Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Ein Turm für den Stadtgott

 

Kaum etwas ist von ihm übrig geblieben, nur ein Wassergraben, der die ursprüngliche quadratische Form erkennen lässt, und eine Erhebung aus Lehm. Vor zweieinhalb Jahrtausenden war der imposante Stufenturm über 90 Meter hoch und ebenso lang und breit. Der Kern bestand aus Millionen von getrockneten Lehmziegeln, umgeben von einer Schicht aus gebrannten Ziegeln, die verhindern sollten, dass sich das Bauwerk infolge von Regenschauern langsam auflöste. Zusätzlich wurden die äußeren Ziegel mit Bitumen bestrichen, ein wirksamer Schutz gegen Niederschläge, solange die Konstruktion intakt blieb.

 

Der Stufentempel Etemenanki von Babylon war einer von etwa zwei Dutzend solcher Tempeltürme oder Zikkurats in Mesopotamien sowie in Elam im Südwesten des heutigen Iran, von denen wir heute noch wissen. Die ersten dieser Türme entstanden schon im 5. Jahrtausend v. Chr. und hatten zwei bis sieben Stufen. Wie der Turm von Babel einmal aufgebaut war und ausgesehen hat, lässt sich am Tempel von Borsippa etwa 15 Kilometer südlich von Babylon noch erkennen, der zwar kleiner war, dafür aber besser erhalten geblieben ist. Weitere Zikkurats, „Göttertürme“, standen zum Beispiel in Ur, Assur und Uruk. Eine Inschrift an der Zikkurat von Borsippa von  Nebukadnezar II. besagt, dass der Turm „die Himmel erreichen“ sollte. Diese Botschaft erinnert an eine Formulierung in der biblischen Turmbaugeschichte, vielleicht ein Indiz dafür, dass sich die Verfasser des biblischen Textes näher mit den Türmen der Babylonier und ihrer Bedeutung beschäftigt hatten.

 

Nachdem ein Vorgängerbau des Turms von Babylon, der eventuell auf König Nebukadnezar I. zurückgeht, von assyrischen Eroberern zerstört worden war, ließ Nebukadnezar II. ihn neu errichten. Etwa 10.000 Arbeiter waren über Jahre damit beschäftigt, die Ziegel für den Tempelturm Etemenanki herzustellen und zu verbauen. Damit kein Chaos ausbrach, war – ähnlich wie bei den ägyptischen Pyramiden – eine ausgefeilte Arbeitsorganisation und Logistik erforderlich. Viele der Ziegelbrennereien befanden sich in weitem Umkreis der Stadt Babylon verstreut und mussten jeweils rechtzeitig die gerade benötigte Ziegelmenge anliefern. Da war es eine enorm große Entlastung, dass die Anweisungen per Keilschrift weitergegeben werden konnten. Drei bis sechs Jahre soll das Bauvorhaben gedauert haben, aber das ist nur eine grobe Schätzung.

 

Der Blickwinkel von Babyloniern und Juden auf den gewaltigen Turm war denkbar unterschiedlich. Für die Babylonier waren ihre Tempeltürme die Häuser der Götter, ein Ausdruck tiefen Glaubens an diese Götter, im Falle der Stadt Babylon an den Gott Marduk. Der sumerische Name des Tempels, Etemenanki, bringt zum Ausdruck, dass er das Fundament von Himmel und Erde war. Die Juden hingegen interpretierten den gewaltigen Tempelturm in Babylon als Versuch, Gott gleich zu werden und in den Himmel aufzusteigen.

 

Der Marduk-Tempel in Babylon war – nach unseren heutigen ästhetischen Maßstäben – wohl eher gewaltig als schön, ein monumentaler, durch den Bitumenanstrich schwarzer Turm. Einzig die oberste, die siebte Ebene glänzte in der Sonne, denn sie war mit blau glasierten Ziegeln verkleidet. Hier oben gab es prächtige Räume, in denen nach babylonischem Glauben der Stadtgott Marduk residierte, und dort nahm er auch Mahlzeiten ein, die die Menschen für ihn bereiteten.

 

Der benachbarte Marduk-Tempel Esagila war nach babylonischer Glaubensüberzeugung der Mittelpunkt der Welt, und zwar im umfassenden Sinne der ganzen Welt.[1] Denn es gab diesen Tempel nicht nur auf der Erde, sondern es existierten auch identische Tempel im Himmel für die dort wohnenden Götter und ebenso im Erdinneren für die dortigen Götter. Auf einer babylonischen Karte der Welt aus dem 6. Jh. v. Chr. steht der Tempel deshalb auch genau im Zentrum der damals bekannten Welt.

