Biblische Geschichten erzählen – der andere Zugang zur Bibel

 

„Damit der Glaube lebendig bleibt, muss davon erzählt werden. Er wird weitergegeben durch Erzählungen der großen gemeinsamen Geschichte, die das Volk mit seinem Gott erlebt hat. Glaube entsteht durch Gotteserfahrung und durch das Teilen dieser Gotteserfahrung.“ So beschreibt die katholische Alttestamentlerin Elisabeth Birnbaum die Bedeutung des Erzählens für den Glauben in der Zeitschrift „Bibel heute“ (3/2016). Schon die Bezeichnung „Erzählungen“ macht den Ursprung vieler biblischen Texte deutlich. Sie wurden zunächst erzählt und so zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses und erst später aus der Erinnerung aufgeschrieben.

 

Die ersten Gemeinschaften und Gemeinden, die in biblischen Zeiten die Geschichten und Gebote hörten und weitergaben, waren also Erzählgemeinschaften. Sie machten sich anschließend gemeinsam auf den Weg, um das Gehörte weiterzuerzählen und sich im eigenen Leben an dem zu orientieren, was sie durch die Erzählungen erfahren hatten. Ohne diese Erzähltradition hätte das Volk Israel die Katastrophen seiner langen Geschichte nicht überlebt, und auch die kleinen verfolgten Gruppen, die Jesus nachfolgten, wären nicht zur Keimzelle der heutigen global präsenten christlichen Kirchen geworden.

 

Am Beispiel des Senfkorns

 

Die meisten Verfasser biblischer Texte haben ihre Einsichten über den Weg Gottes mit den Menschen nicht in fundamentaltheologische Ausführungen gepackt, sondern vor allem in Geschichten vermittelt. Auch Jesus, da stimmen alle vier Evangelien überein, hat seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit Geschichten und Gleichnissen nahegebracht, wie sie sich aus dem Glauben heraus mit vielen anderen gemeinsam auf den Weg zum Reich Gottes machen konnten.

 

Professor Joachim Kügler machte in der erwähnten Ausgabe von „Bibel heute“ am Beispiel des Gleichnisses vom Senfkorn (Markus 4,30-32) deutlich, wie Jesus die Menschen ermutigt hat, die anscheinend nur kleinen Anzeichen von der Königsherrschaft Gottes ernst zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass die neue Weltordnung Gottes im Entstehen ist. Dazu benutzt er die Erfahrung der einfachen Landbevölkerung, die immer wieder erlebte, wie aus einem kleinen Senfkorn eine große Pflanze entstand. Jesus „verbindet die endgültige Vollendung der Weltherrschaft Gottes mit der Gegenwart und zwar mit dem schmutzigen und mühsamen Leben der Arbeiter und Bauern, mit dem Leiden der Kranken und Besessenen. Zum anderen sagt Jesus damit auch, dass das Reich Gottes eben nicht nur Zukunftsmusik ist. Es hat in der Gegenwart schon begonnen. Im Senfkorn-Modus, also klein und unscheinbar – aber immerhin, es hat begonnen!“

 

Im Zeitalter der Globalisierung mit gewaltigen Finanz- und Warenströmen, die sich gewiss nicht an den Werten und Maßstäben des Reiches Gottes orientieren, sind die kleinen Senfkörnern für eine ganz andere Globalisierung von unschätzbarem Wert. Sie müssen deshalb gehegt und gepflegt werden.

 

Erzählungen können das Leben verändern

 

Wird etwas erzählt, gut erzählt, ist es leicht, sich mit den handelnden Personen zu identifizieren, mit ihnen zu leiden, mit ihnen zu hoffen und mit ihnen zu glauben. Manche Christinnen und Christen erinnern sich immer noch gern daran, wie im Kindergottesdienst die biblischen Geschichten so spannend erzählt wurden, dass man sich mit David, Daniel und Maria identifizierte und inständig hoffte, die Geschichte möge ein gutes Ende nehmen.

