Die Hirten hören die Botschaft des Engels, Fresko in der Shepherds' Fields Church in Bethlehem.
Die Hirten hören die Botschaft des Engels, Fresko in der Shepherds' Fields Church in Bethlehem. Foto: iStock.com/ZvonimirAtleti

Die Hirten auf dem Felde - Die Armen am Rande rücken ins Zentrum

 

Lukas 2,8-20 Bibeltext

 

„Auf der Suche nach lohnenden Weideplätzen sind Hirten mit ihren Herden stän­dig unterwegs. Tags glüht die Sonne brennend heiß … Die sternklaren Nächte sind oft bitterkalt. Es ist eine harte Existenz mit eigenen Regeln und Gesetzen. Hirten müssen sich selbst schützen, ihre Rechte selber verteidigen. Untereinander kämp­fen sie um Wasserstellen für ihre Tiere. Mit den Landbesitzern leben sie in Fehde, immer wieder gibt es Anlass zu Streit. Den Bewohnern fester Siedlungen sind sie nicht geheuer, gelten als Betrüger, als räuberisch und gewaltbereit. Ihr Wort zählt nicht vor Gericht. So leben sie am Rande der Gesellschaft, abseits der Zivilisation, fast wie Ausgestoßene.“[1] Mit diesen Sätzen beschreibt der evangelische Theologe Martin Koschorke die Situation der Hirten im antiken Palästina. Dass der Evan­gelist Lukas den Hirten trotzdem eine wichtige Rolle in seiner Weihnachtsgeschichte überträgt, ist kein Zufall. Dazu schreibt der britische Theologieprofessor Martin For­ward in seinem Jesus-Buch: „Die Geschichte des Lukas hebt die Stellung Jesu als an den Rand der Gesellschaft gedrängtes Opfer hervor und spiegelt damit das Thema des Evangeliums vom Mit-Leiden Jesu mit den Armen und Schutzlosen wider.“[2]

 

Der Kaiser wird – ob freiwillig oder gezwungenermaßen – von den unterdrück­ten Völkern rund um das Mittelmeer gepriesen, das Kind in der Krippe von einer kleinen Schar armer Hirten.[3] Im „Bibelreport“ der Deutschen Bibelgesellschaft hat Jürgen Simon herausgestellt, dass die Hirten zu den Armen der damaligen Gesellschaft gehörten, die die Herden nicht besaßen: „Die Hirten in neutestamentlicher Zeit sind daher meist zur untersten sozialen Schicht zu zählen. Sie sind Sklaven oder Tagelöhner, die am Rande der Gesellschaft leben, denn ihre Arbeit ist mit viel Gestank verbunden … Hirten müssen also draußen bleiben vor den Toren der Stadt bei ihren Herden, sind sozial ausgegrenzt. Davon geht auch Lukas aus. Das Besondere seines Weihnachtsevangeliums ist, dass die Engel gerade diesen Ausge­grenzten die frohe Botschaft verkünden.“[4]

 

Diese Menschen führten ein Leben voller Gefahren, und wenn der Engel ihnen verkündete „Fürchtet euch nicht!“, war dies wohl nicht nur dem Erschrecken über das Erscheinen des Boten Gottes geschuldet. Wer in einer prekären Situation lebt, für den kann alles Neue eine existenzielle Bedrohung bedeuten. Das kann dazu führen, jede Veränderung zu fürchten und sich stattdessen mit dem Status quo abzufinden, wie ungerecht und entwürdigend er gerade für die Ärmsten auch sein mag. Aus diesem Grunde gehört es zu den wunderbaren Ereignissen in der Weihnachtsge­schichte, dass die Hirten sich tatsächlich auf den Weg gemacht haben. Sie waren die ersten, sagt Lukas uns, die die Verheißung Jesu von einem Neuanfang hörten und die denen vorangingen, die dann später mit Jesus aufgebrochen sind.

