Gemälde des Evangelisten Lukas
Gemälde des Evangelisten Lukas von Josef Kastner in der Kameliterkirche in Wien Foto: iStock.com/sedmak

Lukasevangelium - Jesus an der Seite der Armen 

 

Wer war Lukas, der Verfasser des gleichnamigen Evangeliums und der Apostelgeschichte? Irenäus von Lyon hat um das Jahr 180 die Auffassung vertreten, dass Lukas ein Arzt in der Begleitung von Paulus war. Dabei berief er sich auf „wir“-Passagen in der Apostelgeschichte, die darauf hindeuten könnten, dass Lukas mit Paulus gereist ist. Heute gilt dies aber als unwahrscheinlich. Dagegen spricht vor allem, dass der Verfasser zentrale Themen der paulinischen Theologie wie die Kreuzestheologie und die Rechtfertigungslehre nur in vager Form aufgenommen hat, dass wichtige Einzelheiten der Paulusreisen anders dargestellt werden als von Paulus selbst in seinen Briefen und dass Paulus in der Apostelgeschichte konse­quent nicht als Apostel angesprochen wird, obwohl er selbst Wert auf diesen Ehren­titel legte.[1] Auch wenn es heute als unwahrscheinlich gilt, dass die­ser Lukas wirklich das Evangelium verfasst hat, ist man bei dem Namen Lukas­evan­gelium geblieben.

 

Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte setzen die Zerstörung des Tem­pels in Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. voraus und waren nachweislich etwa 140 n. Chr. bekannt. Es wird angenommen, dass beide biblischen Texte eher in der ersten Hälfte dieser Zeitspanne entstanden sind, also noch im 1. Jahrhundert.[2] Manches spricht für eine Entstehungszeit um das Jahr 90 n. Chr.[3] Die gehobene Sprache des Verfassers lässt auf eine gute hellenistische Bildung schließen. Das Evan­gelium des Lukas zeichnet sich dadurch aus, dass es einen ausführlicheren Vor­spann aufweist, in dem Ziel und Vorgehen vorgestellt werden. Nachdem es bereits viele unternommen hatten, die Geschichte von Jesus und seiner Botschaft zu erzählen, wollte Lukas eine verbindliche Darstellung liefern, die wichtige Geschehnisse und die Botschaft Jesu festhalten und damit zur gemeinsamen Grundlage für die Gemeinden werden sollte.

 

Warum Lukas sein Evangelium schrieb

 

Welche Gründen können Lukas ver­anlasst haben, sein Doppelwerk in die­ser Form zu schreiben? Die Zeitzeugen des Wirkens Jesu lebten nicht mehr, und offenbar wurde in den verstreuten Gemeinschaften der Jesusanhänger sehr Unterschiedliches da­rüber weitergegeben, was Jesus getan und gelehrt hatte. Mit diesem Problem hatte schon Paulus zu kämpfen gehabt, und diese Tendenz musste sich in den weit voneinander entfernt lebenden kleinen Gruppen der Gläubigen noch verstärken. Deshalb erschien es dringend geboten, schriftlich festzuhalten, was Jesus wirklich getan und verkündet hatte. Hinzu kam, dass offenbar ein großes Interesse daran bestand, mehr über diesen Jesus und sein Leben zu erfahren. Gerade im Lu­kas­evangelium wird der Versuch unternommen, die Lebensgeschichte Jesu nachzuzeich­nen.

 

Auch wenn vermutet wird, dass Lukas zu den Judenchristen des ausgehenden ersten Jahrhunderts gehörte, deutet vieles darauf hin, dass er sich mit seinen Schriften an eine heidenchristliche Leserschaft wenden wollte. Ein Indiz dafür ist, dass er in der Einleitung seines Evangeliums explizit einen uns heute unbekannten Theophilus anspricht. Für eine heidenchristliche Leserschaft spricht auch, dass Lu­kas an verschiedenen Stellen seines Evangeliums semitische durch griechische Be­griffe ersetzt hat und die Heidenmission in das Zentrum seiner Apostelgeschichte stellte.