 

Aber auch Jugendliche und Erwachsene hören gern gut erzählte Geschichten und diese stärken ihren Glauben mehr als so manche Bibellesung mit anschließender Auslegung, selbst wenn die auf soliden theologischen Kenntnissen aufbaut. Das der griechische Ursprung des Wortes Exegese, exegeomai, sowohl „auslegen“ als auch „erzählen“ bedeutet, kann uns ins Nachdenken darüber bringen, wie wir den Menschen biblische Texte nahebringen.

 

Mechthild Alber, katholische Theologin und Bibelerzählerin, hat in der Zeitschrift „Bibel heute“ geschrieben, wie ihr eigenes Verhältnis zu Bibel durch das Erzählen verändert hat: „Durch das Theologiestudium und eine hauptsächlich intellektuelle Beschäftigung mit der Bibel habe ich meine ursprüngliche Fähigkeit zur Einfühlung immer mehr vergessen. Diese erste Naivität. Im Erzählen finde ich zu einer zweiten Naivität. Ich nehme die Geschichten wieder intensiver und konkreter vor meinem inneren Auge wahr und lasse mich von ihrer inneren Dramatik herausfordern. Es geht mir nicht so sehr um meine Interpretation, sondern darum, die Geschichte in all ihren Schichtungen zum Klingen zu bringen.“

 

Das Erzählen biblischer Text hat Zukunft

 

In vielen Teilen der Welt haben erzählte Geschichten eine weit größere Bedeutung im Leben und Zusammenleben der Menschen als bei uns: in Afrika, Asien, Lateinamerika, der Karibik, der pazifischen Inselwelt und dem Nahen und Mittleren Osten. Allerdings besteht in vielen Kirchen eine Zurückhaltung, die biblischen Geschichten in eigenen Worten zu erzählen, einmal abgesehen von Kindergarten oder Kindergottesdienst. Wenn die Bibel als Werk verstanden wird, das Wort für Wort von Gott inspiriert wurde, zögert man, statt Gottes Wort eine eigene Erzählung zu wählen.

 

Dabei bietet das Erzählen der Bibel gerade in Zeiten der Globalisierung große Möglichkeiten, die biblischen Geschichten so zu vermitteln, dass Text und Kontext deutlich werden und ein Gespräch darüber beginnen kann, welche Bedeutung diese Geschichte für unsere heutige Situation hat. Viele Menschen werden eher bereit sein, auch kritische Fragen und Bewertungen einzubringen, wenn ihnen eine Geschichte erzählt wird und sie sich nicht zu einem Abschnitt aus der Heiligen Schrift äußern sollen, der ihnen vorgelesen wurde.

 

Aber hat das Erzählen biblischer Geschichten in einer digitalen Welt eine Zukunft? Wir sitzen nicht mehr um das Lagerfeuer wie unsere Vorfahren, sondern haben das Notebook oder Smartphone jederzeit parat. Früher, als es noch kein elektrisches Licht und keinen Fernseher gab, war das Erzählen von Geschichten eine der wenigen schönen Möglichkeiten, die Abende zu verbringen. Das hat sich radikal geändert, und doch: Das Erzählen und Hören von Geschichten stößt weiter auf ein großes Interesse, nur werden diese Geschichten heute vor allem im Fernsehen, im Internet und anderen elektronischen Medien erzählt.

 

Spätestens seit der Coronapandemie wissen wir aber, dass viele Menschen zwar Geschichten schätzen, die ihnen auf elektronischem Wege angeboten werden, dass sie aber auch ein großes Bedürfnis haben, den Menschen gegenüber zu sitzen, die Geschichten erzählen und mit denen man anschließend über diese Geschichten sprechen kann.