 

Dass nach dem Epos „Enuma elisch“ alle Götter den Tempel in Babylon zu ihrer Heimstatt gewählt hatten, veranlasste die Gläubigen, alle Götter in diesem Tempel zu verehren, wobei an der dominierenden Stellung von Marduk kein Zweifel gelassen wurde. Es gab viele Götter auf der Welt, aber sie alle erkannten Marduk als ihren  König an. Davon waren die Babylonier überzeugt. Und um dies plastisch sichtbar werden zu lassen, wurden verschiedene Reliquien aus dem urzeitlichen Kampf der Götter, aus dem Marduk siegreich hervorging, auf dem Tempelgelände ausgestellt, darunter die Waffen Marduks. Auf elf großen Bildern waren die Ungeheuer der Göttin Tiamat zu bestaunen, die Marduk besiegt hatte.

 

Nicht nur der Turm und der Tempel, sondern das gesamte Tempelgelände und besonders der „Sockel der Schicksalsentscheidungen“ im Vorhof des Esagila waren unverzichtbar für die Glaubenspraxis der Babylonier. Der Sockel markierte die Stelle, wo am Anfang allen Seins der Urhügel aus dem Meer geragt hatte und wo das Leben begann. Genau hier war der Nabel der Welt, glaubten die Babylonier. Christinnen und Christen werden diesen Glauben selbstverständlich nicht teilen, aber das muss sie nicht hindern, dem Glauben der Babylonier mit Achtung zu begegnen und wahrzunehmen, dass uns hier eine antike „Weltreligion“ entgegentritt. Auch andere Religionen, die weniger komplex und differenziert waren und sind als die „großen“ Religionen der Welt, sollte man nicht als „primitiv“ verachten.

 

Zum religiösen Alltag in Babylon gehörte unverzichtbar auch die persönliche Frömmigkeit der Stadtbewohner. Die Menschen glaubten, dass jeder und jede von ihnen von den Göttern zwei persönliche Schutzgeister zugewiesen bekommen hatte. Der männliche und der weibliche Schutzgeist gewährten aber keine Hilfe, wenn ein Mensch durch sein Fehlverhalten den Zorn der Götter auf sich gezogen hatte. Dann drohten Unglück, Krankheit und Tod. Deshalb wurden die vielen religiösen Reinlichkeits- und Speisegebote penibel eingehalten. War ein Mensch erkrankt, dann galt es, das harmonische Verhältnis zu den Göttern wiederherzustellen. Da kein Mensch unfehlbar war, kam es letztendlich darauf an, im Gebet um die göttliche Gnade zu bitten.

 

Das Neujahrsfest als religiöser und politischer Höhepunkt des Jahres

 

Die wichtigste Gelegenheit für die Stadtbevölkerung, am öffentlichen religiösen Leben teilzunehmen, war das alljährliche zwölftägige Neujahrsfest. Bei diesem Fest wurde die Verbindung zwischen der Glaubenswelt der Babylonier und dem politischen und gesellschaftlichen Leben in der Stadt und dem Reich bekräftigt und für alle Gläubigen erfahrbar. Das Fest wurde in der zweiten Märzhälfte gefeiert, wenn Tag und Nacht gleich lang waren. Bei diesem Fest wurde die dominierende Rolle von Marduk in der Götterwelt und unlösbar damit verbunden die hervorgehobene Rolle Babylons und seines Königs auf der Erde ausgiebig gefeiert. Jedes Jahr neu wurde der Schöpfungsakt und der Sieg Marduks über seine Feinde nachgespielt und zelebriert.

 

Zunächst wurden die Bilder aller Götter Babyloniens in Prozessionen in die Stadt Babylon gebracht. Die Götter, symbolisiert durch ihre Bilder, wurden in ihr Zuhause, den Tempel Esagila, getragen und versammelten sich dann auf dem „Sockel der Schicksalsentscheidungen“ um den Gott Marduk, dem sie – wie im Schöpfungsepos beschrieben – ihre Macht übergaben und sich ihm unterordneten. Es folgte eine große Prozession zum Neujahrsfesthaus außerhalb der Stadt, bei der alle Götter und der König von Babylonien den Gott Marduk begleiteten, der dort jedes Jahr aufs Neue die Göttin Tiamat und ihre Ungeheuer besiegte.

