Der Aufbruch der afrikanischen Frauen

 

„Wir sind wichtig in der Mission, im Auftrag, den die Kirche für die Welt hat. Kein Vogel kann nur mit einem Flügel fliegen, das gilt auch für die Kirchen. Sie brauchen zwei Flügel – und wir müssen diesen zweiten Flügel entwickeln.“[1] Der zweite Flügel, das sind für die Theologin Mercy Amba Oduyoye die Frauen, die für die kirchliche Gemeinschaft und die Theologie in Afrika unverzichtbar sind. Wenn von der Hoffnung für die afrikanischen Gesellschaften und Kirchen gesprochen wird, dann kommt oft rasch die Rede auf Afrikas Frauen. Das ist keine bloße Rhetorik, sondern beruht auf der Beobachtung, dass es überall in Afrika die Frauen sind, die nicht nur die Hauptlast der ökonomischen Krise tragen[2], sondern die auch die wegweisenden Initiativen für eine Veränderung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens ergreifen, wenn man sie lässt. Die Hoffnung auf eine „Renaissance“ in Afrika, wie sie zuerst in Südafrika formuliert wurde, ist vor allem die Hoffnung darauf, dass die Frauen mit ihren Aktivitäten zum Wohlergehen der Familien und Gesellschaften entscheidend beitragen. Demgegenüber ist das afrikanische Patriarchat ein Haupthindernis für alles, was als umfassende menschliche Entwicklung bezeichnet werden kann.[3]

 

Die Abrechnung von Axelle Kabou mit den afrikanischen Eliten und dem Patriarchat[4] mag vielen – vor allem Männern – zu radikal sein, aber sie hat zweifellos recht mit vielem, was sie an den patriarchalen Strukturen in Afrika kritisiert. Gerade an der Genderfrage zeigt sich, wie wichtig es für die Gesellschaften in Afrika – und nicht nur dort! – ist, die je eigene Kultur kritisch darauf zu befragen, inwieweit sie dazu beiträgt, Menschen zu ihrer vollen Identität zu befreien oder sie im Gegenteil unterdrückt. Die Bibel bietet eine entscheidende Orientierung in diesem Prozess. Abebech Sambo, Beauftragte für Frauenarbeit der Zentralsynode der Äthiopischen Evangelischen Kirche Mekane Yesus, hob 1997 in einer Bibelarbeit hervor, wie wichtig es für arme Frauen, Witwen und Ausgestoßene ist zu entdecken, dass alle Menschen Ebenbilder Gottes sind: „Unser Gott ist ein befreiender Gott. Ein Gott, der uns – Männer wie Frauen – befreien will aus allen Banden von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die uns gefangen halten, damit wir Seine Menschen in der Welt sein können. Darum müssen wir Jesus als unser Vorbild betrachten und für das Kommen des Reiches Gottes beten.“[5]

 

Der gemeinsame Befreiungsprozess von patriarchalen kulturellen Vorstellungen mithilfe eines befreienden Verständnisses des Evangeliums wird dadurch erschwert, dass gerade in Regionen, die sich der massiven kulturellen Invasion aus anderen, wirtschaftlich reicheren Teilen der Welt ausgesetzt sehen, die Tendenz stark ist, die eigene Kultur um jeden Preis zu verteidigen und in der bisherigen Form zu bewahren. Der Austausch und die gegenseitige Bereicherung von Kulturen, so lehrt die Erfahrung in Afrika, findet gerade dann nicht statt, wenn Menschen ihre Kultur durch den Ansturm fremder Kulturen bedroht sehen. Dieses Beharren auf dem Althergebrachten in einer längst veränderten Gesellschaft verhindert oft auch, dass entscheidende Schritte zur Fortentwicklung vieler Kulturen in Richtung auf eine Gleichberechtigung von Frauen und Männer unternommen werden. Die angebliche befreiende Wirkung der kulturellen „Liberalisierung“ auf der Welt erweist sich so als gravierendes Hindernis für die Emanzipation afrikanischer Frauen.