 

„Betulich“ sollte dieses Erzählen allerdings nicht sein und eine pädagogische Absicht sollte nicht bei jedem Satz durchklingen. Wir dürfen ruhig darauf vertrauen, dass eine gut erzählte Geschichte auch und gerade ohne belehrende Erläuterungen wirkt. Unverzichtbar ist, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer sich mit handelnden Personen identifizieren können und Fragen aufgeworfen werden, die auch die eigenen Fragen sind. Gewünscht sind Geschichten, die geistig anregen und Gefühle wecken. Geschichten, die als „einfach gestrickt“ wahrgenommen werden oder in denen kein Mitfühlen ausgelöst wird, langweilen. Seit mehr als vier Jahrtausenden werden biblische Geschichten erzählt, und auch diese und die nächsten Generationen haben die Möglichkeit, diese Tradition nicht abreißen zu lassen.

 

Ein Erzählbeispiel: der Turmbau zu Babel

 

Wenn die berühmte biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt wird, ist es möglich, den Kontext in diese Erzählung einzubeziehen. Konkret kann das bedeuten, auch zu erzählen, welche Bedeutung dieser Turm für die Bewohner von Babylon hatte und wie die Stadt Babylon als Zentrum eines großen Reiches vielen Tausend Menschen ein sicheres Leben mit bescheidenem Wohlstand bot. In die Erzählung können auch die großen architektonischen, wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen in Babylon eingeflochten werden, auf die die Menschen in der Region noch heute stolz sein können. König Nebukadnezar war bei den Verschleppten aus Jerusalem verständlicherweise verhasst, aber er wurde von vielen Babyloniern geschätzt und verehrt, sorgte er doch für ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen.

 

Menschen aus allen Teilen des Reiches in Babylon arbeiteten an großen Bauvorhaben wie dem Turm, Arbeiter, die in vielen Sprachen zu Hause waren. Kein Wunder, dass „die Neuen“ aus Jerusalem irritiert waren von dem Sprachwirrwarr in Babylon und Zweifel hegten, dass große Bauten jemals fertig werden konnten – historisch betrachtet waren diese Zweifel aber unbegründet. Babylon als multikulturelle Stadt hat gut funktioniert und beeindruckende Bauten ermöglicht. Mehr über das historische Babylon, die Darstellung dieser Stadt in der Bibel und eine mögliche heutige Deutung der biblischen Texte finden Sie meinem Buch „Babylon – Mythos und Wirklichkeit“. Abschnitte aus diesem Buch lesen Sie auf dieser Website im Themenbereich „Babylon – Mythos und Wirklichkeit“.

 

Eine Erzählung darf aber nicht mit Informationen überfrachtet werden, sonst verliert sie ihren erzählenden Charakter und der Spannungsbogen zerbricht. Die Kunst des Erzählens biblischer Geschichten wie des Turmbaus besteht auch darin, dass die Erzählerin oder der Erzähler sich gründlich mit Text und Kontext beschäftigt und dann der Versuchung widersteht, seine neuen Kenntnisse alle in die Geschichte zu packen. Stattdessen kommt es auf eine kluge Auswahl an und Sachinformationen wohl dosiert in eine spannende Geschichte einzuflechten.

 

Die Einbeziehung der unterschiedlichen Perspektiven und Wahrnehmungen der Stadt Babylon, des Turms und des Königs Nebukadnezar sind geeignet, die Geschichte zu bereichern und noch mehr Interesse zu wecken. Die unterschiedlichen Gefühle der Beteiligten beim Turmbau lassen sich auch Kindern gut in einer Erzählung vermitteln, sodass sie sich in die Akteure hineinversetzen können. Auch können sie so verstehen, dass die biblischen Texte aus einer bestimmten Perspektive geschrieben wurden – wie in diesem Fall häufig aus der Perspektive der Opfer von Ausbeutung und Unterdrückung durch die damaligen „globalen“ Mächte.

 

Nach dem Erzählen der Turmgeschichte könnten in vielen Schulklassen in Großstädten wie Berlin die Kinder aus Syrien oder Gambia gefragt werden, wie sie bei ihrer Ankunft die multikulturelle und multireligiöse deutsche Stadt erlebt haben. Bei anderen Zuhörerinnen und Zuhörern kann sich das Gespräch darauf konzentrieren, wie globale Mächte von den Menschen innerhalb dieser Reiche und in eroberten oder unterdrückten Ländern wahrgenommen und beurteilt werden. Die Themen des Gesprächs hängen selbstverständlich davon ab, was die Zuhörerinnen und Zuhörer der Erzählung gern sagen und besprechen möchten.