 

Die Geschich­te von den Hirten ist, wie man heute formulieren würde, eine Mutmach­ge­schichte, die auch nach zwei Jahrtausenden weiterhin Menschen dazu veranlasst, aufzubrechen und den Verheißungen zu vertrauen, die die Engel und später dann Jesus verkündet und die Evangelisten für uns aufgeschrieben haben. Die evange­lische Theologin Margot Käßmann hat einige Tage vor dem Weihnachtsfest 2000 in einer An­dacht über die Hirten – und uns – gesagt: „Ich glaube, dass Gott am Werk ist, wenn Men­schen plötzlich von Hoffnung erfüllt werden. Wenn mitten in der Hoff­nungs­losigkeit dieser kleine Vogel Hoffnung wach wird. Hoffnung, dass mein Leben doch Sinn hat … Wir warten auf Weihnachten. Wir warten auf Hoffnung.“[5]

 

Die Hirten in Lukas Geburtsgeschichte, die als erste und einzige die Botschaft der Engel hörten, hatten nicht nur einen niedrigen ökonomischen und sozialen Status, son­dern wur­den von strenggläubigen Juden auch aus religiösen Gründen verachtet, weil sie bei ihrer Berufsausübung die strengen Regeln der Tora nicht einhalten konnten. Und doch waren sie geradezu prädestiniert, die Botschaft der Engel zu hören, erklärt uns Jörg Zink: „Die Nacht ist für einen Nomaden voller Leben. Sie ist voll von Lichtern und Schatten, von fremden Stimmen und Lauten, sie ist eine Welt von Träumen und Visionen. Die Welt eines Beduinen ist so viel weiter und so viel lebendiger, wie auch der Sternenhimmel über ihm mehr Sterne hat als der unsere. Er lebt immer wachsam … So ist es sinnvoll, dass sie (die Hirten) bei Lukas in der Rolle von Menschen erscheinen, die unter dem nächtlichen Himmel stehen, dort Worte hören und Erscheinungen wahrnehmen, die wir für Märchen halten müssen. Sie stehen da als Menschen, die sich einer Wirklichkeit öffnen, die für andere unerreichbar, verborgen bleibt.“[6]

 

Die Botschaft der Engel gilt nicht nur den Hirten, es war und ist eine Botschaft für die Menschheit und in besonderer Weise für die Armen der Welt. Alle sind eingeladen, zur Krippe im Stall zu kommen, niemand ist ausgeschlossen, der sich nicht selbst ausschließt. Den Hirten wird also stellvertretend für alle Menschen die Frohe Botschaft verkündet, und sie machen sich stellvertretend auf den Weg durch die Dunkelheit zum Stall mit dem Kind darin. Diese Einladung an alle gilt jenseits des tatsächlichen historischen Geschehens in Bethlehem. Es lässt sich sogar sagen, dass wir gerade dann, wenn wir diese Geschichte nicht als Tatsachenbericht lesen, die Heils­botschaft für die ganze Menschheit umso klarer erkennen können. Dass berichtet wird, dass die Hirten nach der Begegnung mit Jesus und seiner Familie in den Alltag zurückkehrten und Gott lobten und priesen, kann als Ermutigung verstanden wer­den, auch unsere Erfahrungen der Begegnung mit Jesus und seiner Heilsbotschaft in den Alltag zurückzutragen und dort als Christinnen und Christen zu Boten der befreienden Botschaft zu werden, die von Jesus ausgeht.

 

Die Engel verkündeten die Ankunft des Messias mit einer Wortwahl, die an die Proklamation eines Königs erinnert. Die „große Freude“ gilt nicht nur den Hirten, sondern „allem Volk“. Diese Botschaft taten sie den Eltern Jesu kund. Der bekannte Theologe Fulbert Steffensky hat diesen Aufbruch der Hirten als eines der Wunder der Weihnachtsgeschichte bezeichnet. „Die stumm gemachten Hirten sprechen. Es kommt Bewegung in sie … und sie preisen und loben Gott. Die Armen stehen auf – das ist das Wunder.“[7]

 

Dass die Hirten statt eines prächtig gekleideten Königs ein kleines, in Windeln gewickeltes Kind in der Krippe vorfanden, ließ bereits erkennen, dass dieser König nicht als mächtiger Herrscher durch sein irdisches Leben schreiten würde, sondern als einfacher Handwerker und dann als armer Wanderprediger. Lukas verarbeitete also schon in der Geburtsgeschichte die Erfahrung der Gläubigen, dass Jesus nicht gekommen war, um als mäch­tiger Feldherr und König die Römer mit Gewalt und göttlicher Unterstützung zu vertreiben und dass er dennoch von diesen Römern als Aufrührer hingerichtet worden war.