 

Das Fatale ist, dass sich Afrika in diesen Strukturen nicht vom Würgegriff ausländischer politischer und wirtschaftlicher Mächte befreien und eine eigenständige Entwicklung beginnen kann, weil mächtige Männer aus eigennützigen Gründen ein Bündnis mit dem eingehen, was auch in den afrikanischen Kirchen als Neokolonialismus bezeichnet wird, und weil sie ihre Länder in solche wirtschaftliche und soziale Katastrophe führen, dass sie einerseits auf Hilfe von außen angewiesen sind und andererseits ausländischen Mächten schutzlos ausgeliefert sind.[6]

 

Der Aufbruch der Frauen in Afrika ist deshalb in der Tat das wichtigste Hoffnungszeichen angesichts eines weit verbreiteten Pessimismus. Ähnliches gilt auch für die Kirchen. Dass endlich in vielen protestantischen Kirchen Frauen zu Pastorinnen ordiniert werden, ist ein Hoffnungszeichen[7], wobei anzumerken ist, dass in einer ganzen Reihe von unabhängigen afrikanischen Kirchen schon seit Jahrzehnten Frauen leitende Positionen einnehmen und nicht selten an der Spitze ihrer Kirche stehen. Dass in den letzten Jahren immer mehr Frauen Theologie studieren, hat es begünstigt, dass inzwischen eine breite Frauentheologie entstanden ist und dass immer mehr Frauen sich theologisch mit den sozialen Problemen ihrer Gesellschaften und dem Globalisierungsprozess auseinandersetzen.[8]

 

Für den theologischen Austausch von Frauen in Afrika sind der 1989 gegründete „Circle of Concerned African Women Theologians“ und die „Ecumenical Association of Third World Theologians“ von besonderer Bedeutung. Es geht diesen Vereinigungen nicht zuletzt darum, die biblische Botschaft in Beziehung zu setzen zur sozialen Realität in Afrika, und diese Realität wird immer stärker mit einem Stichwort beschrieben: Globalisierung.

 

Musimbi Kanyoro, kenianische Generalsekretärin des weltweiten YWCA und bekannte Theologin, hat sich mit der Globalisierung beschäftigt, um sie aus der Perspektive afrikanischer Frauen kritisch zu bewerten und daraus Konsequenzen für die theologische Reflexion und das kirchliche Handeln abzuleiten. Eine ihrer Kernthesen lautet: „Die Globalisierung erhöht das Tempo der wirtschaftlichen Polarisierung; sie führt zur Integration der Märkte auf globaler Ebene, aber schafft einen Ausschluss und eine Fragmentierung auf lokaler Ebene.“[9]

 

Die ersten Opfer der Globalisierung seien Frauen und Kinder, weil sie die verwundbarsten Gruppen sind und deshalb vor allem die Folgen einer Destabilisierung der Gesellschaften tragen müssen: „Globalisierung hat eine neue Form der Sklaverei geschaffen. Die Menschen werden nicht mehr in Schiffen ins Ausland gebracht, sondern sie werden in ihren eigenen Ländern versklavt. Wenn man zum Beispiel durch Sambia reist, sieht man am Straßenrand Frauen mit Kindern auf dem Rücken, die Steine zerkleinern, um sich ein paar Kwachas zu verdienen. Und was sie für diese Arbeit bekommen, reicht nicht einmal aus, um etwas Medizin für ihr Kind zu kaufen, das durch den Staub der Steine eine Atemwegskrankheit bekommen hat und das unter Durchfall leidet.“[10]

 

Es sind solche Erfahrungen, die Theologinnen wie Musimbi Kanyoro zu entschiedenen Gegnerinnen des vorherrschenden Globalisierungsprozesses machen, den sie deutlich von einem Prozess der Globalisierung der Solidarität der Frauen unterscheidet. Sie betont im Blick auf den globalen Markt, dass viele Millionen Menschen kein Geld und keine Möglichkeiten haben, an diesem Markt zu partizipieren. Ihr Schluss: „Globalisierung ist ganz eindeutig unmoralisch.“[11] Menschen, die sich an der Lehre Christi orientieren, müssten deshalb den Opfern helfen und zugleich an der Beseitigung der grundlegenden Ursachen ihrer Situation mitwirken.

 

Es gibt zahlreiche Berichte und Studien, die die Kritik der kenianischen Theologin belegen. Für die Opfer, und das sind nicht nur in Afrika vor allem Frauen, ist es kein Trost, dass es auch Gewinner der Globalisierung gibt, und wenn man den Frauen am Straßenrand in Sambia sagen würde, dass sie in Bälde auch zu den Gewinnerinnen dieses globalen Prozesses gehören würden, müsste man mit Unglauben und der Frage rechnen, wie dies denn wohl geschehen könnte – und wann.