 

Viele Passagen des Evangeliums sind literarisch ausgestaltet und mit Übergängen versehen. Der Verfasser nimmt für sich in Anspruch, alles von Anfang an sorgfältig erkundet zu haben. Nun, nachdem die letzten Zeitzeugen verstorben waren, wollte Lukas die Botschaft und die Geschichte Jesu in gründlicher Weise aufschreiben und dabei auf vorhandene Berichte zurückgreifen. Als Quellen stan­den Lukas das Markusevangelium, die Jesusaussprüche in der heute verschol­lene Sammlung von Sprüchen, die in der Wissenschaft als „Spruchquelle Q“ be­zeich­net wird,[4] sowie weitere schriftliche Zeugnisse zur Verfügung. Letztere fanden im sogenannten „Sondergut“ dieses Evangeliums ihren Niederschlag. Diese Passagen des Lukasevangeliums sind in den anderen Evangelien nicht zu finden, auch nicht in abgewandelter Form. Annähernd die Hälfte des Lukasevangeliums besteht aus diesem Sondergut.

 

Lukas verstand sich nicht als Historiker im heutigen Sinne, sondern es ging ihm um die Weitergabe der Grundlagen des Glaubens. Dennoch ordnete er die Jesusgeschichte immer wieder in die politische Geschichte des Römischen Reiches ein, wobei ihm gleich bei der Geburtsgeschichte Fehler unterlaufen sind. Aber die Gesamtkomposition der Verknüpfung der Geschichte der globalen Macht Rom und der Geschichte eines Wanderpredigers aus Nazareth bleibt dennoch eine der großen Leistungen dieses Evangelisten. Der Weg des Evangeliums vom Stall in Bethlehem über Jerusalem und Athen bis nach Rom, ins Zentrum der Macht, ist von keinem anderen Evangelisten so gradlinig und schlüssig be­schrieben worden. Die kunstvolle Verbindung der Lebenswege von Jesus und Jo­hannes des Täufers am Anfang des Evangeliums verdient besondere Auf­merk­samkeit.

 

Wie bei den anderen Evangelisten sind auch bei Lukas die eigenen Glaubensüberzeugungen nicht zu übersehen und prägen die Darstellung des gesamten Textes. Hubertus Halbfas betont in seinem umfangreichen Werk „Die Bibel“, dass Lukas nicht zwischen dem irdischen und dem jenseitigen Jesus unterscheidet. Halbfas fährt dann fort: „Insgesamt ordnet er Jesus streng der Herrschaft Gottes unter. Gott ist ihm Schöpfer der Welt, Jesus sein Werkzeug. Gott hat Jesus zu seinem Heilswerk berufen und ihn ausgezeichnet durch Machttaten. Jesus bekam seine Würde also von Gott verliehen, so dass hinter allem, was Lukas überliefert, Jesu ‚göttliches Wesen’ zurücktritt.“[5]

 

Die Spannungen zwischen Jesusanhängern und jüdischen Gemeinden

 

Die Spannungen zwischen den Jesusanhängern und der Mehrheit der Gläubigen in den jüdischen Gemeinden hatten Ende des 1. Jahrhunderts stark zugenommen, und deshalb legte der Verfasser des Lukasevangeliums großen Wert darauf nachzuweisen, dass Jesus und seine Bewegung fest in der jüdischen Tradition verwurzelt waren und dass das Leben Jesu und seine Botschaft das erfüllten, was die Propheten vorhergesagt hatten. Verknüpft damit stellte sich Lukas der Aufgabe, Brücken zubauen zwischen den judenchristlichen und heidenchristlichen Gläubigen. Es gab Konflikte zwischen den Jesusanhängern, die im Judentum zu Hause waren und auch in der Nachfolge Jesu weiterhin Juden bleiben wollten, und jenen Gläubigen, die vorher einen anderen Glauben gehabt hatten und unter Berufung auf Paulus Jesus nachfolgen wollten, ohne Juden werden zu müssen. Die judenchristlichen Gläubigen sollten sich in der Gemeinschaft zu Hause fühlen und ihre Traditionen gewahrt sehen, strebte der Evangelist Lukas an. Gleich­zeitig galt es, den Heidenchristen einen Weg zu eröffnen, zu den Gemeinden der Jesusnachfolger zu gehören, ohne gezwungen zu sein, jüdische Gesetze zu befolgen und sich beschneiden zu lassen.