 

Lernen von den Hirten

 

Martin Luther hat zur Wahl der Hirten als ersten Zeugen der Geburt des Messias festgestellt: „… es mussten die armen Hirten, die auf Erden nichts waren, würdig sein, solch große Gnad und Ehre im Him­mel zu haben. Wie gut sehr verwirft doch Gott, was hoch ist! Und wir toben und rasen nach nichts als eitler Höhe, auf dass wir ja nicht im Himmel zu Ehren kommen.“[8]

 

Für den Reformator Johannes Calvin ist die Geschichte von den Hirten auch eine Geschichte, die zu eigener Bescheidenheit mahnt. Der Glaube der Hirten sei so groß gewesen, dass er alles überwunden hat, und so seien die Christen verpflichtet, bei ihnen in die Schule zu gehen. Wir sollten uns an den höchsten König halten, dem alle Herrschaft im Himmel und auf Erden gegeben ist: „Diese Mahnung haben wir wahrhaftig nötig, denn für die von Stolz und Einbildung Besessenen und für die, die sich für weise halten, ist die Lehre des Evangeliums doch bloß Anstoß.“[9]

 

Die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen hat am Heiligabend 2006 die Hirten in den Mittelpunkt ihrer Predigt gestellt und hervorgehoben: „Zu wenig haben wir von der Kraft und Dynamik und Aufbruchsbereitschaft der Hirten von Bethlehem, die hinter sich lassen, was ihnen wichtig und kostbar ist, und sich aufmachen zum Stall, mitten aus der Arbeit heraus, mitten in die Nacht. Die den Worten der Engel trauen und gehorchen mehr als allem sonst. Ich glaube, wir alle brauchen viel mehr geistliche Neugier, Interesse für das, was Gott uns sagt, einen viel festeren Glauben an den guten Hirten Jesus von Nazareth, der – so ist uns gesagt – keinen und keine aus seinem Blick verliert.“[10]

 

Die Geburtsgeschichte im Stall mit den Hirten ist heute vor allem für die Armen im Süden der Welt eine Ermutigung, wie in diesen Sätzen des indischen Theologen und Verfechter der Dalit-Rechte James Massey deutlich wird: „Gott wurde tatsächlich in Jesus Christus am Weihnachts­tag zu einem der Ärmsten unter den Armen. Er tat dies für die Armen, die Un­terdrückten und all jene, die ohne Gerechtigkeit und Hoffnung leben, um ihnen ihre menschliche Identität und Würde zurückzugeben.“[11]

 

Raphael L. Mbesere, damals Evangelist der Evangelisch-Lutherischen Kirche Tansanias in der Arusha-Diözese, hat 1995 über die Freude, die Weihnachten für die Hirten und uns alle auslöst, geschrieben: „Die eigentliche Weihnachtsfreude kommt aus der Hoffnung, dass der Heiland gekommen ist, um den Menschen ihr Lebensziel zu zeigen und die Gnade Gottes zu schenken.“[12]

 

Der katholische kenianische Kardinal John Njue hat 2008 in einem Pastoralbrief erläutert, warum die Hirten eine derart wichtige Rolle in der Geburtsgeschichte haben. Der Erzbischof von Nairobi schrieb: „Von seiner Geburt an hat Jesus sich dafür entschieden, unter den Niedrigsten und Untersten der Gesellschaft zu leben: den Sün­dern, den Ausgestoßenen, denen, die am meisten leiden, und denen, denen alles zum Leben fehlt. Sie, und nicht die ‚Gerechten‘, sind diejenigen, die bangend das befreiende und rettende Wort Gottes erwarten. Jesus wird weiterhin bei diesen Men­schen sein. Er wird ihre einfache Sprache sprechen, wird ihre Gleichnisse und ihre Parabeln verwenden. Er wird ihre Freuden und ihre Leiden teilen; wird ihre Partei ergreifen gegen alle, die sie in der Gesellschaft isolieren wollen. Die Armen, die Unwissenden und die Verzweifelten erkennen ihn sofort und heißen ihn mit Freude willkommen, denn Jesus kommt, um sie grundlegend zu verändern, damit sie ihre Situation verbessern können.“[13]

 