 

Die Globalisierung ist aus der Sicht einer großen Zahl afrikanischer Theologinnen ein System, bei dem viele Millionen ohnehin armer Frauen in Afrika noch mehr verlieren, und das prägt auch ihre Theologie. Für Musimbi Kanyoro gründet die Verheißung des Jubeljahres darauf, dass die ganze Schöpfung Gott gehört. Deshalb sei der erste Schritt, die Souveränität Gottes über die Welt anzuerkennen und das würde dann zu einem veränderten Verhalten der Menschen führen. Große Hoffnungen setzt die kenianische Theologin in die Frauen: „Das vorherrschende Verständnis von der Welt berücksichtigt nicht den großen Beitrag, den Frauen mit ihrer Weisheit und ihrer Energie in Weltfragen leisten können. In vielen Ländern kämpfen Frauen darum, alternative Strategien im Blick auf die vielen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, ins Gespräch zu bringen. Besonders in den letzten drei Jahrzehnten haben Frauen in Friedensbewegungen immer wieder ihre Vision von einer Welt vorgestellt, in der wir dem Frieden eine Chance geben könnten ... Frauen bringen alternative Vorstellungen darüber ein, wie diese Welt organisiert werden kann.“[12]

 

Aus dieser Position heraus kritisiert Musimbi Kanyoro die politischen Führungen und Eliten in Afrika, sie stellt aber auch Forderungen an den Norden: „Es reicht nicht aus, uns Afrikanerinnen und Afrikaner zu belehren über unser politisches Missmanagement – das ich nicht leugne. Die Menschen im Norden müssen sich zunächst und vor allem damit auseinandersetzen, wie ihre Regierungen Entscheidungen treffen, und uns damit vertraut machen, wie diese Entscheidungen die Menschen in der Dritten Welt treffen. Es ist viel zu wenig bekannt, wie Banken, Unternehmen, Regierungen und Einzelpersonen von der Armut und der Ent-Entwicklung in Afrika und in der Dritten Welt insgesamt profitiert haben.“[13] Es sei zu begrüßen, dass einzelne Kirchen im Norden sich mit der Verantwortung ihrer Länder für Armut und Unrecht im Süden befassten, aber wann entstehe ein solches Bewusstsein in den Gesellschaften des Nordens? Notwendig sei eine stärkere Unterstützung der Kampagnen für einen Schuldenerlass und für ein anderes Konsumverhalten im Norden. Auch müsse es zu einem Dialog zwischen den Kirchen im Norden und im Süden kommen, in dem solche Fragen offen diskutiert werden können.[14]

 

Die Frage des Schuldenerlasses ist für Musa W. Dube Shomanah, Dozentin in der Abteilung für religiöse Studien an der Universität von Botswana, nicht zu trennen von den Grundlagen unseres Glaubens. Wenn im Vaterunser für die Vergebung unserer Schuld, wie wir unseren Schuldigern vergeben, gebetet wird, dann hat das heute wie in biblischen Zeiten Konsequenzen für das ökonomische Leben: „Das Gebet für die Vergebung der Schulden war ganz eindeutig eine Stellungnahme zu den Wirtschaftsstrukturen in Palästina in der Zeit des Römischen Imperiums.“[15]

 

Heute gilt: „Im Vaterunser für eine Vergebung der Schulden zu bitten, wie wir unseren Schuldnern vergeben, ist ein Aufruf zu einer wirtschaftlichen Umstrukturierung – einer Umstrukturierung, die die Unterdrückten aus Strukturen der Ausbeutung befreit und die diejenigen in Machtpositionen dazu auffordert, ihre ungerechten Wirtschaftsstrategien aufzugeben.“[16]

 

Ganz in der Tradition biblischer Prophetinnen und Propheten wird hier der Schuldenerlass nicht als Gnadenakt der Reichen verstanden, so wie es früher manche Herrscher taten und heutige Politiker tun, sondern als göttlicher Auftrag, bei dem es um Glauben und Nichtglauben geht. Wer das Vaterunser betet, kann nicht seine Gläubiger in Schulden und Elend belassen, lautet die Botschaft afrikanischer Christinnen wie Musa W. Dube Shomanah. Aber ihr Verständnis des Vaterunsers reicht darüber hinaus. Es geht nicht nur um einen einmaligen Schuldenerlass, wie ihn inzwischen einige westliche Staaten und internationale Finanzinstitutionen gewähren, sondern es geht um neue wirtschaftliche Strukturen, die der Ausbeutung ein Ende setzen. Sicher nicht zufällig lässt die Autorin einen Bezug zu den Strukturanpassungsmaßnahmen anklingen, die von den armen Ländern gefordert werden. Sie hingegen setzt sich ein für eine Strukturanpassung, die von den Reichen gefordert ist, damit ausbeuterische Verhältnisse beendet werden. Das Hören auf die biblische Verheißung für die Armen und die Schuldner einerseits und das Wissen um die Realität von Elend und Ausbeutung andererseits macht afrikanische Theologinnen zu scharfen Kritikerinnen des Status quo.