 

Dass Jesus und seine Botschaft die jüdische Tradition fortführen, machte Lukas – wie auch Matthäus – schon in der ausführlichen Auflistung der Abstammung Jesu aus dem Hause David sichtbar. Auch in seine Darstellung der Kindheit Jesu hat Lukas Anknüpfungspunkte an Geschichte und vor allem Prophezeiungen aus dem Alten oder Ersten Testament eingeflochten. Zu den Erzähltraditionen gehören das vergebliche Warten ei­nes alt gewordenen Ehepaars auf ein Kind, die Ankündigung der Geburt eines Kin­des, außergewöhnliche Ereignisse während der Schwangerschaft sowie Gefahren für das gerade geborene Kind.[6]

 

Die Heilszusage Gottes gilt dem Volk Israel – und auch der ganzen Menschheit, lautet eine Kernaussage von Lukas. Und diese Verbindung wollte er auch nach dem Bruch zwischen Ju­dentum und der Jesusbewegung, der offenbar nicht mehr rückgängig zu machen war, bewahren. Dass in der neuen Gemeinschaft der Anteil der Gläubigen immer größer wurde, die nicht im Judentum verwurzelt waren, führte dazu, dass jüdische reli­giöse Traditionen und Gesetze eine immer geringere Bedeutung für die Mehr­­heit der Christinnen und Christen hatten. Aus einer jüdischen Reformgruppe wurde eine eigenständige Religi­ons­gemeinschaft.[7] Hubertus Halbfas schreibt in seinem Buch „Die Bibel“ über die Konsequenzen aus dem Bruch für Lukas: „Nachdem sich aber die Synagogen dem Evangelium verschlossen haben, muss es nun den Heiden verkündet werden. Das geschieht im Auftrag Jesu und in der Kraft seines Geistes. Lukas vertritt ein hellenistisches Christentum, das sich einer strikten Erfüllung der Tora entzogen hat.“[8]

 

Zentrale Themen des Evangelisten

 

Das Lukasevangelium stellt stärker als die anderen Evangelien und die Briefe des Neuen Testaments heraus, dass und wie Jesus sich auf die Seite der Armen und Ausgegrenzten gestellt hat. Dass Lukas sich derart intensiv mit Fragen des Reichtums und der Armut auseinandersetzte, könnte darauf hindeuten, dass er sich an Gemeinden wandte, in denen es eine nennenswerte Zahl Wohlhabender und eine große Zahl Armer gab und diese sozialen Unterschiede den Zusammenhalt der Gemeinschaft bedrohten. Die Option für die Armen, die die heutige Befreiungstheolo­gie als eine zentrale Botschaft Jesu wahrgenommen hat, wird besonders im Lukasevangelium deutlich. Dieses Grundthema wird bereits in der Geburtsgeschichte entfaltet. Deshalb sind es arme Hirten, die das neugeborene Kind anbeten. Später stellt sich Jesus in der Darstellung des Lukasevangeliums wiederholt auf die Seite der Ausgegrenzten der Gesellschaft, etwa der Prostituierten und der Zöllner.

 

Lukas musste sich in seinem Evangelium auch einem anderen zu seiner Zeit drängenden Thema stellen. Ähnlich wie vor ihm Paulus und Markus musste er eine Antwort darauf finden, dass sich die Erwartung einer sehr raschen Wiederkehr Jesu nicht erfüllt hatte. Lukas gelang es auf beeindruckende Weise, eine Antwort auf diese Enttäuschung der Gläubigen zu finden. Franz Joseph Schierse hat in seiner „Einführung in das Neue Testament“ die Verbindung zwischen der ausbleibenden Parusie (der Wiederkehr Jesu) und der Kindheitsgeschichte Jesu her­aus­gearbeitet: „Lukas war nicht der erste und einzige Theologe, der sich mit dem Problem der ausbleibenden Parusie befassen musste, aber seine Lösung hat die Herzen der Gläubigen erreicht. Ohne ihnen die Hoffnung auf den kommenden Herrn zu nehmen, hat er sie durch den Zauber seiner Kindheitsgeschichte wie von selbst gelehrt, auf den zu schauen, der als ‚Licht der Heiden’ und Israels ‚Herrlichkeit’ in Bethlehem geboren wurde. Damit ist der christliche Erwartungshorizont gleichsam umgepolt worden. Die Blicke der Gläubigen brauchen sich seitdem nicht mehr ins Ungewisse und Verunsichernde einer nahen oder fernen Zukunft zu richten, sie können wie der greise Simeon ‚in Frieden’ sterben, nachdem ihre Augen ‚das Heil gesehen’ haben.“[9]

 