Der Erzbischof forderte die Gläubigen in seinem Weihnachtsbrief zu Mitleid und zu Mitgefühl auf. Das Mitgefühl „ermöglicht es dem Feuer der Liebe, die Leidenschaft für Gerechtigkeit in uns zu entfachen. Diese Leidenschaft treibt uns an, nicht bei einem Bedauern stehen zu bleiben, sondern nach einer So­li­darität zu streben, die alles grundlegend verändert und die mit unse­rer eigenen fortdauernden Umkehr beginnt.“[14] Gerade im Süden der Welt, wo das Unrecht und die Kluft zwischen Arm und Reich besonders krass sichtbar sind, ist vielen Chris­tinnen und Christen bewusst, dass einzelne mildtätige Gaben nicht ausreichen, um das Leben der Armen, der heutigen „Hirten“ zu verbessern, sondern dass es darum geht, aus dem Glauben heraus für Gerechtigkeit und grundlegende gesellschaftliche Veränderungen einzutreten.

 

Die heutigen „Hirten“

 

Dass gerade die Hirten die Botschaft der Engel von der Geburt des Heilands hör­ten, wie es Lukas in seiner Weihnachtsgeschichte überliefert hat, ist auch in unse­rer heutigen Welt von Bedeutung. Das erkennen auch immer mehr Christinnen und Christen in wirtschaftlich reichen Ländern. Der nordelbische Bischof Gerhard Ul­rich hat am 24. Dezember 2010 in einer Predigt im Schleswiger Dom über die Verheißung für die Hirten gesagt: „‚Fürchtet Euch nicht’, ruft der Engel den Hirten zu, denen, die im Dunkel sitzen, die nicht wissen, wohin sie gehören und die sich nichts zutrauen. Sie lassen sich treffen von der frohen Botschaft, kommen auf die Beine, gehen hin zum Stall und von dort wieder in den Alltag zurück. Sagen weiter, was sie gesehen haben: Da ist einer, der will, dass alle gleichermaßen teilhaben an dem Reichtum dieser Welt; da ist einer, der nicht will, dass Völker mit Gewalt beherrscht und Menschen in die Flucht geschlagen werden; da ist einer, der nicht will, dass Menschen von der Hand in den Mund leben; da ist einer gekommen, der eintritt für die Schwachen und Elen­den.“[15] Bischof Ulrich ist überzeugt, dass Gott uns hilft, „den Mund aufzutun, einzutreten für Gerechtigkeit, aufmerksam zu machen auf den Graben zwischen Reich und Arm“.[16]

 

Zwei Jahre vorher, in einer Weihnachtspredigt 2008, hatte Bischof Ulrich die Folgen der weltweiten Finanzkrise mit deutlichen Worten benannt: „Das soziale Netz wird brüchig und immer mehr Menschen haben damit zu tun, ihrem Leben eine Linie zu geben. Solidarität wird zur unbekannten Vokabel.“[17] In der Krise seien die materiellen Werte „abgestürzt und ins Taumeln geraten“. In dieser Situation sei die Zusage des Engels an die Hirten „Fürchtet euch nicht“ haltbar und verlässlich. Weil die Hirten nicht in den dunklen Höhlen der Seele hocken geblieben seien, sondern sich mit der unrealistisch erscheinenden Botschaft auf den Weg gemacht hätten, deshalb hätten sie mitten in der Nacht das Licht, die Wärme und die Liebe entdeckt.[18]

  

Hirte – ein Beruf ohne Zukunft?

 

Die Hirten, die in Deutschland und der übrigen Welt mit Schafen oder Ziegen über die Weideflächen ziehen, haben einen schweren wirtschaftlichen Stand. In Deutschland sind viele von ihnen auf staatliche Zahlungen als Ausgleich für ihren Beitrag zum Naturschutz angewiesen. Und selbst so kommen sie auf einen erschreckend niedrigen Stundenverdienst, das viele von ihnen ihn vorsichtshalber nicht einmal ausrechnen.

