, statt sie zu übertünchen. Der Streit mit den Museumsleuten eskalierte, sodass sich schließlich der Kaiser zum Eingreifen veranlasst sah. Er berief höchstpersönlich die sogenannte „Biesterkonferenz“ am 14. Oktober 1908 ein, um zu klären, wie mit den Relieftieren (den „Biestern“) umzugehen sei. Walter Andrae konnte sich beim Kaiser mit seiner Auffassung auf ganzer Linie durchsetzen, aber das nützte ihm nicht viel, denn gleich nach seiner Abreise zurück nach Babylon wurde wieder kräftig gesägt, geschliffen und gemalt. Erst bei der letzten Lieferung, die 1927 das Museum erreichte, wurde mehr darauf geachtet, an welcher Stelle ein Bruchstück gefunden worden war und mit welchen anderen Bruchstücken es vermutlich zusammengehörte. Aber da waren die Arbeiten an Ischtar-Tor und Prozessionsstraße schon weit vorangeschritten.

 

Die Entdeckung der Reste des Turms

 

Trotz solcher Probleme war die archäologische Erforschung Babylons überaus erfolgreich. Und mit dem Glück der Tüchtigen gelang es den Archäologen kurz vor dem Ersten Weltkrieg sogar noch, den berühmten Turm – oder das, was davon übrig geblieben war – zu entdecken. Viel war von dem einst weit über Babylonien hinaus berühmten Bauwerk nicht mehr zu erkennen, aber es zählte vor allem, dass nun bewiesen war, dass es den Turm tatsächlich gegeben hatte. Es ist heute immer noch beeindruckend, was Robert Koldeway, seine deutschen Assistenten und die zahlreichen einheimischen Arbeiter in wenigen Jahren unter schwierigsten äußeren Bedingungen geleistet haben. Selbst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veranlasste sie nicht, die Grabungstätigkeit einzustellen. Erst 1917, als britische Truppen sich rasch Babylon näherten, wurden die Arbeiten eingestellt.

 

Robert Koldewey hatte annähernd zwei Jahrzehnte lang fast ohne Urlaub nicht nur in Babylon gearbeitet, sondern auch weitere deutsche Ausgrabungen in Mesopotamien betreut. Seine ausgezeichneten Arabischkenntnisse, seine Ausbildung als Archäologe und Architekt, sein Zeichentalent und seine enorme Hartnäckigkeit hatten ihn zum idealen Ausgrabungsleiter gemacht. Als er Ende des Ersten Weltkriegs nach Berlin zurückkehrte, waren viele berühmte Bauten und auch ganz gewöhnliche Wohnhäuser in Babylon lokalisiert und zum Teil ausgegraben worden. Man wusste nun unvergleichlich mehr über das Babylon in der Zeit von Nebukadnezar II. als zwei Jahrzehnte zuvor.

 

Auch hatte Robert Koldewey neue Maßstäbe für wissenschaftliche Ausgrabungen im Mittleren Osten gesetzt. So hatte er sich mit seiner Auffassung durchgesetzt, dass es nicht nur darauf ankommt, einige schöne Schmuckstücke zu finden, sondern dass es gilt, systematisch zu erfassen, wie die Menschen in früheren Zeiten gelebt haben. Die intensive archäologische Arbeit in Mesopotamien hinterließen Spuren. Alfred Lichtwark, der Direktor der Hamburger Kunsthalle, schrieb über eine Begegnung mit dem Archäologen bei dessen Deutschlandreise 1904: „Koldeway aus Babylon, ganz zum Araber geworden, er blickt, lächelt, gestikuliert wie ein Semit vom arabischen Typus …“[5] Etwas skurril und kauzig soll der Archäologe in all den Jahren in der Fremde geworden sein, wenn er zum Beispiel wiederholt in Anlehnung an eine indische Weisheit mit drohendem Finger verkündete: „Geh an der Welt vorüber, es ist nichts.“[6] Nach dem Tod des Archäologen am 4. Februar 1925 in Berlin schrieb sein Schüler Julius Jordan: „Koldewey war ein Einsiedler drüben am Euphrat und hier unter den vielen Leuten.“[7]

 

Beeindruckende Präsentation in Berlin

 

Nach dem Ersten Weltkrieg erreichten deutsche Museumsvertreter in schwierigen Verhandlungen, dass 1927 insgesamt 536 Kisten mit zurückgelassenen Fundstücken nach Berlin transportiert werden konnten. Jetzt wurde es möglich, mit Ziegelresten die Rekonstruktion des spektakulären Ischtar-Tores und der Prozessionsstraße abzuschließen. Dabei musste man sich den architektonischen Bedingungen des Vorderasiatischen Museums anpassen. Es war nur Platz für die Rekonstruktion des Vortores, das immerhin noch eine Höhe von 18 Metern hat. Von den 180 Metern der Prozessionsstraße in Babylon ließen sich nur 30 Meter in Berlin neu gestalten. Aber auch in dieser Form sind Tor und Prozessionsstraße mit den blau glasierten Ziegeln und den zahlreichen Tierfiguren überaus beeindruckend. Daneben sind heute zahlreiche babylonische Kunstwerke im Vorderasiatischen Museum auf der Berliner Museumsinsel zu bestaunen.