Ein weiteres Anliegen von Lukas bestand offenbar darin, die Gläubigen dazu zu bewegen, fest im Glauben zu bleiben, aber eine bewusste Konfrontation mit dem übermächtigen römischen Staat zu vermeiden. Eine solche direkte Konfrontation mit den Mächtigen in Rom vermied er deshalb auch im Text seines Evangeliums. Das schloss eine negative Darstellung von König Herodes nicht aus, war dieser doch lediglich einheimischer jüdischer Vasall der Herrscher in Rom und kein Römer. Dessen ursprünglich positives Bild bei den römischen Kaisern war zu Lebzeiten von Lukas zudem längst dadurch überschattet worden, dass er seine Nachfolge nicht geordnet regeln konnte und dass zwei der Söhne, die sein Erbe antraten, in ihren jeweiligen Herrschaftsgebieten wegen schlechter Regierungsführung in Miss­kredit geraten und ihrer Ämter enthoben worden waren.

 

Die Lebensgeschichte Jesu als Thema des Lukasevangeliums

 

Lukas verfasste als erster Evangelist eine umfangreichere Lebensgeschichte Jesu in Form eines fortlaufenden Textes, und das erklärt, warum eine ausführliche Geburtsgeschichte zwingend in dieses Evangelium aufgenommen werden musste, die bei dem älteren Markusevangelium noch fehlte. Ähnlich ging Matthäus vor. Lu­kas und Matthäus kannten ihre Evangelien mit hoher Wahrscheinlichkeit gegensei­tig nicht. Das kann erklären, warum sie deutlich abweichende Darstellungen der Geburt und Kindheit Jesu verfassten. Es darf angenommen werden, dass beide nur über bruchstückhafte Informationen über die historische Geburt und Kindheit Jesu verfügten, die mehr als ein hal­bes Jahrhundert zurücklagen. Deshalb hat Lukas seine berühmte Ge­burtsge­schichte so aufgeschrieben, dass sie schon einmal den Kern dessen vermittelt, was im weiteren Evangelium und in der Apostelgeschichte ent­faltet wird. Es ist die Ouvertüre zu einem eindrucksvollen Glaubenszeugnis des Lukas, nicht die Wiedergabe historischer Ereignisse.

 

Die Geburtsgeschichte Jesu bei Lukas kann mit Hubertus Halbfas als „legendarisch“ angesehen werden.[10] Aber diese Geschichte hat dennoch eine große Bedeutung, weil in ihr vieles angelegt ist, was das ganze Leben Jesu bestimmen sollte. Es war in der Antike durchaus üblich, große Persönlichkeiten im Nachhinein mit einer Geburtsgeschichte zu ehren, die schon erkennen ließ, dass hier jemand Großes zur Welt gekommen war. Aber Lukas erzählte nicht die Kindheitsgeschichte eines Königs oder Kaisers legendarisch, sondern die Geburt und Kindheit eines armen Wan­derpredigers, der später von den Römern hingerichtet wurde. Den Heldenerzäh­lun­­­gen des Römischen Reiches stellte Lukas die Erzählung über einen ganz ande­ren „Weltherrscher“ entgegen und begann sie mit einer ausführlichen Darstellung der Geburt und Kindheit.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 



[1] Vgl. Das Lukasevangelium, www.wibilex.de, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet der Deutschen Bibelgesellschaft sowie Theissen/Merz: Der historische Jesus, Göttingen 2001, S. 47

[2] Vgl. Theißen/Merz: Der historische Jesus, a.a.O., S. 48

[3] Vgl. ebenda sowie Das Lukasevangelium, www.wibilex.de

[4] Vgl. hierzu u. a. Peter Rosien: Silbe für Silbe, in: Die Jesus-Erzähler, Publik-Forum Dossier, Oberursel 2006, S. X

[5] Hubertus Halbfas: Die Bibel, Düsseldorf 2001, S. 464

[6] Vgl. ebenda, S. 466

[7] Vgl. u. a. Klaus Wengst: Der „neue Weg“, in: Juden und Christen, Welt und Umwelt der Bibel, 4/2005, S. 11ff.

[8] Hubertus Halbfas: Die Bibel, Ostfildern 2001, S. 464

[9] Schierse: Einführung in das Neue Testament, Düsseldorf 2001, S. 88

[10] Hubertus Halbfas: Die Bibel, a. a. O., S. 466