Vom Umgang mit den Menschen, die in Unrechtsstrukturen verfangen sind

 

Es wurde bereits erwähnt, dass die Zöllner, von denen im Neuen Testament die Rede ist, Zoll- und Abgabenpächter waren, die im Auftrag der Römer Zölle und Abgaben eintrieben und nicht schlecht davon lebten.[1] Die Einstellung zu diesen Menschen wird in der Formulierung „Zöllner und Sünder“ deutlich, die an mehreren Stellen im Neuen Testament zu finden ist (Matthäus 9,10-11, Markus 2, 15-16 und Lukas 5, 30).

 

Der Zollpächter (genauer vermutlich Abgabenpächter) Zachäus, von dem Lukas im 19. Kapitel berichtet, war also nicht nur Kollaborateur, sondern er bereicherte sich zudem auf Kosten seiner Landsleute. Um dieses Amt bei einer Versteigerung zu erlangen, musste der Zollpächter bereits über ein kleines Vermögen verfügen. Außerdem waren die Römer daran interessiert, diese Aufgabe an Männer zu verpachten, die über ein nennenswertes Vermögen verfügten, das im Falle der Nichterfüllung der Aufgaben eingezogen werden konnte. Zachäus war also vermutlich ein vermögender Mann, aber zugleich jemand, der von seinen Landsleuten gemieden wurde, und besonders natürlich von jenen, die auf eine baldige Befreiung ihres Landes hofften und die Jesus nachfolgten, weil sie große Erwartungen in ihn setzten.

 

Dass Jesus ausgerechnet diesen Zoll- und Abgabeneintreiber ansprach und in sein Haus ging, war aus der Sicht patriotisch gesinnter Juden ein Skandal. Im Lukasevangelium ist überliefert, dass die Leute murrten. Aber Jesus hatte sich nicht geirrt. Indem er mit Zachäus sprach und ihn besuchte, brach er dessen selbst geschaffene Isolierung auf. Und Zachäus reagierte nicht nur freudig, sondern entschloss sich, seinem Leben eine neue Richtung zu geben: „Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich vierfach zurück.“ (Lukas 19,8)

 

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es durchaus üblich war, dass die Zoll- und Abgabenpächter viel mehr kassierten, als rechtens war und die Differenz für sich behielten. Es ist also davon auszugehen, dass Zachäus sich von einem Augenblick auf den anderen zum armen Mann gemacht hatte.

 

Jesus vertraute darauf, dass auch Menschen, die in das Unrecht des herrschenden Systems verfangen sind, die Möglichkeit zur Umkehr haben und diese Möglichkeit auch wahrnehmen. Es heißt zum Abschluss dieses Berichts bei Lukas: „Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Lukas 19,9-10)

 

Jesus setzte ein grenzenloses Vertrauen in die Menschen, traute ihnen zu, sich aus Unrechtsstrukturen zu befreien. Er wusste, dass die Beteiligung am römischen System der wirtschaftlichen Ausbeutung zu einer Zerstörung der Bindungen im eigenen Volk führt. Deshalb betonte er nach der Umkehr des Zachäus, dass dieser Teil des Volkes sei, das auf Abraham zurückging. Er verschwieg aber auch nicht, dass er die Beteiligung des Zolleintreibers am römischen System verurteilte, und nannte die Menschen, die sich daran beteiligten, verloren.

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Michael Ernst: „... Er war der oberste Zollpächter und war sehr reich“, in: Füssel/Segbers, Luzern und Salzburg 1995, S. 160ff.