 

Das neu entstandene Museum in Bagdad erhielt nach dem Ersten Weltkrieg einen Teil der Funde der deutschen Grabungen, die nach dem Abbruch der Grabungen im Lande zurückgeblieben waren. Aber die wertvollsten Funde befanden sich schon in Berlin oder im Rahmen der Fundteilungen in der früheren osmanischen Hauptstadt Istanbul. Und was blieb nach den deutschen archäologischen Grabungen in Babylon selbst zurück? Reiner Luyken hat für die „Zeit“ 2009 die Reste der antiken Stadt besucht und diagnostiziert: „Nach knapp 20 Jahren hinterließ der vom Reich ausgesandte Archäologe ein seiner Kostbarkeiten entblößtes Gerippe. Er verpackte alles, was glänzte, in Kisten ... Der teutonische Gelehrte räumte gründlicher auf als alle anderen Schatzgräber seiner Zeit. In den an Kunstraub reichen Annalen der Altertumsforschung war sein Beutezug einer der dreistesten.“[8]

 

Meist ignoriert – die irakische Archäologie

 

Sie sind international bisher kaum beachtet worden, die irakischen Beiträge zur Erforschung der Geschichte von Babylon. Meist werden nur in Nebensätzen die irakischen Arbeiter erwähnt, die den europäischen Archäologen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts halfen, die Reste der Gebäude des antiken Babylons freizulegen und wertvolle Skulpturen, Tontafeln und Alltagsgegenstände zu bergen. Dabei ist vor allem der eigenständige Beitrag von Hormudz Rassam bei der Erforschung von Babylon nicht zu bestreiten. Er stammte aus einer christlich-chaldäischen Familie in Mossul und hatte sich als Assistent britischer Archäologen so große Kenntnisse erworben, dass er von 1879 an eigene Grabungen durchführen konnte.

 

Die Empörung über systematischen Raubgrabungen seiner Landsleute nach gebrannten Ziegeln, die sich für Neubauten in der Umgebung als Baumaterial verwenden ließen, und die Plünderung von Tontafeln und anderen wertvollen Gegenständen aus dem alten Babylon veranlassten Hormudz Rassam dazu, eigene Grabungen mit nur geringer finanzieller Unterstützung durch das Britische Museum durchzuführen. Er fand unter anderem den wertvollen Kyros-Zylinder, der heute im Britischen Museum ausgestellt ist.

 

Auch die von dem irakischen Forscher entdeckten Tontafeln besitzen heute einen großen Wert für die Erforschung der Geschichte und des Alltagslebens in Babylon. Hormudz Rassam, schreibt der britische Archäologe Jonathan Taylor, „erfuhr jedoch niemals die Anerkennung, die er verdient hätte. Er hatte, trotz der geringen Mittel, die ihm das Britische Museum zur Verfügung stellte, Großes geleistet.“[9]

 

Bei den deutschen Grabungen mussten die Einheimischen dann erneut die Hilfsarbeiten übernehmen. Eine eigenständige irakische Archäologie konnte sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickeln. In den Jahren 1979 und 1980 machten irakische Archäologen einen sensationellen Fund.[10] Es gelang ihnen, den Tempel des Gottes Nabu-scha-hare zu entdecken und durch eine umfangreiche Grabung wieder zugänglich zu machen. Der Tempel wurde auf Geheiß des assyrischen Königs Asarhaddon im 7. Jh. v. Chr. errichtet, nachdem sein Vater große Teile der Stadt Babylon und den Vorgängerbau des Tempels zerstören ließ.

 

Dieser Tempel in der Nähe der Prozessionsstraße passte allerdings nicht in das städtebauliche Konzept von König Nebukadnezar II. Er ließ alle religiösen Gegenstände aus dem Tempel holen und diesen dann sorgfältig mit Sand verfüllen und bedecken. Darüber wurde anschließend das von dem babylonischen König geplante Gebäude errichtet. Die Wände des Tempels blieben weitgehend erhalten, sodass das Gebäude von den irakischen Archäologen wiederhergestellt und mit einer neuen Holzdecke versehen werden konnte. Im Tempel war vor der Zuschüttung allerdings so gründlich „aufgeräumt“ worden, dass man nur noch Tontafeln von Keilschriftschülern fand, die damals nicht als erhaltenswert erachtet worden waren. Die irakischen Archäologen haben sie geborgen und an anderen Grabungsplätzen in Babylon zahllose Keilschrift-Tontafeln gefunden, von denen viele noch nicht entziffert worden sind.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 


[1] Zitiert nach: Babylon Mythos, a. a. O., S. 156.

[2] Zitiert nach: Steven Lee Myers: Babylons Ruins Reopen in Iraq, New York Times, 2.5.2009.

[3] Zitiert nach: Ralf-B. Wartke (Hrsg.): Auf dem Weg nach Babylon, Robert Koldewey – Ein Archäologenleben, Mainz 2008. S. 128.

[4] Zitiert nach: Ebenda, S. 130.

[5] Zitiert nach: Ebenda, S. 71.

[6] Zitiert nach: Ebenda, S. 158.

[7] Zitiert nach: Ebenda, S. 174.

[8] Reiner Luyken: Archäologie im Irak, Der Banausen-Bau von Babylon, Die Zeit, 25.7.2009.

[9] Jonathan Taylor: Die britischen Forschungsreisenden im 19. Jahrhundert, in: Babylon Wahrheit, a. a. O., S. 61.

[10] Vgl. Antoine Cavigneeauc: Irakische Ausgrabungen – Der Tempel des Nabu-scha-hare, in: Babylon Wahrheit, a. a. O., S. 79f.