 

In einem Beitrag des „Deutschlandfunks“ zum Thema „Von der Weide ins Heiligtum“ am 23.10.2019 kam der Brandenburger Schäfer Jürgen Kömer zu Wort: „Wenn ich sehe, wie hoch der Zeitaufwand ist, den wir einfach nicht bezahlt kriegen – das ist es schon Selbstlosigkeit, kann man schon davon sagen. Mit einer 35-Stunden-Woche würden die Tiere alle verhungern … Die Woche hat sieben Tage, und die Tiere müssen sieben Tage in der Woche fressen und versorgt werden. Das ist ein großes Maß Selbstlosigkeit. Man muss auf ganz viele Sachen verzichten.“

 

In Afrika, Asien und Lateinamerika geht es den Hirten noch schlechter, und das vor allem dann, wenn ihnen – wie den Hirten im biblischen Bethlehem – die Tiere nicht einmal gehören. Die Folge des Klimawandels zeigen sich sehr deutlich in vielen Savannengebieten, wo die Vegetation zurückgeht und die „Verwüstung“ zunimmt. Dieser Prozess wird durch das Bevölkerungs-wachstum und die Überweidung vieler Flächen, besonders in der Nähe von Brunnen, noch verstärkt. Um wirtschaftlich überleben zu können, nutzen viele Hirtenfamilien die Verfügbarkeit des Wassers aus modernen Tiefbrunnen, um ihre Herden zu vergrößern. Was bleibt ihnen in Konkurrenz zu „modernen“ großen Viehbetrieben und billigem importiertem Fleisch übrig?

 

In Verbindung mit der Globalisierung werden immer mehr bisherige Weide- in Ackerflächen umgewandelt, sodass das Weideland noch knapper wird. Die schon aus biblischen Zeiten bekannten Konflikten zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern nehmen daher weiter zu und werden zunehmend mit modernen Schnellfeuergewehren ausgetragen. Kommt hinzu, dass immer mehr Ackerflächen von ausländischen Konzernen aufgekauft oder langfristig gepachtet werden, die ein noch viel mächtigeres Gegenüber zu den Hirtenfamilien darstellen.

 

Traditionell gab es auch Formen der Kooperation von Hirten und Bauern, denn viele Bauern sahen es gern, wenn die Herden auf den abgeernteten Feldern grasten, Unkraut fraßen, das Wachstum von Baumschößlingen verhinderten und den Boden düngten. Aber in Zeiten von Kunstdünger, Pestiziden und rasch aufeinander folgenden Anbauperioden werden die Herden nicht mehr benötigt und durch hohe Zäune abgehalten. (Die Intensivlandwirtschaft vermindert übrigens auch hierzulande die möglichen Weideflächen der Schafherden deutlich.) 

 

Erschwerend wirkt, dass die Intensivlandwirtschaft immer mehr Grund- und Flusswasser nutzt, das mit Pestiziden und anderen Chemikalien belastet in die Natur zurückgegeben wird. Dies gilt besonders für die Betriebe, die für den globalen Markt produzieren, zum Beispiel Blumen in Kenia. Sie gelten als „moderner“ Exportsektor, während die „traditionellen“ Hirten als aussterbende Spezies ohne wirtschaftliche Zukunft angesehen werden.

 

Von Entwicklungsprojekten profitierten sie bisher nur selten. Das gilt besonders für Nomadenfamilien. Die Hirten sind wieder dort angekommen, wo sie zu Jesu Lebzeiten waren: am äußersten Rand der Gesellschaften. Und das gilt auch für andere „Hirten“, also Menschen, die so ausgegrenzt und diskriminiert werden wie die Hirten in Bethlehem.

 

Zum Beispiel: Indische Dalits als heutige „Hirten“

 

Die Hirten waren in biblischen Zeiten eine ausgeschlossene Gesellschaftsgruppe, und das verbindet sie mit den heutigen 240 Millionen Dalits, den sogenannten „Kastenlosen“ (oder schlimmer noch „Unberührbaren“) Indiens. Darauf hat der indische Theologe und bekannte Vertreter der Dalit-Bewegung Dr. James Massey immer wieder hingewiesen, wenn er von der Weihnachtsgeschichte sprach.

 

In seinem Buch über das Lukasevangelium schrieb er, dass diese Hirten nicht nur während ihrer Wanderungen mit ihren Herden getrennt von der übrigen Gesellschaft waren: „Nach der Arbeit kehrten diese Hirten zu ihren Unterkünften zurück, die außerhalb des Dorfes oder der Stadt lagen. Diese Tatsache bringt die Hirten der biblischen Zeiten in die Nähe der Dalits in Indien, die gezwungen sind, außerhalb eines Dorfes oder einer Stadt zu leben.“

 

Aber Hirten sind nicht nur Opfer ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse, betonte James Massey, sondern mit dem Bild von den Hirten ist auch Hoffnung und Verheißung verbunden. Fast alle Patriarchen in den ersten Büchern des Alten Testaments waren Hirten, darunter auch David. Wenn Jesu Stammbaum also auf David zu­rückgeführt wird, halten damit die Evangelisten auch die Erinnerung an die Hirten in der Geschichte des jüdischen Volkes wach. An verschiedenen Stellen des Alten Testaments wird Gott mit einem Hirten verglichen, erinnert der indische Theologe.

Dass den Hirten angekündigt wurde, dass sie das Kind in einem Stall finden wür­den, ermöglichte es ihnen, sich sofort auf den Weg zu machen, erläutert James Massey: „Wäre der Heiland in einer reichen oder königlichen Umgebung geboren worden, hätten sich die Hirten vielleicht nicht getraut, ihn aufzusuchen. Aber der Heiland hatte einen Ort gewählt, der sich auf ihrer Ebene befand.“

 

Deshalb mach­ten sie sich, nachdem sie die Botschaft vernommen hatten, rasch auf dem Weg und fanden Maria, Josef und das Kind in einem Stall. Der indische Theologe fügt hinzu: „Mit Sicherheit gehören die Dalits wie die Hirten zu Jesu Zeiten zur von ihm bevorzugten Gruppe, die Gemeinschaft der Armen und Ausgeschlossenen.“

In der Beschäftigung mit der Bibel und mit der sozialen Realität seines Landes hat James Massey erkannt, dass ein umfassender Befreiungsprozess für die Dalits und verbunden damit für die ganze indische Gesellschaft erforderlich ist und dass die Verheißungen der Bibel zu konkreten Verheißungen für die indischen Dalits werden können.

 

Die Beschäftigung mit biblischen Texten, schrieb er, hat ihm geholfen zu erkennen und zu vermitteln, „dass die Unterdrückungssi­tuation, in der die Dalits heute leben, weder auf ihrer eigenen Entscheidung noch auf einer Anordnung Gottes beruht. Stattdessen wurden ihnen diese Bedingungen von ihren Unterdrückern auferlegt. Dies geschah zunächst dadurch, dass sie militärisch besiegt wurden, wodurch sie zu dasa (Sklaven) wurden. Dann nahm man ih­nen eines nach dem anderen ihre grundlegenden Menschenrechte, darunter das Recht auf Bildung, wodurch man sie mental versklavte. Aber am Ende war es nicht die Unterdrückung selbst, die die Dalits zerstört hat, es war die Tatsache, dass sie selbst die Unterdrückung durch ihre Gegner akzeptierten. Sie betrachteten von nun an ihren sehr untergeordneten Status als die natürliche Ordnung der Dinge.“

 

In dieser bedrückenden Situation wurde für den indischen Dalittheologen die Menschwerdung Gottes zu einer großen Hoffnung: „Hier, durch die Inkarnation, begegnen wir Gott, der umfassend solidarisch mit uns ist, nicht einfach wie jeder andere Mensch, sondern dadurch, dass er um unser willen seine außerweltliche Identität vollständig aufgab und zu einem der Ärmsten der Armen und im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Dalit wurde. Das Modell der Solidarität, das wir im Akt der Menschwerdung Gottes in der Geschichte finden, fordert uns als Dalitchristen dazu heraus, diesem Weg zu folgen, damit die Erfahrungen, die wir mit allen Dalits teilen, zur Grundlage unserer authentischen Dalittheologie wer­den.“

 

James Massey verband die Arbeit für den Verlag mit einem intensiven Engagement in kirchlichen und sozialen Bewegungen für Gerechtigkeit und eine Emanzipation benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Er zählte zu den Gründungsmitgliedern des Programms „Dalit Solidarity People“, zu dessen Zielen es gehört, die Zusammenarbeit unter allen Dalits zu fördern, ihnen alternative Bildungs­mög­lichkeiten zu eröffnen und die Zusammenarbeit von Dalits und Adivasi (den Angehörigen diskriminierter Minderheitsvölker in Indien) voranzubringen. Verknüpft damit war das Eintreten von James Massey für die Sache der Dalits und anderer unterdrückter Gruppen der indischen Gesellschaft in der weltweiten Ökumene, vor allem im Rahmen des „Ökumenischen Rates der Kirchen“ und der „Weltvereinigung für Christliche Kommunikation“.