 

Das hat Konsequenzen für die Mission der Kirchen. Dazu Musa W. Dube Shomanah: „Im Kontext der Globalisierung muss sich die christliche Mission deshalb damit beschäftigen, die menschlichen Gesichter hinter den gigantischen multinationalen Unternehmen und Finanzinstitutionen zu erkennen, die Gottes Schöpfung ein weiteres Mal kolonisieren. Es muss ein Anliegen der christlichen Mission sein, die Konzepte dieser Menschen zu verstehen und auf dieser Grundlage wohlüberlegte Wege zu suchen, um einer nationalen und internationalen Wirtschaftspolitik entgegenzutreten, die Gottes Schöpfung die Freiheit nimmt.“[17]

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Interview mit Mercy Amba Oduyoye in: Wendekreis, 5/1994, S. 12

[2] Vgl. u.a. Fridah Muyale-Manenji: Weltweiter Überlebenskampf, Auswirkungen der Globalisierung aus der Sicht einer Afrikanerin, in: Norddeutsche Mission, 2/1999, S. 1f.

[3] Mercy Oduyoye verweist darauf, dass auch die Kirchen hier eine erhebliche Mitverantwortung haben: “In my opinion it is still debatable whether or not the influence of Christianity has been beneficial to the socio-cultural transformation of Africa – and I am most concerned with its effects on women. It seems that the sexist elements of Wes-tern culture have simply fueled the cultural sexism of traditional African society.” Mercy Oduyoye: Calling the Church to Account, African Women and Liberation, in: The Ecumenical Review, Oktober 1995, S. 486

[4] Axelle Kabou: Weder arm noch ohnmächtig, Eine Streitschrift gegen schwarze Eliten und weiße Helfer, Basel 1993

[5] Abebech Sambo: Wasser des Lebens, in: mitteilen (Zeitschrift des ELM), 5/1998, S. 3

[6] Afrikanische Theologinnen kritisieren die Führungen ihrer Länder mit deutlichen Worten, so Musimbi Kanyoro: „Some of the obstacles to Africa’s development, such as leaders who are more concerned about holding on to their own power than about the welfare of their people, are self-reinforcing and self-perpetuating. When leaders have failed to mobilize and use the energies of their people towards the attainment of development, where they have failed to provide genuine leadership and relied instead on armies, weapons, police, death squads and bribes to repress the people’s demands for democracy and popular participation, the joys that heralded independence three decades ago have turned into bitter disappointment. The poor people, the women, children, marginalized men, the sick and the aged are the prime victims of this unjust system.” Musimbi Kanyoro: A Life of Endless Struggle or Stubborn Hope, in: The Ecumenical Review, October 1997, S. 400

[7] Vgl. Rose Ampofo: The contribution of women to church growth and development in Africa, in: International Review of Mission, April 1998, S. 233ff.

[8] Mercy Amba Oduyoye schreibt über die Ziele dieser Theologie: „This women-affirming theology seeks the shalom of all creation, conscious that it is one body and that when one part hurts eventually all parts will be hurt. Through this approach to theology, people are encouraged to work for transformation and development of societies in which they find themselves and the faith communities to which they belong.” Mercy Amba Oduyoye: Third World Women’s Theologies – Africa, in: Dictionary of Third World Theologies, New York 2000, S. 218

[9] Musimbi Kanyoro: Globalization and its effect on Women, in: Women, Frauenzeitschrift des Lutherischen Weltbundes, August 1999, S. 9

[10] Ebenda, S. 11

[11] Ebenda, S. 12

[12] Musimbi Kanyoro: A Life of Endless Struggle or Stubborn Hope, in: The Ecumenical Review, Oktober 1997, S. 407

[13] Ebenda, S. 409

[14] Vgl. ebenda

[15] Musa W. Dube Shomanah: Praying the Lord’s Prayer in a Global Economic Era, in: The Ecumenical Review, Oktober 1997, S. 447

[16] Ebenda

[17] Ebenda, S. 449; Vgl. auch: „Porto Alegre“ in Afrika, Alternativen zur neoliberalen Globalisierung im Südlichen Afrika, Missionszentrale der Franziskaner, Berichte-Dokumente-Kommentare 86, Bonn 2002