 

Nach dem Sieg Marduks kehrte die Prozession feierlich durch das Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße zurück zum Tempel Egasila in der Stadtmitte. Auf dem „Sockel der Schicksalsentscheidungen“ wurde im Verlauf des Festes Marduk erneut zum König der Götter erkoren. In Babylonien hat sich nie ein strenger Monotheismus herausgebildet. Marduk hatte unangefochten die führende Rolle unter den Göttern,    aber neben, genauer gesagt, unter ihm gab es andere Götter, die in einer der babylonischen Städte oder Regionen angebetet wurden. Religionsgeschichtlich kommt darin zum Ausdruck, dass Babylon das politische und vor allem das religiöse Zentrum des babylonischen Reiches bildete, dass es daneben aber selbstbewusste Städte mit langer Geschichte und alten religiösen Traditionen gab.

 

Statt deren Stadtgötter konfrontativ durch Marduk zu ersetzen, zogen die Könige und die führenden religiösen Denker Babylons es vor, diesen Göttern einen Platz im Götterhimmel einzuräumen, aber sicherzustellen, dass Marduk als König der Götter anerkannt wurde. Es gab einige theologische Denker unter den Marduk-Priestern von Babylon, die alle Götter zu einem einzigen Gott verschmelzen wollten. Aber durchgesetzt haben sie sich nicht. Vermutlich spielten machtpolitische Gesichtspunkte bei der Ablehnung solcher theologischer Überlegungen eine Rolle, denn ein „Einschmelzen“ der Stadtgötter und all der anderen Götter in Babylonien hätte sicher massiven Widerstand ausgelöst. Im Volksglauben war ohnehin kein Platz für solche theologischen Überlegungen, sondern man verehrte eine Vielzahl von Göttern, an deren Spitze man sich Marduk vorstellte. Es ist also kein Zufall, dass in dem Vielvölkerreich Babylonien kein monotheistischer Glaube entstanden ist, sondern viele Götter angebetetet werden konnten, solange die dominierende Rolle von Marduk und seines irdischen Vertreters, des Königs, nicht infrage gestellt wurde.

 

Im Rahmen der Neujahrszeremonie musste der König vorübergehend die Insignien seiner Macht ablegen und demütig seine Vergehen des zurückliegenden Jahres sühnen. Dafür schlug ihn der oberste Priester mit solcher Wucht ins Gesicht, dass Tränen flossen. Erst nach dieser Demütigung wurde der König von Marduk und den anderen Göttern in seinem Amt bestätigt und erhielt von den Priestern in Vertretung der Götter erneut die Insignien seiner Macht überreicht. Die Gnade der Götter wurde einem König also nicht auf Lebenszeit gewährt, sondern musste jedes Jahr neu demütig entgegengenommen werden.

 

Der Tempel als Wirtschaftsunternehmen

 

Da die Tempel von den Babyloniern als Wohnort der dort verehrten Gottheiten angesehen wurden, galt es nicht nur, in der Tempelanlage Esagila, dem „Haus“ des Gottes, und dem benachbarten Turm Etemenanki luxuriös ausgestattete Wohnräume für den Gott Marduk bereitzuhalten, sondern auch täglich zwei reichhaltige Mahlzeiten für ihn zuzubereiten. Für das Wohlergehen der Götter zu sorgen, galt schließlich als eigentlicher Existenzgrund der Menschen und Legitimationsgrundlage der Könige. Der Altorientalist Stefan M. Maul hat dazu geschrieben: „Vor allem in Babylonien prägte die Aufgabe des Königs, die Götter zu versorgen, so sehr das Bild des Königtums, dass babylonische Königsinschriften anders als assyrische so gut wie nie von Krieg und Eroberung sprechen, sondern fast ausschließlich die Sorge des Königs um die Götter schildern.“[2] Zur Speisefolge mussten auf jeden Fall Schafe und Stiere, Vögel und Fische gehören. So wurde durch die dargebotenen Tiere deutlich, dass Marduk der Herr über Erde, Himmel und Meer war – und dass sein Haus in Babylon die Verbindung zwischen allen Dimensionen der Welt manifestierte.