 

Initiativen zum Erzählen biblischer Geschichten

 

Seit dem Katholikentag 2006 in Saarbrücken ist das „Erzählzelt“ des Vereins Theomobil unterwegs, um Menschen überall in Deutschland biblische Geschichten nahezubringen. Wenn das Zelt aufgestellt wird, sind es vor allem Kindergarten- und Grundschulkinder, die sich von den biblischen Geschichten fesseln lassen. Nachmittags kommen oft auch Eltern, Großeltern und Verwandte, um sich von den Erzählerinnen und Erzählern in die Welt der biblischen Geschichten „entführen“ zu lassen – und im günstigen Fall auch eine Orientierung für die Konflikte und Probleme zu erhalten, mit denen sie selbst sich gerade auseinandersetzen müssen.

 

Thomas Hoffmeister-Höfener, Theologe und Geschichtenerzähler im Zelt, hat die Geschichte vom Jesus-Jünger Thomas Kindern einer Grundschulklasse in Ostwestfalen erzählt: „Ich spüre wie die Kinder mehr und mehr mitgehen. Sie folgen Thomas, der Jesus gefolgt ist und sie erschrecken total, als der Totgeglaubte plötzlich in deren Mitte stand. Es geht ein Kreischen durch das Zelt. Im besten Fall können unsere Zuhörer ein Stück eigenen Lebens in dieser Geschichte entdecken und den nächsten Schritt wagen: die Geschichte als erprobtes Leben. ‚Fürchte dich nicht‘, sagt der Jesus in der Geschichte. Und der Schrecken legt sich, es wird wieder still im Zelt. In Momenten wie diesen verwebt sich die biblische Geschichte mit unserer eigenen Geschichte.“ (Bibel heute 3/2016)

 

Ein weiteres Beispiel: In den Vereinigten Arabischen Emiraten hat die Bible Society in the Gulf Seminare für das Erzählen biblischer Geschichten durchgeführt. Hintergrund ist, dass in den Emiraten viele Christinnen und Christen aus Indien, den Philippinen und anderen asiatischen Ländern arbeiten und leben. Ihre Arbeitsbedingungen sind sehr hart, und wenn sie sich nach einem langen Arbeitstag treffen, sind sie nicht aufnahmefähig für lange Bibelarbeiten oder Vorträge. Spannend erzählten biblischen Geschichten hören sie hingegen gern zu, besonders dann, wenn sie in ihren Heimatsprachen wie dem indischen Urdu vorgetragen werden.

 

Hrayr Jebejian, der Generalsekretär der Bibelgesellschaft, hat die Wirkung dieser Initiative so beschrieben: „Wir helfen den Arbeitsmigrantinnen und -migranten sich selbst wieder als Kinder Gottes zu entdecken. Durch den Glauben und die Hoffnung aus der Bibel gewinnen sie Kraft, um mit ihren vielen Herausforderungen fertig zu werden.“

 

In den USA ist ein Network of Biblical Storytellers International entstanden. Der Zusammenschluss von Bibelerzählern möchte die mündliche Tradition des Geschichtenerzählens bei der Entstehung der Bibel wieder stärker in Theologie und Kirchen bewusst machen und das Erzählen biblischer Geschichten in den heutigen Kirchen fördern. Dazu wurde eine „Academy for Biblical Storytelling“ gegründet. Einmal jährlich wird zu einem „Festival of Storytelling“ eingeladen.

 

Seit 1988 bemüht das Netzwerk sich, auch international das Erzählen von biblischen Texten zu fördern, zunächst in der damaligen Sowjetunion und inzwischen auch in anderen Teilen der Welt, vor allem in Westafrika.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann