Römisches Theater von Sepphoris
Römisches Theater von Sepphoris, einer römischen Stadt in der Nähe von Nazareth Foto: iStock.com/RnDmS

Jesu Heimat Galiläa - wirtschaftliche Bedeutung und soziale Konflikte unter der Herrschaft der Römer

 

Jesus wuchs in Galiläa auf, einem Landstrich zwischen dem See Genezareth und der Mittelmeerküste. In Galiläa lebten damals 150.000 bis 200.000 Einwohner[1] auf einer Fläche von vielleicht 1.600 Qua­drat-kilometern.[2] Galiläa war also kaum mehr als doppelt so groß wie heute der Stadtstaat Hamburg. Nach 35 oder 40 Kilometern hatte man Galiläa vom Osten bis zum Westen durchquert, von Nord nach Süd waren es kaum mehr als 50 Kilometer.[3] Selbst wenn man sich nicht auf den Fernstraßen bewegte, war man innerhalb von zwei oder höchstens drei Tagen von einem Ort bis zu jedem beliebigen anderen Ort gewandert. Gemessen an den geografischen Dimen­sionen des Römischen Reiches war dies ein sehr kleines Territorium – und nichts sprach dafür, dass ein Bauhandwerkersohn aus einem kleinen Dorf im kleinen Galiläa mit seiner Ankündigung des Reiches Gottes das Römische Reich grundle­gend verändern würde.

 

Galiläa war nie ein rein jüdisches Siedlungsgebiet. Zunächst mussten sich die israelitischen Zuwanderer im 13. oder 12. Jahrhundert vor Christus mit den dort be­reits wohnenden Kanaanäern arrangieren. Und nach der Eroberung des Nordrei­ches durch die Assyrier im Jahr 733 v. Chr. wurden Teile der Bevölkerung nach Assyrien deportiert, während gleichzeitig Menschen aus anderen Regionen des Assyrischen Reiches hier eine neue Heimat fanden. Später kamen aramäische und babylonische Kolonisten hinzu.[4] Aufstiege und Zusammenbrüche von Weltreichen haben in Galiläa ihre Spuren hinterlassen. Dieser Prozess hat sich unter der Herr­schaft von Ptolemäern und Seleukiden fortgesetzt, und bald wohnten auch Grie­chen und Phönizier im Land. Heute würde man das antike Galiläa vielleicht als mul­ti­­eth­ni­sche, multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft bezeichnen, wobei die Bevölkerungsgruppen häufig eher nebeneinander als miteinander lebten.

 

Die Situation veränderte sich, als die jüdischen Makkabäer Galiläa eroberten. Willi­bald Bösen schreibt hierzu in seinem Galiläa-Buch: „Um 104 v. Chr. erobert der Makkabäer Aristobul Galiläa und rejudaisiert es teils durch Zwangsbekehrungen heid­nischer Kolonisten (… durch Nötigung zu Beschneidung und Verpflichtung auf das jüdische Gesetz), teils durch Umsiedlung judäischer Juden.“[5] Zu Lebzeiten Jesu wurde Galiläa überwiegend von Juden bewohnt, war aber stark von der griechischen Kultur und der griechischen Sprache beeinflusst.

 

Unter der Herrschaft der Römer

 

63 v. Chr. eroberten die Römer Galiläa, eine Fremdherrschaft, gegen die sich die Men­­schen immer wieder zur Wehr setzten. Wie verschiedene andere eroberte Län­der übertrugen die römischen Herrscher auch das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer einem willfährigen lokalen Herrscher, den sie zum König erklärten. Und deshalb übernahm König Herodes nach seiner Inthronisierung durch die Mächtigen in Rom im Jahre 40 v. Chr. auch die Herrschaft über Galiläa. Der dann folgende Machtkampf nahm bürgerkriegsähnliche Formen an, und Galiläa erlebte große Zerstö­rungen. In den dreijährigen Kämpfen stellten die Galiläer sich mehrfach gegen He­ro­des, der sich aber 37 v. Chr. durchsetzte. Er zeigte danach wenig Inte­resse an Galiläa, ließ aber jeden aufkeimenden Widerstand brutal unterdrücken. Nach dem Tod des Königs 4 v. Chr. wurde Galiläa ein wichtiger Teil des Herrschaftsbereiches des Herodessohnes Antipas.

 

Um dem ihm von Rom zugestandenen Anteil an Steuern und Zölle tatsächlich einzunehmen, musste Herodes Antipas eine effiziente Verwaltung und eine pros­perierende Wirtschaft aufbauen. Begünstigt wurde die wirtschaftliche Entwicklung dadurch, dass Galiläa neben kargen Regionen auch über größere fruchtbare Gebiete verfügte, wo sich eine ertragreiche Landwirtschaft betreiben ließ. Der Anbau von Getreide, vor allem Wei­zen, war schon vor dem Beginn der römischen Herrschaft ein wichtiger Wirtschafts­zweig gewesen, und nach der Eingliederung in das „globale“ Reich wurde der Weizenexport stark ausgeweitet.[6] Auch der Export von Olivenöl und Wein flo­rier­te.

 

Fische vom See Genezareth wurden vor Ort eingesalzen und exportiert. Es gab hierfür bereits eine fabrikmäßige Konservierung durch Trocknen und Pökeln.[7] Das Fischen auf dem See war allerdings gefährlich, vor allen wegen der abendlichen Fall­winde. Die Geschichte von der Sturmstillung Jesu beruht auf dem Wissen über die Gefahren für Boote und ihre Besatzungen auf dem großen Binnensee.[8] Die Fischer lebten in einer prekären wirt­schaftlichen Situation. Sie waren meist nur Pächter von Fischereilizenzen, und dies galt wohl auch für jene Fischer, die sich Jesus als Jünger anschlossen. Im „So­zi­al­geschichtlichen Wörterbuch zur Bibel“ lesen wir hierzu: „Petrus und die anderen lassen, als sie Jesus nachfolgen, eine unsichere Existenz hinter sich. Sie kehren in der Nachfolge Jesu der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft den Rücken.“[9]

 

In Galiläa war während der römischen Herrschaftszeit eine starke Konzentra­tion des Reichtums bei einem kleinen Teil der Bevölkerung zu beobachten. Sie wur­de vor allem durch neu entstandene große Güter sichtbar, die mit Sklaven, aber auch mit Tagelöhnern bewirtschaftet wurden.[10] Die fruchtbaren Gebiete Galiläas be­fanden sich zur Zeit Jesu überwiegend in Großgrundbesitz, und deren Bedeutung nahm wieder zu. Viele Besitzer großer Güter lebten in den Städten und setzten für ihre Betriebe Verwalter ein.[11]

 

Die Kleinbauern mussten sich meist mit weniger fruchtbarem Land an Berghängen begnügen, wo sie zudem nur kleine Ackerflächen besaßen. Sie gehörten als Landbe­sitzer zur Mittelschicht, sahen sich aber zunehmend in ihrem ökonomi­schen und sozialen Status bedroht. Steigende Steuerlasten, niedrige Preise, schlech­te Ernten, Krankheiten oder auch Kriege konnten diese Familien schnell dazu zwin­gen, ihr Land zu veräußern und entweder zu Pächtern zu werden oder sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen.[12] Sie stiegen damit in die zahlenmäßig große Unterschicht ab, Menschen, die tagtäglich um das Überleben kämpfen mussten oder aber als Skla­vinnen und Sklaven der Willkür ihrer Besitzer ausgeliefert waren.

 

Beson­ders prekär war die Situation der Tagelöhner, die nur bei Bedarf beschäftigt wur­den und deren Verdienst an diesen Tagen eben gerade für das Notwendig­ste zum Überleben reichte. Wovon sie und ihre Familien an den übrigen Tagen leben sollten, in­teressierte die meisten Großgrundbesitzer nicht. Jesus hat diese Arbeiter im Wein­berg in den Mittelpunkt eines Gleichnisses gestellt und von einem Weinbergbe­sitzer erzählt, der dafür sorgte, dass wenigstens an diesem Tag alle genug zum Leben bekamen (vgl. u. a. Lukas 20,1ff.).

 

Ein komplexes Steuersystem sorgte dafür, dass viel Geld aus Galiläa nach Rom floss und dass der weitaus größte Teil der einheimischen Bevölkerung in tiefer Armut lebte. Es wird geschätzt, dass die Steuerlast ein Viertel des damaligen Sozialprodukts ausmachte.[13] Das war vor allem für den ärmeren Teil der Bevölkerung existenzbedrohend. Wie deprimierend diese Situation war, lässt sich daran ablesen, dass im ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende zahllose jüdische Familien aus Galiläa und Judäa auswanderten, um in anderen Teilen des Römischen Reiches ein etwas besseres Leben zu suchen. Damals sollen sechs der sieben Millionen Jüdinnen und Juden außerhalb Palästinas gelebt haben, und zwar selbst in entfernten Ländern wie Spanien und Germanien (u. a. Köln).[14]

 

Jesus und die soziale Wirklichkeit Galiläas

 

Die krassen sozialen Unterschiede in Galiläa zwischen armen Kleinbauern und Sklaven auf der einen Seite und reichen Großgrundbesitzern auf der anderen Seite spiegeln sich nicht nur in den Gleichnissen Jesu wider, sondern vor allem in seinen Verheißungen für die Armen und seinen Aufrufen zur Umkehr an die Reichen. Die eigene Kindheit und Jugend in einer armen Handwerkerfamilie in einem kleinen galiläischen Dorf bildet den sozialen Hintergrund für diese Beispiele und diese Verkün­digung. Willibald Bösen hat sich in seinem Buch über Galiläa auch mit den Gleichnissen Jesu beschäftigt und darin fundierte Kenntnisse der damaligen sozi­alen und wirtschaftlichen Realität nachgewiesen. So lassen sich in den Gleichnissen 14 un­ter­schiedliche sozialgeschichtlich relevante Gruppen feststellen, darunter zum Beispiel Abgabenpächter, Schnitter, Kleinpächter und Gutsverwalter.

 

Für Willi­bald Bö­sen „ergibt sich aus der Vielfalt der Einzelinformationen ein Stück kon­kreten pa­lästinensischen Alltags, ein Kapitel antiker Sozialgeschichte“.[15] Er fügt hin­zu: „In einprägsamen Bildern und Szenen erfahren wir von der himmelschrei­enden Armut des Armen, der Unfreiheit des Sklaven, der Mühe des Taglöhners, aber auch von dem süßen Leben des Reichen.“[16] So wenig wir verlässlich über die Kindheit und Jugend Jesu sowie seine Berufsjahre als Bauhandwerker wissen, so sehr ist es doch inzwischen möglich, die soziale Wirklichkeit kennenzulernen, in der er aufwuchs. Diese Wirklichkeit hat zweifelsohne einen großen Einfluss auf das gehabt, was er später verkündete und wie er es verkündete.

 

Zu dieser Wirklichkeit gehörte auch der rasche soziale Umbruch im Galiläa des ersten Jahrhunderts, die vor allem von Herodes Antipas vorangetrieben wurde. Ein wichtiger Teil seines „Modernisierungsprogramms“ war der Bau moderner Städte, zunächst von Sepphoris im Zentrum von Galiläa und dann von Tiberias am See Ge­nezareth. Tiberias erwies sich als dauerhafteste Stadtgründung des Herodessohnes und ist heute die größere Stadt im Nor­den Israels.

 

Der Bau der (vorübergehenden) Hauptstadt Sepphoris schuf in der Jugendzeit Jesu viele – wenn auch schlecht bezahlte – Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung und löste im Westen Galiläas einen zeitweiligen Wirtschaftsboom aus. Er war aber damit verbunden, dass die Kluft zwischen Arm und Reich noch krasser wurde.

 

Die Verstädterung nahm zu, und auch in den Dörfern begann sich das Leben zu verändern. Richard A. Horsley, Professor für Religionsgeschichte in Boston/USA, hat diesen Prozess beschrieben: „Während der Lebenszeit Jesu verändert sich Galiläa grundlegend durch die Verstädterung und Verwestlichung in ihrer damaligen antiken Spielart. Die Veränderungen im traditionellen Leben treten erst recht zu Tage, als die Römer den Sohn des Herodes, Antipas … zum Tetrarchen von Galiläa und Peräa ernennen. Damit werden die Dorfbewohner Galiläas zum ersten Mal nicht mehr von einer fernen Stadt aus regiert, sondern von einer vor Ort installierten Macht, die auch viel effizienter ihre Steuern eintreibt. Und kaum zwanzig Jahre spä­ter – das fällt mit der Zeit zusammen, in der Jesus das Erwachsenenalter erreicht – baut Antipas die Festungsstadt Sepphoris …“[17] Sepphoris und Tiberias wurden zu Zentren hellenistischer Kultur in der Region. In diesen Städten lebte eine ethnisch, kulturell und religiös vielfältig zusammengesetzte Bevölkerung, und zumindest in der Verwaltung und unter Geschäftsleuten wurde Griechisch gesprochen. Professor Horsley stellt zusammenfassend fest: „In einer einzigen Generation, derjenigen Jesu, erlebte Galiläa also eine rapide Verstädterung.“[18]

 

Sepphoris – ein Handelszentrum in der Nähe von Nazareth

 

In den letzten Jahren ist vor allem in den USA intensiv diskutiert worden, welchen Einfluss die nur etwa fünf oder sechs Kilometer entfernte Stadt Sepphoris auf das Leben im Dorf Nazareth und damit auch auf Jesus gehabt hat. Dank neuer archäologischer Forschungen ist inzwischen vieles über die Geschichte und die Situation der Stadt in den ersten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts bekannt. Die Stadt hatte schon vor der römischen Eroberung Galiläas eine große Bedeutung für die Region. Von 63 v. Chr. an stand die Stadt wie das übrige Galiläa unter römische Herrschaft und wurde zum Verwal­tungssitz ausgebaut.[19]

 

Im Krieg zur Rückeroberung der Macht durch König Herodes, dem Vater von Herodes Antipas, nach seiner Vertreibung wurde die Stadt von dessen Truppen erstürmt. In dem Chaos, das später nach dem Tod von Herodes in seinem Herrschaftsgebiet entstand, ließen sich die Einwohner von Sepphoris zum Aufstand gegen den Herodesclan verleiten. Da die Römer – wenn auch mit Bedenken – die He­rodessöhne unterstützten, ließ Publius Quinctilius Varus, zu dieser Zeit Gouverneur in Syrien, die Stadt 4 n. Chr. erobern und völlig zerstören. Es war jener Varus, der ein halbes Jahrzehnt später eine verheerende Niederlage gegen die Germanen erlitt.

 

Die strategisch günstige Lage etwa in der Mitte zwischen Mittelmeer und See Genezareth sowie an wichtigen Fernstraßen trug dazu bei, dass Herodes Antipas die Stadt Sepphoris wieder aufbauen ließ und vorübergehend zu seiner Hauptstadt machte, bevor er 19 n. Chr. nach Tiberias übersiedelte. Sepphoris blieb auch danach ein wichtiges Wirtschaftszentrum mit einer großen Garnison. Neuere Ausgra­bun­gen haben gezeigt, dass die Stadt von römischen, griechischen und jüdischen Einflüssen geprägt war. Neben einer Synagoge gab es unter anderem einen grö­ße­ren römischen Tempel. Sepphoris gilt heute als Beispiel dafür, dass der hellenistische Einfluss nicht nur auf das Diaspora-Judentum beschränkt blieb, sondern auch dort bestand, wo die jüdische Bevölkerung zahlenmäßig in der Mehrheit war. Wie stark der hellenistische Einfluss bis in kleine Dörfer wie Nazareth ausstrahlte, lässt sich heute nur schwer feststellen.

 

Die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt Sepphoris, die in ihrer Blütezeit mehr als 20.000 Einwohner hatte, kam darin zum Ausdruck, dass es zwei Märkte gab, auf denen neben Nahrungsmitteln wie Weizen, Oliven und Fisch auch Keramik, Schmuck und Stoffe gehandelt wurden. Die Stadt war also einbezogen in das internationale Handelssystem des Römischen Reiches. Fernstraßen verbanden Sepphoris mit dem Mittelmeer, dem See Genezareth und Syrien sowie Judäa und Ägypten. Die Anbindung ans Mittelmeer und damit an die Schifffahrtsrouten bis Rom war dabei besonders wichtig.

 

Zum Reichtum trug auch bei, dass verschiedene Großgrundbesitzer ihre Ländereien von der Stadt aus verwal­te­ten. Sepphoris galt als wohlhabende Stadt, aber dieser Wohlstand war auf eine kleine Bevölkerungsgruppe konzentriert. Die Kluft zwischen Arm und Reich war hier ebenso krass wie in anderen größeren Städten des Römischen Reiches. Zu den Reichen gehörten vor allem die Großgrundbesitzer, Händler und Zollverwalter. Zur kleinen Mittelschicht zählten unter anderem Zolleintreiber und Handwerker. Großen Einfluss besaß die Beamtenschaft und dies besonders in der Zeit, als Sepphoris die Hauptstadt Gali­läas war.

 

Es wird darüber spekuliert, ob auch Josef und Jesus am Bau von Sepphoris mitgearbeitet haben. Angesichts der Nähe der beiden Ortschaften ist dies durchaus mög­lich, aber Belege dafür fehlen. Es lässt sich nicht einmal sagen, ob Jesus jemals Sepphoris betreten hat und noch viel weniger, ob er durch die hellenistischen Vorstellungen vieler Stadtbewohner beeinflusst worden ist. Zwar braucht man zu Fuß nur etwa zwei Stunden von Nazareth nach Sepphoris, aber „Lustwandeln“ tat damals niemand, jedenfalls kein armer Handwerker. Und da Jesus als junger Mann wie andere Juden an sechs Tagen der Woche arbeitete und der Sabbat wegen der religiösen Bestim­mun­gen als Tag für längere Exkursionen ausfiel, besagt die kurze Entfernung noch nicht, dass er gelegentlich oder häufiger in die Stadt kam. Möglich ist selbstverständlich, dass er mit seinen Eltern oder allein auf einen der Märkte ging. Dass Je­sus in seiner Jugend in Sepphoris stärker von hellenistischem Gedankengut beeinflusst worden ist, kann als unwahrscheinlich gelten. Ein Dorfbewohner aus armen Verhältnissen hatte keinen Zugang zu den intellektuellen Kreisen der Stadt, und in einer Garnisonsstadt waren diese Kreise ohnehin recht klein. Dass Jesus jemals das Theater besucht hat, muss bezweifelt werden.

 

Plausibel ist hingegen, dass Nazareth so nahe an der Stadt lag, dass Jesus von seiner Kindheit an vom Vorhandensein des Römischen Reiches und seiner Herrschaftsstrukturen erfuhr und dass ihm im Laufe der Jahre immer bewusster wurde, wie sich das Wirken der globalen Macht auf das Leben der Menschen in Galiläa aus­wirkte. Dazu gehörten auch die Auswirkungen von Bankwesen und Zinsen auf die „kleinen Leute“. Die Zerstörung der Stadt durch die römischen Truppen 4 n. Chr. wird Jesus auf jeden Fall bekannt gewesen sein, denn in seiner Kindheit und Jugend lag dieses Ereignis erst wenige Jahre zurück. Vielleicht hat dieses Wissen dazu beigetragen, dass Jesus keine Hoffnung in einen bewaffneten Aufstand gegen die römischen Machthaber setzte, wie er von den Zeloten propagiert wurde.

 

Die Bewohner von Sepphoris beteiligten sich nicht am jüdischen Aufstand ab 66 n. Chr. und hoben sich schon vorher von der übrigen Bevölkerung durch ihre Loyalität zu Rom ab. Dazu mögen die schlechten Erfahrungen beim Aufstand 4 v. Chr. ebenso beigetragen haben wie die Tatsache, dass die Stadt praktisch ein Außenposten des Römischen Reiches in der Unruheregion Galiläa war. Wie spätere glo­bale Mächte profitierte auch das Römische Reich davon, dass Teile der einheimi­schen Bevölkerung und besonders der wirtschaftlichen und politischen Füh­rungs­schicht in das eigene System einbezogen wurden. Professor James Strange von der Univer­sität von Süd­kalifornien, der die antike Geschichte der Stadt intensiv erforscht hat, schrieb unter Berufung auf den jüdischen Historiker Flavius Josephus: „Laut seinen Aussagen hatten die Bewohner von Sepphoris ziemliche Angst vor ihren gali­läi­schen Mitbürgern, weil ihre Stadt im Laufe des 1. Jh. freundschaftliche Beziehungen zu den Römern entwickelte und sie sich friedlich mit dem syrischen Legaten Ces­tius Gallus arrangiert hatte.“[20]

 

Während des Aufstandes des jüdischen Volkes von 66 n. Chr. an wurden die politischen Vertreter von Sepphoris bei einem römischen Feldherrn mit der Bitte vorstellig, die Stadt vor den Aufständischen zu schützen. Einer solchen Bitte kamen die Römer nur zu gern nach und sandten Truppen. [21] Als Anerkennung für die Loyalität der Stadtbewohner ließen die römischen Herrscher gleich zwei Sondermünzen prägen, durch die Sepphoris als „Stadt des Friedens“ gepriesen wurde.[22] All das kann die Vorbehalte der Bevölkerung der Umgebung nur noch vergrößert haben. Umso überra­schen­der ist es, dass Sepphoris nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem für etwa ein Jahrhundert zum religiösen Zentrum des sich neu formierenden Judentums wurde.[23]

 

All diese Entwicklungen hat Jesus zwar nicht mehr miterlebt, aber mit ihrem Kurs der Anpassung an die Römer und der Unterstützung ihrer globalen Herrschaft wa­ren die führenden Kreise in Sepphoris kein Vorbild für ihn. Er wählte einen dritten Weg zwischen bewaffneten Aufstand und bedingungsloser Unterstützung der glo­balen Macht, einen Weg, der ihn am Ende sowohl mit den Römern als auch mit dem jüdischen religiösen Establishment in Jerusalem in Konflikt brachte.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 



[1] Vgl. Wolfgang Stegemann: Die Jesusbewegung als Armenbewegung Galiläas, in: Jesus der Galiläer, Welt und Umwelt der Bibel, 2/2002, S. 41

[2] Vgl. Willibald Bösen, Galiläa, Freiburg 1998, S. 28

[3] Vgl. ebenda, S. 29

[4] Vgl. ebenda, S. 146f.

[5] Ebenda, S. 148

[6] Ebenda, S. 49f.

[7] Willibald Bösen: Galiläa, a.a.O., S. 175f.

[8] Vgl. Ulrich Hübner/Jürgen Zangenberg: Fischerei, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, a.a.O., S. 147

[9] Carsten Jochum Bortfeld/Rainer Kessler: Eigentum, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, a.a.O., S. 104

[10] Kuno Füssel: Die politische Ökonomie des Römischen Imperiums in der frühen Kaiserzeit, in: Füssel/Segbers (Hrsg.): „... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit“, a.a.O., S. 41ff.

[11] Vgl. Willibald Bösen: Galiläa, a.a.O., S. 185

[12] Vgl. Jürgen Kegler/Ute E. Eisen: Arbeit, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, a.a.O., S. 19f.

[13] Vgl. Michael Ernst: Die sozioökonomischen Verhältnisse in Palästina zur Zeit Jesu, in: Füssel/Segbers: „... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit“, a.a.O., S. 67f.

[14] Vgl. Willibald Bösen: Galiläa, a.a.O., S. 187f.

[15] Vgl. ebenda, S. 201

[16] Ebenda, S. 201

[17] Richard A. Horsley: Jesus gegen die neue römische Ordnung, in: Jesus der Galiläer, Welt und Umwelt der Bibel, 2/2002, S. 28

[18] Vgl. ebenda

[19] Zur Geschichte von Sepphoris vgl. u. a. Jürgen Zangenberg: Sepphoris, Stadt des Friedens und der Synagoge, in: Jürgen Schefzyk/Wolfgang Zwickel (Hrsg.): Judäa und Jerusalem, Leben in Römischer Zeit, Stuttgart 2010, S. 176ff. und Willibald Bösen, Galiläa, a.a.O., S. 60ff.

[20] James Strange: Eine Stadt des Herodes Antipas: Sepphoris, in: Jesus der Galiläer, Welt und Umwelt der Bibel, 2/2002, S. 24

[21] Vgl. ebenda, S. 25

[22] Vgl. Jürgen Zangenberg, Sepphoris, Stadt des Friedens und der Synagoge, a.a.O. S. 178f.

[23] Vgl. Das Galiläa der Heiden, Welt und Umwelt der Bibel, 2/2009, S. 64