 

Die Befreiungstheologie der Dalits

 

Die Kritik James Masseys an den in Indien vorherrschenden Theologien war scharf. Er setzte sich kri­tisch auseinander mit der Theologie, die sich weiterhin an der euro­päischen „systema­tischen“ Theologie orientiert, und ebenso mit jener gegenwärtig weit verbreiteten indischen Theologie, die nach Masseys Überzeugung von brah­manischen philo­so­phischen Gedanken beeinflusst ist. Beiden Theologien warf der Dalit-Theologe vor, dass sie Antworten seien „auf die Erfahrungen und Bedürfnisse der Reichen und der Eliten der Welt“.

 

Diese Theologien seien für die Dalits, die von diesen Eliten unterdrückt werden, nicht relevant: „Wenn Dalittheologinnen und -theologen von der Dalittheologie sprechen, bekräftigen sie damit die Notwendigkeit, eine Theologie zu formulieren, die den Dalits bei der Suche nach ihrem täglichen Brot und in ihrem Kampf zur Überwindung einer Situation von Unterdrückung, Armut, Leiden, Unrecht, Anal­pha­betismus und der Verweigerung von menschlicher Würde und Identität helfen. Es sind diese Realitäten des Lebens der Dalits, die die Formulierung einer Dalit-Theologie erfordern.“

 

Die Dalittheologie, die James Massey mit erarbeitet hat, macht das Ziel der umfassenden Befreiung der Dalits zu einem Ausgangspunkt des theologischen Nachdenkens und des christlichen Engagements. Aus dem Lesen der Bibel haben die Dalit-Theologen die Überzeugung gewonnen, dass Gott auf ihrer Seite steht und sie darin bestärkt, sich für eine grundlegende Veränderung ihrer Gesellschaft und der Welt einzusetzen. Jesus Christus, in dem Gott zum Menschen wurde, wird als das große Beispiel für einen Kampf an der Seite der Menschen verstanden.

 

 

  

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Martin Koschorke, Jesus war nie in Bethlehem, Darmstadt 2007, S. 120

[2] Martin Forward: Jesus, Eine Biografie, Freiburg 2000, S. 64

[3] Vgl. zu diesem Zusammenhang: Claudio Ettl: „Der Retter ist geboren!“, Weihnachten, Welt und Umwelt der Bibel, 4/2007, S. 22f.

[4] Jürgen Simon: Hirten und Bauern, Arbeit in der Landwirtschaft, Bibelreport, 2/2003, S. 4f.

[5] Margot Käßmann: Weihnachten zieht weite Kreise, Hannover 2004, S.44

[6] Jörg Zink: Zwölf Nächte, Freiburg 1994, S. 84f.

[7] Fulbert Steffensky: Zweifel – und Zweifel am Zweifel, in: Walter Jens (Hrsg.): Frieden – Die Weihnachtsgeschichte in unserer Zeit, Stuttgart 1981, S. 37

[8] Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Göttingen 1951, S. 191

[9] Johannes Calvin: Christnacht – Matthäus 1,1-25: Das Heil kommt von den Juden, auf www.reformiert-info.de; gedruckt erschienen in: Johannes Calvin: Auslegung der Heiligen Schrift, Die Evangelienharmonie 1. Teil, Neukirchener Verlag 1966, S. 58ff.

[10] St. Michaelis, Hamburg, Predigten, Bischöfin Maria Jepsen, 24.12.2006

[11] James Massey: Christmas, The North India Church Review, Dezember 1998, S. 1

[12] Raphael L. Mbesere: Der Erlöser ist geboren, Nordelbische Mission, 8/1995, S. 3

[13] John Njue: They will call him Emmanuel, Pastoral Letter, Nairobi 2008

[14] Ebenda

[15] Gerhard Ulrich: Predigt über ein Gemälde aus dem Bilderzyklus „Das Leben Christi“ von Emil Nolde, Schleswig 2010, zu finden auf der Website www.nordelbien.de

[16] Ebenda

[17] Gerhard Ulrich: Reichtum dieser Welt kein tragfähiges Band für alle Menschen, Predigt am 24.12.2008, Bericht und Auszüge aus der Predigt sind zu finden auf der Website www.ekd.de

[18] Vgl. ebenda