 

Es gab in jedem größeren Tempel Babyloniens einen Hofstaat für den angebeteten Gott und dies natürlich besonders im Marduk-Tempel im Zentrum von Babylon. Dieser Tempel verfügte nicht nur über Küchen- und Hauswirtschaftsräume, sondern auch über ausgedehnte Felder und Viehweiden, um einen großen Teil des Lebensmittelbedarfs selbst decken zu können. Daneben waren die einzelnen Städte des Reiches verpflichtet, regelmäßig Lebensmittel an den Tempel in Babylon zu liefern, die akribisch abgerechnet wurden. Die Weigerung, zur Nahrungsmittelversorgung des Gottes Marduk beizutragen, kam einem Aufstand gegen die babylonischen Autoritäten gleich und wurde entsprechend geahndet. Umgekehrt bildete die Einhaltung der Verpflichtungen gegenüber Marduk die Grundlage für die Stabilität der Beziehung der Menschen zu ihrem Gott und indirekt für das Wohlergehen des gesamten Gemeinwesens.

 

Nun fragt man sich vielleicht: Was wurde aus all den Nahrungsmitteln, die für die Götter bestimmt waren, die sie aber im materiellen Sinne nicht verspeisten? Hierfür fanden die Babylonier eine originelle Lösung. Die „Reste“ der Speisen (faktisch also die gesamten Speisen) wurden nach den Mahlzeiten der Götter dem königlichen Hof, den Priestern und den höheren Tempelbeschäftigten überlassen, sodass deren Ernährung mit dieser „Götterspeise“ gesichert wurde.

 

Der Marduk-Tempel und die weiteren Tempel von Babylon waren in heutiger Terminologie wichtige „Wirtschaftsfaktoren“ für die Stadt. Es entstanden hier zahlreiche Arbeitsplätze und der Strom von Nahrungsmitteln für die Versorgung der Götter (und damit indirekt eines Teils der Bevölkerung) erhöhte die Wirtschaftskraft der Stadt. Ähnliches galt übrigens auch für Jerusalem, wo die Abgaben und Opfergaben der Juden aus Juda und Galiläa sowie aus der Diaspora ganz wesentlich zum wirtschaftlichen Wohlergehen der Stadtbevölkerung beitrugen.

 

Die große Wirtschaftskraft und die Kontrolle über bedeutende landwirtschaftliche Flächen, die zum Teil verpachtet wurden, waren für die obersten Priester des Marduk-Tempels mit einer beachtlichen gesellschaftlichen und politischen Machtposition verbunden. Das zeigte sich nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen der Priesterschaft mit dem letzten babylonischen König Nabonid, der die Macht der Priester einschränken wollte und der nicht zuletzt als Folge dieses Konflikts seine Macht verlor, wie noch dargestellt werden wird. Allerdings besaßen die Könige umgekehrt auch einen großen Einfluss auf die Tempel, denn sie besetzten die leitenden Positionen nach Belieben und konnten das Vermögen der Tempel vergrößern oder verkleinern.

 

Es verfiel der Turm – dann die Stadt

 

Nach der Eroberung Babylons durch die Perser, soll bereits hier erwähnt werden, verfiel der Turm von Babylon allmählich und verwandelte sich in einen gewaltigen Schutt- und Matschberg. Viele gebrannte Ziegel fanden Abnehmer in der Stadtbevölkerung, und die nun schutzlosen Lehmziegel des Turmkerns verwandelten sich mit jedem Regenschauer mehr in eine Lehmschicht.

 

Aber der Turm sollte eine neue Chance bekommen. Als Alexander der Große die Stadt Babylon erobert hatte, war er sich des Mythos bewusst, der diese große und historisch bedeutende Stadt immer noch umgab. Deshalb beschloss er, sie zur Hauptstadt seines Weltreiches zu machen. Dafür wurde ein gewaltiges Bauprogramm entworfen, das eines Weltherrschers würdig sein sollte. Zu den Vorhaben gehörte der Wiederaufbau des Turms. Zunächst einmal galt es, Schutt und Lehmberg zu entfernen. Aber als 10.000 Soldaten noch mit dieser Aufgabe beschäftigt waren, starb Alexander der Große. Der Streit um sein Erbe und die anschließende Aufteilung seines Reiches in drei Teile brachten die Bauarbeiten zum Erliegen. Als die deutschen Archäologen Ende des 19. Jahrhunderts auf das stießen, was vom Turm übrig war, fanden sie nicht mehr als einen Lehmhügel – und den Mythos vom Turm von Babel.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Zum Glauben der Babylonier, der Bedeutung Marduks und seines Tempels vgl. u. a.: Stefan M. Maul: Die Religion Babyloniens, in: Babylon Wahrheit, a. a. O., S. 167ff.

[2] Stefan M. Maul: Den Gott ernähren, Überlegungen zum regelmäßigen Opfer in altorientalischen Tempeln, in: E. Stavrianopoulou u. a. (Hrsg.): Transformation in Sacrificial Practices, Berlin 2008, S. 78.